Vorgeblättert

Leseprobe zu Diego Marani: Neue finnische Grammatik. Teil 3

22.09.2014.
Begleitet von einer Krankenschwester, hatte ich begonnen, kurze Spaziergänge über das Schiffsdeck zu unternehmen. Ich hielt mich an der Reling fest und ging so die ganz Schiffslänge bis zum Heck ab. Dort setzte ich mich in die Sonne, vor mir das blaue Meer, welches ich so lange Zeit nur durch das Bullauge gesehen hatte. Später erfuhr ich, dass ich mich an Bord des deutschen Lazarettschiffs Tübingen befand, das vor dem Hafen von Triest vor Anker lag und auf die Ausschiffung der Verwundeten wartete, welche dann mit Lazarettzügen des Roten Kreuzes weiter nach Deutschland gebracht wurden. In der Morgensonne schien die Stadt in der Ferne eingetaucht in ein Glitzermeer von Wellen und grünen Kuppeldächern; ein Anblick, vor dem ich jedes Mal voller Freude lange verharrte. Diese reine Klarheit von Licht, Luft und Landschaft beruhigte mich. Auf dem Deck begegneten mir Soldaten mit knöchernen Gesichtern und abwesenden Blicken. Jeder von ihnen trug einen Verband oder mehr oder weniger offensichtliche Zeichen einer Verstümmelung. Einige schleppten sich noch ziemlich unbeholfen auf Behelfskrücken gestützt vorwärts. Andere, körperlich anscheinend unversehrt, zeigten bei näherem Hinsehen einen stumpfen, wie geblendeten Blick, der nichts Menschliches mehr hatte. Sie versammelten sich zu kleinen Gruppen, saßen auf Sitzbänken, welche den besten Schutz vor Wind und Wetter boten, spielten Karten, plauderten oder blickten wortlos in die Weite, während sie abwechselnd nur einen Zug von einer Zigarette nahmen. Ich ging ihnen eher aus dem Weg. Was hätte ich denn auch erzählen können? Dagegen lauschte ich heimlich, wenn ich zufällig Zeuge eines Gesprächs wurde, und versuchte die gehörten Wörter zu entschlüsseln. Dabei prägte ich mir die häufigsten und am deutlichsten ausgesprochenen ein, um sie dann ein Stück weiter laut für mich nachzusprechen. Doch es waren unbekannte Laute, welche da, ohne sich irgendwo zu verfestigen, nur leer in Mund und Kopf widerhallten, ähnlich einem langsam verklingenden Echo. Ohne es zu wissen, spürte ich unbewusst, dass es nicht dieselben Sprachlaute waren, die ich von Doktor Friari kannte. Auch wenn es mir gelang, sie unmittelbar nachzubilden, zerplatzten sie gleich danach wie Seifenblasen, und ich war außerstande, sie nochmals zu wiederholen. Dann setzte ich mich wieder allein an die Reling und schaute auf das Meer hinaus. Aber auch dieses herrliche Naturschauspiel konnte meine tiefe Angst nicht besänftigen. Mit meinen Blicken die unendlichen Weiten durchbohrend, suchte ich verzweifelt nach einem Haltepunkt, einer Erinnerung oder einem Bild, das mir auf wunderbare Weise den abgestorbenen Teil meiner selbst wieder zum Leben hätte erwecken können.
     Im Anschluss an meine allmorgendliche Deckrunde ging ich zur täglichen Sitzung bei Doktor Friari. Petri Friari, ursprünglich Neurologe am Universitätskrankenhaus von Hamburg, war ein deutscher Staatsbürger finnischer Abstammung. Wie ich erst später erfuhr, war er viele Jahre zuvor noch im Jugendalter aus Finnland geflohen. Am Anfang verstand ich nicht so recht, was der Doktor mir da erzählte, auch wenn er sich mehrmals wiederholte, indem er wie gewöhnlich immer wieder die geografische Europakarte zu Hilfe nahm und sich mit allen möglichen Gesten verständlich zu machen versuchte. Der Grund seiner Flucht war mir weiterhin nicht ganz klar, aber ich erahnte dahinter eine Tragödie. Mit wachsendem Wortschatz verbesserte sich nach und nach auch mein Verständnisvermögen, und schließlich konnte ich die Puzzlesteine seiner Geschichte zusammensetzen.

Während der Jahre, als die russische Revolution das Land erschütterte, wurde auch Finnland mit in den Sturm hineingerissen. In den Industriezentren erhoben sich die Arbeiter, griffen zu den Waffen und setzten eine kommunistische Regierung ein. Das Land spaltete sich, und ein Bürgerkrieg brach los, aus dem nach schweren Kämpfen die »weißen Garden« von Feldmarschall Mannerheim als Sieger hervorgingen. Auf das Ende der Kämpfe folgte eine gnadenlose Unterdrückungswelle gegen die Sympathisanten der Bolschewisten. Dabei wurde auch der Vater von Doktor Friari, ein Universitätsprofessor und überzeugter Sozialist, verhaftet und in ein Gefangenenlager gesperrt. Nach dem schrecklichen Winter von 1918 galt er als verschollen. Aus diesem Grunde hatte Petri Friari, zu jener Zeit junger Medizinstudent, zusammen mit seiner Mutter Finnland verlassen, um in Hamburg Zuflucht bei entfernten deutschen Verwandten zu finden. Um überleben zu können, hatte er tausend Berufe ausgeübt, und unter großen Opfern war es ihm am Ende auch gelungen, sein Studium abzuschließen. Seit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr hatte er sein Land nicht mehr gesehen. Doch seine Sprache hatte er nicht vergessen, ebenso wenig wie seine Landsleute.
     Wenig außerhalb des Hamburger Hafengebiets, wo die Kräne immer seltener werden und die Stadt sich allmählich in der grauen Landschaft verliert, erhebt sich dicht an der Bahnlinie der gotische Bau der Finnischen Seemannskirche. Dort traf der Doktor seine Landsleute, die auf Handelsschiffen angeheuert hatten, erhielt Informationen, Post und Zeitungen. Am Sonntag begleitete er seine Mutter zum Gottesdienst, wobei er nachmittags für einige Stunden seine Dienste der kleinen finnischen Gemeinde von Hamburg widmete, deren Mitglieder bei ihm kostenlose ärztliche Betreuung genossen. Dafür erhielt er von ihnen Wärme, Zuneigung und hin und wieder eine Flasche Schnaps. Aber vor allem, noch viel wertvoller, die Möglichkeit, seine Sprache sprechen zu können. Aus diesem Grunde auch hatte Doktor Friari sich meinen Fall so zu Herzen genommen. War doch der auf das Etikett meiner Jacke aufgestickte Name ein finnischer Name und sah er deshalb vielleicht sein eigenes Unglück in dem meinen gespiegelt. Auch ich war aus meinem Land in eine weite Ferne verbannt worden, und die Sprache, welche der Doktor unter den Narben meines Schädels begraben glaubte, war in seinen Augen zugleich seine eigene. Mit der gleichen Hingabe, mit der er die Matrosen von der Kirche in Hamburg betreute, kümmerte er sich nun um mich und meine Verletzungen. Während seiner Visiten erzählte er mir aus seiner Vergangenheit, als sei diese ein trauriges Märchen, dessen Ausgang er selber noch nicht wusste, welches ihm jedoch Freude bereitete, vor mir auferstehen zu lassen, so als wollte er damit andere Unglücke abwenden. Als Zeichen der Vorfreude auf eine willkommene Ablenkung rieb er sich die Hände, wenn er mich in seiner Praxis empfing. Dann setzte er sich und öffnete sein grünes Heft, in welches er während seiner Erzählungen und Fragen unauf hörlich hineinschaute.
     Immer wieder neue Bildfiguren zeigte er mir, ins Heft eingeklebte oder Reproduktionen aus seinen Büchern, welchen er dann jeweils einen Namen gab, den ich nachsprechen musste. Es waren ganz andere Wörter als jene, die ich von den Soldaten an Deck hörte. Am Anfang machte mir die Aussprache noch große Schwierigkeiten, besonders die einiger Vokale. Aber mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit bestand der Doktor darauf, es weiter zu versuchen. Später erzählte er mir von seinem Staunen darüber, wie schnell ich lernte. Nach und nach hatte sich über den glatten Felsblock meines Verstands gleichsam eine leichte Pulverschicht, eine Schicht Flugsand aus Lauten gelegt, welche mit der Zeit immer dichter, körperhafter wurde. Wie ein fruchtbarer fetter Humus, in dem die Wörter nun mehr und mehr Wurzeln fassten und auf blühten. So bildete sich das Sprachgedächtnis, welches vom Trauma in meinem Gehirn ausradiert worden war, an anderer Stelle neu aus, unterstützt vom Baugerüst des Verstands, dabei aber nahezu so spontan wie eine natürliche Sprache. So jedenfalls sah es der Doktor, der weiterhin staunte, wie schnell ich lernte, was wohl damit zusammenhinge, dass dabei Gehirnbereiche einsprangen, die nach seinen Worten beim Spracherlernen für gewöhnlich eher unbeteiligt waren. Und er wagte die fabelhafte Hypothese, dass meine intakten Gehirnzellen die über den Verletzungsbereich verstreuten Überreste meiner Muttersprache aufgespürt hätten, um sich mit ihnen nun, unterstützt von der Lernanstrengung, neu zu verschweißen und neue Verbindungen herzustellen. Eine ganz rätselhafte Chemie war da in mir am Werk, neue Gefäße verästelten sich und transportierten ihre Säfte in unerforschte Regionen, wo früher nur animalisches Leben von Fleisch und Blut pulsierte.
     Für den Doktor war es ein ganz wundersames Phänomen, was sich da vor ihm abspielte, und er bejubelte jeden einzelnen meiner Fortschritte. Jede Reaktion von mir während der Übungen, jedes neu von mir erlernte Wort wurde haargenau von ihm registriert und aufgezeichnet. Meine Genesung und Wiedererlangung der Sprachfähigkeit betrachtete er als seinen persönlichen Sieg, eine wahre Heldentat der Wissenschaft. Doch vor allem rührte ihn dabei die Rettung einer Sprache, welche auch er schon, auf seine Weise, für sich selber hatte retten können, indem er sie aus der Verbannung herüber in das Meer des Gedächtnisses geschifft hatte. Zwar war kein anspruchsvolleres Gespräch zwischen uns möglich - unsere Unterhaltungen bestanden zumeist aus isolierten Einzelwörtern, so häufig wiederholt, dass sie schon einen eigenen Körper in der Luft zu bilden schienen -, dennoch hatte Doktor Friari das Gefühl, mit mir die Zughörigkeit zu ein und derselben Welt zu teilen. Ein verborgenes Band vereinigte uns; keine Blutsbande, aber solche, die im Klang der Sprache mitvibrierten. In der Seele des Doktors hielt diese Sprache süße Erinnerungen wach, bei mir den Lebenswillen. Ein verborgenes Band vereinigte uns; keine Blutsbande, aber solche, die im Klang der Sprache mitvibrierten. In der Seele des Doktors hielt diese Sprache süße Erinnerungen wach, bei mir den Lebenswillen.
     Langsam, Wort für Wort, lernte ich auf diese Weise innerhalb weniger Wochen ein rudimentäres Finnisch. Karg, aber von unschätzbarem Wert, denn dadurch wurde es mir überhaupt erst möglich, mit dem Doktor zu kommunizieren; vor allem aber, meine eigene Geschichte zu erfahren.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Graf Verlages
(Copyright Graf Verlag)


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