Vorgeblättert

Leseprobe zu Ernst Piper: Nacht über Europa. Teil 2

25.11.2013.
Es war frappierend, mit welcher Vehemenz viele Kunstfreunde, Publizisten und Künstler, die in den Jahren zuvor begeistert nach Frankreich und Italien gereist waren, um sich an den Schönheiten dieser Länder zu berauschen und um neue künstlerische Entwicklungen zu studieren, die gegen die Enge und den Starrsinn des kaiserlichen Kunstverstandes und für die Moderne gekämpft hatten, die Sezessionen und Salons gegründet und aufsehenerregende Ausstellungen organisiert hatten, nunmehr die nationale Sache zu der ihren machten. All die Kosmiker, Ekstatiker, Pathetiker und Vitalisten, aber auch viele Expressionisten wandten ihren Furor nicht mehr gegen Tradition und Konvention, sondern gegen den Landesfeind. Die Begeisterung für den Krieg verbreitete sich im August 1914 geradezu explosionsartig. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen der traditionellen akademischen Schule, die die Sympathie des Kaisers genoss, und den verschiedenen Richtungen der Moderne spielten plötzlich keine Rolle mehr. Ähnlich der Flut der patriotischen Gedichte, die landauf, landab in den Zeitungen, aber auch in eigenen Anthologien publiziert wurden, entstand mit den Künstlerflugblättern ein neues Medium der bildlichen Kommunikation.
     Das prominenteste Beispiel war die Kriegszeit, ein wöchentlich erscheinendes Doppelblatt. Jede Ausgabe enthielt vier Originallithographien und kostete 15 Pfennige. Vier Hefte kosteten einschließlich Zustellung 50 Pfennig, und auf Wunsch war auch die Feldpostzustellung möglich. Unter dem Zeitschriftentitel war vermerkt: »Der Ertrag ist für gemeinnützige Zwecke bestimmt!« Verleger war der Galerist Paul Cassirer, der mit seiner Pan-Presse vor allem den Impressionismus fördern wollte und auch dem Vorstand der Berliner Secession angehörte. Die erste Ausgabe der Kriegszeit erschien am 31. August 1914, das Titelblatt, eine Lithographie von Max Liebermann, zeigte die Menschenmenge auf dem Berliner Schlossplatz am 1. August, darunter stand in Liebermanns Handschrift der Satz Wilhelms II. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche«. Das war von hohem Symbolwert. Liebermann war nicht nur ein weithin anerkannter Repräsentant des wohlhabenden Bildungsbürgertums in der Reichshauptstadt, sondern auch ein prominenter Angehöriger der jüdischen Minderheit, zugleich der bedeutendste deutsche Impressionist und Präsident der Berliner Secession, also Vertreter einer Kunst, von der Wilhelm II. gesagt hatte, sie sei gar keine, da sie sich über die von ihm bezeichneten Schranken hinwegsetze. 1889 hatte er sich als deutscher Künstler an der Weltausstellung in Paris beteiligt, während das Deutsche Reich eine offizielle Beteiligung wegen »antimonarchistischer Tendenzen « in Frankreich abgelehnt hatte. Der Maler und der Kaiser waren einander in inniger Feindschaft verbunden. Die beiden hatten sogar gegeneinander einen - von Liebermann gewonnenen - Prozess geführt, in dem es um den Umbau des Hauses am Pariser Platz ging, das der Künstler erworben hatte. Aber all das spielte jetzt keine Rolle mehr. Auch die zweite Nummer hatte eine Lithographie von Liebermann als Aufmacher, diesmal mit dem Kaiserwort »Jetzt wollen wir sie dreschen!«. Die erste Ausgabe der Kriegszeit enthielt auf der letzten Seite ein faksimiliertes handschriftliches Bekenntnis des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe, der an den Kampfgeist der Künstlerschaft appellierte: »Aus Feuerschlünden, aus Not und Blut, aus Liebe und heiligem Haß wird uns Erlebnis. Wehe dem Künstler, der heute nicht erlebt! « Alle Parteien hätten jetzt dasselbe Ziel, die Kunst solle ihnen folgen. Ganz im Sinne dieses Aufrufs engagierte sich der Verleger Paul Cassirer auch selbst im Krieg. Er war damals schon 43 Jahre alt und zudem herzleidend, doch gelang es ihm, als Kriegsfreiwilliger an die Front zu kommen, wo er als Meldefahrer eingesetzt wurde.
     Auch das Periodikum Krieg und Kunst. Original-Steinzeichnungen der Berliner Sezession enthielt in der Regel jeweils vier Originallitographien. Das Impressum der ersten Folge erläuterte, die Blätter sollten aus dem Geist der Zeit sprechen und »späterhin als ein Ausdruck künstlerischen Kampfes in friedlicher Zeit fortgesetzt werden«. Dazu sollte es nicht kommen, die letzte Ausgabe der Reihe erschien 1917. Ein anderes Beispiel für die jetzt allerorten erscheinenden Künstlerflugblätter waren die Kriegsbilderbogen Münchner Künstler, die noch näher an den Usancen des Kunstbetriebs zu Friedenszeiten waren. Es waren nummerierte Mappen mit zwölf lose eingelegten signierten Originalgrafiken, wobei die Produktionsbedingungen im Verlauf des Krieges immer schwieriger wurden. Der dritten und letzten, auf nichtbayerische Künstler erweiterten Mappe lag ein maschinenschriftlicher Zettel bei: »Blatt II von Seewald: In den Kolonien ist nicht signiert, da der Künstler im Auslande festgehalten ist. Blatt III von Heckendorf : Sturm ist unkoloriert und unsigniert, da der Künstler sich im Felde befindet. Beide Blätter werden nach Rückkehr der Künstler gegen kolorierte, resp. signierte umgetauscht. [!]« Ein schlichteres Beispiel war das kleinformatige Wachtfeuer, das von dem 1913 gegründeten Wirtschaftlichen Verband Bildender Künstler herausgegeben wurde und alle 14 Tage im Berliner Zirkel-Verlag erschien. Dieses Periodikum ging mit der Zeit. Zunächst lautete der Untertitel »Künstlerflugblätter zum Krieg 1914«, dann »Künstlerflugblätter zum Krieg 1914/15«. Das setzte sich so fort, bis es am Ende »Künstlerflugblätter zum Krieg 1914/18« hieß.
     Die anfängliche Kriegseuphorie hielt nicht lange an. Künstler sind sensible Naturen, und das reale Kriegserlebnis führte oftmals zur Ernüchterung, nicht selten auch zur Erschütterung. Max Slevogt, der ebenfalls der Berliner Secession angehörte und wenige Wochen nach Kriegsausbruch seinen 46. Geburtstag feierte, hatte seine Verbindungen eingesetzt, um trotz seines fortgeschrittenen Alters als Kriegsmaler an die Front zu kommen, war aber so entsetzt über das, was er in Belgien zu sehen bekam, dass er schon nach wenigen Wochen wieder das Weite suchte. In der Vorbemerkung zu seinem Kriegstagebuch schrieb er, das Gesehene habe ihn »unsäglich gedrückt«, die Verwüstungen seien abstoßend, es bleibe »als letzte entscheidende Erinnerung: eine Welt, die durch blinde Zerstörung geschändet erscheint«. Ernst Ludwig Kirchner hatte sich freiwillig gemeldet, musste aber bald beurlaubt werden und erlitt, ähnlich wie Max Beckmann, einen Nervenzusammenbruch. George Grosz wurde nach sechs Monaten als »dienstunbrauchbar« entlassen, Anfang 1917 erneut eingezogen und, nach einem tätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten, in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Auch Oskar Kokoschka wurde auf Grund seiner angegriffenen psychischen Verfassung vom Dienst suspendiert. Waldemar Rösler, der 1914 in Belgien zum Einsatz gekommen und für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden war, versetzte man 1916 wegen seines zerrütteten Zustands auf einen Truppenübungsplatz in Masuren, wo er sich im Dezember 1916 das Leben nahm.
     Auch Paul Cassirer war 1916 desillusioniert nach Berlin zurückgekehrt. Er entschloss sich, die Kriegszeit einzustellen. An ihre Stelle trat Der Bildermann, der ganz auf die Illustration setzte. Das neue Periodikum wollte sich ausdrücklich nicht auf Bilder vom Krieg beschränken, es war vielmehr der Liebe und Freude an den »Werken jeglicher Kunst« gewidmet, die in Kriegszeiten noch stärker geworden sei. Die erste Nummer hatte die Lithographie »Europa« von August Gaul als Titelblatt. Sie zeigt den gallischen Hahn und den deutschen Adler einträchtig auf derselben Stange sitzend. Schon im Dezember 1916 wurde auch Der Bildermann wieder eingestellt, die letzte Ausgabe zierte Ernst Barlachs Lithographie »Dona Nobis Pacem«, eine recht eindeutige Botschaft. Bei der Militärzensur machte Cassirer sich damit keine Freunde, es gab sogar Bemühungen, ihn erneut an die Front zu bringen, obwohl sein Gesundheitszustand dafür ganz offensichtlich zu schlecht war. Schließlich gelang es durch Vermittlung von Harry Graf Kessler, Cassirer mit einem Auftrag des Auswärtigen Amtes in die Schweiz zu schicken und ihn so im doppelten Sinne des Wortes aus der Schusslinie zu nehmen.
Max Beckmann, Mitglied der Berliner Secession, aber im Herzen ein Einzelgänger, illustrierte in der ersten Ausgabe von Kunst und Künstler die Textcollage »Die erste Kriegswoche in Berlin nach Mitteilungen Berliner Tageszeitungen« mit sieben Zeichnungen, aber den Illustrationen fehlte alles Euphorisch-Triumphale. Über dem Text mit der Anordnung der Mobilmachung durch Wilhelm II. ist der Kriegsgott Mars zu sehen, der seine Sandalen schnürt, daneben eine weinende Frau, die ihr Gesicht verhüllt. Das war fast schon defätistisch. Auf Beckmanns Radierung »Die Kriegserklärung« sieht man Menschen, die eine Zeitung, vermutlich mit einer amtlichen Bekanntmachung, studieren. Ihre Gesichter sind ernst, manche auch ratlos angesichts der Ungewissheit des Kommenden. Eine Frau steht hinter den Lesenden mit vor Schreck geweiteten Augen und offenem Mund. Beckmann, der sein ganzes Schaffen dem Studium der menschlichen Kreatur, ihrem Leben und Überleben im Welttheater widmete, weshalb die Abstraktion für ihn nie eine Herausforderung war, mischte sich am 1. August 1914 unter die jubelnden Menschen auf Berlins Magistrale Unter den Linden. Seine erste Frau Minna Tube hat das Erlebnis in ihren Lebenserinnerungen festgehalten: »Unvergesslich, wie wir über die Linden gingen - ein Jubel, nur Max ging mit einem Zeichenblock und zurückgeschobenem Hut mitten in der Straße und zeichnete die armen Irren ab. Da klopfte ihm ein riesiger Junker oder etwas Derartiges auf die Schulter und sagte: 'Mensch, wie können Sie jetzt zeichnen in all dem Jubel!' - Max antwortete: 'Das ist das größte nationale Unglück, was uns treffen kann.'«
     Max Beckmann, der bedeutendste deutsche Maler des 20. Jahrhunderts, war kein Nationalist, kein Jubler, auch nicht in Momenten allgemeinen Überschwangs, er war vielmehr ein unbestechlicher Beobachter, ein Seismograph für das Geschehen in seiner Zeit. »Die nackte Entblößung menschlicher Leidenschaft « im Überlebenskampf war sein Thema, lange bevor der Krieg kam. 1909 malte er die »Szene aus dem Erdbeben in Messina«. In der Stadt an der nordöstlichen Spitze Siziliens hatte sich am 28. Dezember 1908 ein Erdbeben ereignet, bei dem mehr als zwei Drittel der 120 000 Einwohner umgekommen waren. Besonders inspirierte Beckmann ein Zeitungsbericht, wonach kaum bekleidete Strafgefangene, die in der allgemeinen Zerstörung hatten entkommen können, über andere Überlebende hergefallen waren und sie beraubt hatten. Als nächstes großes Gemälde folgte die vom Vitalismus Nietzsches spürbar beeinflusste »Amazonenschlacht« (1911), bei der sich Erotik und Kampf lebensvoll miteinander verbanden, und 1912/13 entstand das gewaltige, 3,30 Meter breite und 2,65 Meter hohe Gemälde »Untergang der Titanic«. Dieses Werk wurde von der zeitgenössischen Kritik ebenso abgelehnt wie das Messina-Bild. Man warf dem Maler vor, sich gewissermaßen als Bildberichterstatter zu gerieren und so auf das Sensationsbedürfnis des Betrachters zu spekulieren. Völlig verkannt wurde darüber die existentielle Dimension des Bildes, die Hans Belting so beschreibt: »Die Schiffskatastrophe im Eismeer sollte eine Menschheitsfabel in zeitgemäßem Gewand vorführen, den tragischen Lebenskampf und die trotzige Selbstbehauptung nach dem Denkstil des Vitalismus. « Während die hellerleuchtete »Titanic« im Hintergrund zu sehen ist, treiben im Zentrum des Gemäldes sieben Rettungsboote auf hoher See. Hilflose Schiffbrüchige versuchen sich an die Boote zu klammern, aber die Menschen, die schon in den Booten sind, reagieren teils gleichgültig, teils abwehrend und aggressiv; Hilfe findet nur ein Einziger.
     Bald nach Kriegsausbruch musste Beckmanns Schwager Martin Tube einrücken. Er kam an die Ostfront, wurde in der Schlacht bei Tannenberg schwer verwundet und war am 31. August wieder in Berlin, wo Beckmann ihn mit seinem Kopfverband porträtierte. Die Lithographie zeigt das eindringliche Porträt eines Mannes, der mit ernster Miene in die Weite schaut. Er hat das Leiden und Sterben vieler Menschen gesehen, das hat sich erkennbar eingeprägt. Wenige Wochen später war Martin Tube so weit wiederhergestellt, dass er erneut eingesetzt werden konnte. Er fuhr zurück an die Ostfront und fiel am 31. Oktober bei Iwangorod (heute Deblin) im zaristischen Teil Polens. Max Beckmann, der nicht gedient hatte, wurde entgegen seiner Erwartung nicht eingezogen. Er entschloss sich gleichwohl Anfang September 1914, einen Transport mit Liebesgaben zu begleiten, und kam so ebenfalls an die Ostfront. Dort konnte er eine Stelle als freiwilliger Krankenpfleger in einem provisorischen Krankenhaus übernehmen, das in einem Schloss in der Nähe von Tannenberg untergebracht war. Er sah, wie für die Beerdigung eines in der Nacht zuvor Verstorbenen Zweige gesammelt wurden: »Einen anderen, auch heute nacht gestorbenen, habe ich mit seziert. Er sah meinem Modell von der Beweinung ähnlich, hatte ein großes fahles Profil. Dann habe ich natürlich das ganze Lazarett gesehen mit allen Kranken. […] Die Ärzte zeigten mir sachlich und freundlich die grauenhaftesten Wunden. Und überall trotz guter Lüftung und hellen Räumen ein scharfer Duft von Verwesung. Etwa eineinhalb Stunde habe ich ausgehalten, dann mußte ich hinaus aufs Feld.«240 Der Brief schloss mit der Feststellung: »Die Landschaft ist wunderschön.«
     Beckmann nahm alles mit wachen Augen wahr, wenige Tage später schrieb er an Minna Tube, er habe so viel erlebt wie seit Jahren nicht, aber er blieb ein genauer, doch äußerlich unbeteiligter Beobachter. Er zeichnete alles, was er sah, wodurch er sich mehr als einmal dem Verdacht aussetzte, er sei ein Spion, und in unangenehme Situationen geriet. Das vom Krieg inspirierte grafische Werk wie auch seine Briefe lassen eine Kunstauffassung erkennen, die der von Walter Flex exakt entgegengesetzt ist. Stand Flex für die romantische Überhöhung und die Eskamotierung des Soldatentodes, der ihm zu unheroisch schien, sah Beckmann sich ganz im Gegenteil einem Realismus verpflichtet, der nichts ausspart und gerade dadurch den Menschen gerecht zu werden versucht. Die Kaltnadelradierung »Die Granate« (1914) zeigt dies deutlich. Das traumatische Kriegserlebnis verlangt nach einer neuen Bildsprache, die explodierende Granate sprengt die Zentralperspektive. Wir sehen um die Explosion Schießen, Kampf, schreckgeweitete Gesichter und die für den Ersten Weltkrieg so typischen schweren Kopfverletzungen.
     Im November 1914 kehrte Beckmann nach Berlin zurück, nahm freiwillig an einem Sanitätskurs teil, meldete sich anschließend zum Kriegseinsatz und kam Anfang 1915 nach Belgien, wo er zuerst in einem Typhuslazarett und dann in einem Operationssaal in Kortrijk (französisch Courtrai, damals Courtray) im Einsatz war. Hier entstanden Blätter wie »Große Operation«, »Kleine Operation« und »Das Leichenhaus«. Nachdem er kurze Zeit in Roeselare stationiert war, wechselte Beckmann in das Feldlazarett in Wervik, wo er dem Kriegsgeschehen besonders nahe war. Er berichtet seiner Frau von dem »wunderbare[n] apokalyptische[n] Ton der Riesengeschütze«, sieht die »pyramidenförmigen Reflexe der Schrapnells und ihr düsterrot zickzackartiges Aufblitzen«, trifft in den durch wochenlangen Artilleriebeschuss umgepflügten Landschaften auf »seltsam unwirkliche, mondgebirgeartige Städte«, zeichnet »einen Franzosen, der halb aus seinem Grab heraussah«, und ist als Maler überwältigt von der wilden Vielfalt der Farben: »Heute früh war ich an der staubigen, weißgrauen Front und sah wunderbare verzauberte und glühende Dinge. Brennendes Schwarz, wie goldenes Grauviolett zu zerstörtem Lehmgelb, und fahlen, staubigen Himmel und halb und ganz nackte Menschen mit Waffen und Verbänden. Alles aufgelöst. Taumelnde Schatten. Prachtvoll rosa und aschfarbene Glieder mit dem schmutzigen Weiß der Verbände und dem düstern, schweren Ausdruck des Leides.«

zu Teil 3