Vorgeblättert

Leseprobe zu Georg Klein: Die Zukunft des Mars. Teil 1

22.08.2013.
IM ADVENT: DREI

Als Umann zugetragen wurde, dass der Don nach ihm suchen ließ, stopfte er seine Siebensachen in den Rucksack und wechselte das Quartier. Mit Sachverstand und Geduld, mit einem Stück Kupferdraht und einem gut geladenen Taschenlampen-Akku knackte er das elektronische Sicherheitsschloss einer Wohnung, deren heile Fenster ihm vor kurzem vom gegenüberliegenden Trottoir aus aufgefallen waren. Die brandversehrten unteren Stockwerke des Gebäudes waren irgendwann von Brennstoff- und Metallsammlern ausgeweidet worden, aber vor den nicht nur wunderschön marmorierten, sondern auch ultraharten Semperlaminat-Türen des ausgebauten Dachgeschosses hatten die Plünderer kapitulieren müssen.
     Sein neues Domizil lag so nah an der Dreifaltigkeitskirche, dass deren Glockendröhnen die Scheiben zum Schwingen brachte. Die Gewissheit, nun in kurzen Abständen derart eindringlich an die Existenz von Don Dorokin erinnert zu werden, hatte Umann umgehend beruhigt. Der Schlag der Stunden schien ihm Muße zu schenken. Umann, den seine Teamleute einst, in der Guten Alten Zeit, untereinander nicht «den Chef», sondern in zutraulichem Respekt nur «unseren Langen» genannt hatten, wollte ein schönes Weilchen in diesem Versteck ausharren. Zwei oder gar drei Wochen waren mit dem Säckchen Hasel-Walnuss-Mischung und den beiden großen Kanistern Reinwasser, die er nach oben geschleppt hatte, problemlos auszuhalten. Und wie ließ sich besser in aller Ruhe über das unvermutete Interesse an seiner Person nachdenken als in einem ans Fenster gerückten Stuhl, den Blick gerichtet auf die frisch schneebemützten Antennenschalen rund um das Kreuz auf der Kuppel der Kirche?
     Die Dachwohnung war großzügig geschnitten, möbliert in einem Stil, der Mode gewesen war, bevor es mit Moden und Stilen überhaupt ein Ende genommen hatte, und sie enthielt den gesamten einstigen Lebenskram eines Geschlechtsgenossen. Auf das Alter, das dieser erreicht hatte, ließ sich aus der Vielfalt der elektronischen Apparate schließen. Gleich vier Datenträgergenerationen und die dazugehörigen, stets hochwertigen Abspielgeräte waren versammelt. Sein Vorwohner musste zuletzt ein Mann von gut fünfzig Jahren gewesen sein. Natürlich war keine Stromquelle verfügbar, um zu prüfen, welche der hübschen Maschinchen sich noch in Betrieb nehmen ließen. Aber es gab auch bedrucktes Papier in Hülle und Fülle, einige hundert Bücher, vor allem historische Romane und populärwissenschaftliche Werke. Auf dem großen Glastisch der Sitzgruppe fand sich zudem ein ganzer Stapel des esoterischen Schunds, der in der ersten Phase der Seuche hohe Auflagen erklommen hatte: Kräuter-, Heilstein- und Wunderwasser-Ratgeber, dazu diverse Körper-Seele-Ertüchtigungstraktate, all das, was dereinst Schutz vor dem Großen Zappeln versprochen hatte und Umann nun ermöglichte, die Datierung zu präzisieren: Die Räume mussten bereits im sogenannten Zappelsommer, als die Stadt von der anschwellenden Wucht der ersten Erkrankungswelle bis ins Mark ihres Metropolendünkels erschüttert worden war, in den Zustand heiler Ungenutztheit eingetreten sein, der nun ihn, den Eindringling, so angenehm und hilfreich umfing.
     Allein vom Staub fühlte sich Umann doch gestört. Obwohl alle Fenster geschlossen waren, hatte sich eine erstaunlich dicke Schicht silbrig grauen Pulvers niedergeschlagen, wahrscheinlich Aschepartikel aus den unteren Geschossen, die der Luftzug durch den Schacht der Klimaanlage hereingetragen hatte. Beim Putzzeug unter der Spüle fanden sich ein Handfeger und eine Kehrschaufel, aber der feine Schmutz wirbelte selbst bei sachtem Zusammenschieben ärgerlich auf. Also beschloss Umann, obschon ihm sein Sauberkeitsfimmel in der Wirrnis der letzten Jahrzehnte oft genug lächerlich obsolet vorgekommen war, noch vor der ersten Nachtruhe gründlich feucht zu wischen.
     Da das Reinwasser für eine derartige Aktion zu kostbar war, stieg er noch einmal in die unteren Stockwerke hinab. Bereits einen Treppenabsatz tiefer entdeckte er eine mit einer Plane sorgfältig abgedeckte, noch halbhoch gefüllte Badewanne, auch zwei Eimer ließen sich nach geduldiger Suche finden, und als er sein Putzwasser nach oben schleppte, fiel ihm zum ersten Mal der mannslange Plastiksack auf. Vielleicht hatte er ihn bisher im Eck hinter dem Eingang zur zweiten Dachgeschoßwohnung übersehen, weil ihn ein allerletzter Rest jener Scheu vorbeischauen gemacht hatte, die man früher, zumindest in den ersten Monaten der Seuche, als eine sofortige Abholung noch die Regel war, vor diesen luftdichten und wasserfesten Transportbehältern empfunden hatte. Am Ende des Reißverschlusses hing das obligatorische Namenskärtchen. Vor- und Nachname stimmten mit dem Schild neben der Türklingel seines Unterschlupfs überein.
     Das Große Zappeln verdankte seinen albernen, aber für alle Zurückblickenden einzig gültigen Namen den ersten vier Wochen der Seuche, jenem närrischen April, als fast jeder, der mit einem Infizierten zu tun bekam, von dessen Gebaren belustigt war. Die Erkrankten der Anfangsphase waren ausschließlich Männer um die Dreißig. Aufgekratztes Geschäftigsein und ehrgeizige Ungeduld gehörten bei den meisten so selbstverständlich zum alltäglichen Benehmen, dass die Steigerung der einschlägigen Eigentümlichkeiten zwar bemerkt, aber zunächst nicht als bedenklich empfunden wurde. In Umanns kleinem Team arbeiteten zudem, wie es ihr Tun zwangsläufig mit sich brachte, nahezu ausschließlich schräge Vögel, und ein jeder war die Schrullen des anderen gewohnt.
     Ihr Spezialist für Urdu und Farsi, ein nervöser Jüngling pakistanischer Herkunft, dessen senkrecht hochgegelter Schopf ihm, dem hochgewachsenen, selbst noch blutjungen Chef, gerade bis unters Kinn reichte, neigte schon immer dazu, während ihrer Besprechungen aufzuspringen und im Raum auf und ab zu laufen. Winzige Sprünge, irgendwann auch bizarre Hopser, die dieses Hin und Her takteten, waren die ersten Besonderheiten, die Umann als Steigerung seiner chronischen Hypermotorik ins Auge stachen. Dann begann das bislang ausgesprochen höflich gewesene Kerlchen damit, seine Kollegen, selbst ihn, den Teamleiter, mit verblüffender Penetranz mitten im Satz zu unterbrechen. Dazu wurde bald offenbar, dass er nicht mehr im Sitzen zu arbeiten vermochte. Mit weit gespreizten, sichtlich bebenden Beinen stand er vor seinem Doppelmonitor, und die Heftigkeit, mit der er in kurzen Abständen die Stirn gegen dessen Leuchtflächen stieß, ging eigentlich schon über das hinaus, was ein Vorgesetzter als den lässlichen Tick eines hochbegabten Spezialisten tolerieren konnte.
     Allerdings blieb der Kleine das leistungsgierige Arbeitstier, das er in den vorausgegangenen beiden Jahren gewesen war. Wie bisher hörte er die aufgezeichneten Gespräche, die ihnen von den Amis, von den Russen und zunehmend auch von den lange recht knausrig gewesenen Chinesen zur Auswertung überlassen wurden, mit vierfacher Geschwindigkeit ab. Seine Findungsrate in diesem Gezwitscher war unverändert hoch, seine Beurteilung der wesentlichen Stellen überzeugte weiterhin, ja schien sogar noch an Einfühlungskraft und logischer Stringenz gewonnen zu haben.
     Sie arbeiteten unmäßig viel. Das globale Raunen des Dialogischen Terrorismus hatte damals, im Jahr vor dem Ewigen Winter, einen neuen Grad der Verdichtung erreicht, und plötzlich nahm auch die Zahl der Attentate wieder zu. Der Pakistani war stets der Erste und der Letzte an den Rechnern, und eines Abends, als zu später Stunde nur noch sie beide übrig waren und Umann sich über die Schulter des Kleinen beugte, um sich anzusehen, wie der, zappelnd und zitternd, die Quintessenz eines schier endlosen Dialogs, eine über den halben Globus hinweg zustande gekommene Verabredung zu Zerstörung und Totschlag, in wenige bündige Sätze fasste, begriff Umann an dem Geruch, der dem Hemdkragen seines Mitarbeiters entströmte, dass dieser wohl schon einige Tage nicht mehr zum Duschen und Umkleiden gekommen war.
     Rückblickend rührte Umann die Zähigkeit des Erkrankten. Als sich die letalen Zusammenbrüche häuften, als eine vorsorglich geheim gehaltene Statistik der städtischen Gesundheitsbehörde bereits mehr als zwei Dutzend Tote pro Tag führte, war sein Spezialist, vermutlich einer der Erstinfizierten, noch tüchtig bei der Sache. Da der Kleine allein wohnte, brachte ihn einer aus dem Team abends nach Hause, schließlich sogar ins Bett. Morgens holte man ihn ab, prüfte, ob er geduscht und gefrühstückt hatte, und untertags ging man zweimal mit ihm in den Hof hinunter, wo er, verblüffend lange Abhörpassagen auswendig memorierend, im Kreis herumhopste. Bis zuletzt blieben seine Arbeitsergebnisse untadelig. Und als er dann in einem unbeobachteten Moment hingeschlagen war, als er sich mit den inzwischen auch in den allgemein zugänglichen Medien in ratloser Ausführlichkeit kommentierten, verrückt komischen Zuckungen auf dem Boden vor dem Kaffeeautomaten gewälzt und nach einem allerletzten langen Beben, einem fast maschinenartig steten Vibrieren und Nicken, für immer stillgehalten hatte, betteten ihn die Männer des Notdienstes, die der Volksmund bereits «die Zappel-Ambulanz» getauft hatte, in einen jener billigen gelben Säcke, deren Verwendung die steigende Frequenz der Abholungen unumgänglich gemacht hatte.
     Den leergeräumten Glastisch wischend, spürte Umann die Versuchung, vor die Tür zu gehen und den Sack draußen im Eck so weit vom Staub der Jahre zu befreien, dass das Gelb der Seuchen-Ära noch einmal aufleuchten durfte. Ihre Dienststelle war auch nach dem dritten Todesfall im Team nicht geschlossen worden. Aber als er sich nach einem der rar gewordenen freien Sonntage zum Wochenbeginn in aller Herrgottsfrühe einen ersten Überblick über den Datenfluss der zurückliegenden Stunden verschaffte, dämmerte ihm aus dem eigentlich ultraleisen, aber plötzlich wie das Flügelrauschen winziger Motten doch hörbar gewordenen Kühlgeräuschen ihrer Rechner die Einsicht, dass es mit seiner kleinen, feinen Spezialtruppe aus und vorbei war. Heute würden alle ohne Entschuldigung fernbleiben, weil einem jeden die kurze Auszeit, die sich ihr junger Chef gegönnt hatte, als die rechte Gelegenheit erschienen war, sich auf eigene Faust aus dieser Stadt, aus dem neben Moskau, London, Paris und Tel Aviv fünften Zentrum der Pandemie, davonzumachen.
     Umann stellte sich ein exquisit schönes Trinkglas, ein Einzelstück aus den Küchenhängeschränken seines Vorwohners, auf den Couchtisch, dessen Platte er mit einem Geschirrtuch nicht bloß trocken gerieben, sondern schlierenlos blank gewienert hatte. Dazu holte er sich einen Likör, von dem sich gleich drei Flaschen in der Hausbar befanden: Danziger Goldwasser! Irgendwann vor ein paar hundert Jahren musste ein verrückter Apotheker es für gesund befunden haben, schlichten Kornschnaps nicht nur mit Kräuterextrakten, sondern auch noch mit hauchdünnen Goldplättchen anzureichern, und in aberwitziger Kontinuität war dergleichen bis in die Abendröte der Guten Alten Zeit hinein hergestellt worden.
     Der Gesamtinhalt der Hausbar war wohl über fünftausend Eurorubel wert. Wie viele der Kopfarbeiter, die von der Seuche verschont, aber zu Erwerbslosen gemacht worden waren, hatte sich Umann in den Folgejahren mit allerlei Kleinhandel durchgeschlagen. Eine Zeitlang hatte er selbst ein sorgsam verborgenes Lager Alt-Alkoholika unterhalten. Aber eines Abends war es von der Bande, die den einschlägigen Markt seines Viertels dominierte, ausgehoben worden, und nach einem idiotisch riskanten Feuergefecht hatte er froh sein müssen, seine Haut, die Klamotten, die er trug, die leergeschossene Pistole und die auf den Bauch geschnallte Geldtasche in die anbrechende Nacht hinausgerettet zu haben.
     Das Destillat schmeckte hervorragend. Den Aromastoffen schien die Zeit nur gutgetan zu haben. Selbst das Gold glaubte Umann als einen Nebengeschmack, als eine eigentümlich metallische Süße auf Zunge und Gaumen wahrzunehmen. Er kaute ein paar Nüsse, um nicht allzu schnell vollends betrunken zu werden. Er war sich sicher: Keines der mickrigen Geschäftchen, mit denen er sich nach dem Ewigen Winter mehr schlecht als recht über Wasser gehalten hatte, konnte Don Dorokin als erwähnenswert zu Ohren gekommen sein. Nur etwas, das aus dem Rumoren der Guten Alten Zeit herübertönte, taugte dazu, ihn für den allseits Gefürchteten, den allerseits Hochverehrten interessant zu machen. Der Don musste von seiner einstigen Dienststelle erfahren haben.
     Während es dunkelte, stand er noch lange am Fenster und sah die großen Funken entzündeten Rußes gleich winterlichen Glühwürmchen aus den Kaminen in die abendliche Finsternis fliegen. Auf dem Dach vis-à-vis kletterte mit steifen, übervorsichtig langsamen Bewegungen ein alter Mann herum und versuchte hartnäckig, aber vergeblich, die Blechabdeckung eines Schornsteins zu entfernen. Jetzt hockte er, vielleicht um Kräfte für den anstehenden Abstieg zu sammeln, rauchend im Windschatten einer großen grauen Antennenschüssel und schaute in seine Richtung herüber.
     Umann zündete eine Kerze an und zog die Vorhänge zu. Ein besonderer Vorzug seiner aufgegebenen Wohnung war gewesen, dass das Haus zu einem Straßenzug gehörte, der das Lichtgeschenk des Don erhalten hatte: volle 180 Minuten Strom, zwei durchgehende Stunden nach Einbruch der Dunkelheit und eine weitere im Morgengrauen. Die Wiederaufnahme der Versorgung mit Elektrizität war nur eine der segensreichen Errungenschaften, die man der gut zehnjährigen Herrschaft Don Dorokins verdankte. Das Lichtgeschenk wurde grundsätzlich nur an Straßen verliehen, die eine stabile Selbstverwaltung vorweisen konnten. Der jeweilige Friedensrichter musste in der Dreifaltigkeitskirche vorsprechen und den erreichten Grad an Ordnung und Schlichtungsvermögen während einer gründlichen Befragung glaubhaft machen.
     Die pauschale Lichtabgabe wurde dann halbjährlich für alle angeschlossenen Häuser entrichtet, und der Friedensrichter sorgte mit den Sippenältesten und Bandenhäuptlingen dafür, dass niemand auf die Irrsinnsidee kam, einen Warmwasserboiler oder eine Waschmaschine aus der Guten Alten Zeit mit dem fragilen Energiefluss zu verdrahten. Die Kinder nannten das, was jeden Abend bis zu ihrem Einschlafen und dann wieder frühmorgens in den vergilbten Steckdosen bereitstand, nur «das Licht», und auch bei denen, die sich noch an den einstigen Stromüberfluss erinnern konnten, begann sich dieser Name allmählich gegen die frühere Bezeichnung durchzusetzen.

zu Teil 2
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