Vorgeblättert

Leseprobe zu Georg Kreisler: Letzte Lieder. Teil 2

10.08.2009.
II

In Hollywood, auf der Flucht vor Hitler, pflegten wir Verkehr mit anderen Flüchtlingen, und alle sagten dasselbe. Sie waren der Hölle entkommen und beklagten sich über das Paradies, fühlten sich, zu Recht, unsicher und beurteilten einander nach der Höhe des jeweiligen Einkommens. Mein Cousin, der Filmdrehbuchautor Walter Reisch, durch dessen Hilfe wir nach Hollywood gekommen waren, verdiente tausend Dollar wöchentlich und war daher ein besserer Mensch als der Drehbuchautor Billy Wilder, der nur hundert Dollar wöchentlich verdiente. Wer gar nichts verdiente, wurde nicht erwähnt. Der Boden unter den Füßen war verschwunden.
     Ich suchte Freunde und Freundinnen und fand keine. Dichter und Komponisten gab es nicht mehr. Was man schrieb, musste verfilmt werden, was man komponierte, war Filmuntermalungsmusik, sonst war es wertlos. Das Böse hatte gesiegt. Ich hörte auf zu lesen, horchte nicht mehr in mich hinein, sondern gestikulierte hinaus: Ein Job, ein Job! "Es gibt viel Hoffnung, aber nicht für uns", sagt Kafka.
     Als ich, 1942, mit zwanzig Jahren zum amerikanischen Soldaten gezwungen wurde, änderte sich das. Es entstand eine Art von Kameradschaft, und in England erhielt ich die erste Gelegenheit, zu schreiben, zu komponieren und zu inszenieren, natürlich Soldatenshows mit Soldaten für Soldaten und auf Englisch. Die Kunst war zurückgekommen, denn es war Kunst, auch wenn wir es nicht so nannten. Es war die Basis für mein späteres künstlerisches Leben. Ich schrieb ohne Rücksicht auf Verständlichkeit, und es wurde verstanden, ich komponierte drauflos, und Tausende von GIs applaudierten. Niemand sagte "Mir gefällt es, aber es ist nichts für die Masse", niemand nannte mich verächtlich "Kabarettist", niemand zensierte meine Texte. Es herrschte Frieden im Krieg.
     Natürlich lebte man in einer großen Zeit, und als Zivilist wurde meine Zeit wieder klein. Ich blieb dabei, dass der Klang der Worte fast wichtiger war als ihr Sinn, daher schrieb ich vor allem Lieder. Der Autor und Kritiker Hans Weigel behauptete einmal, dass meine Texte der Musik bedürften. Das war ein Irrtum. Die Texte ohne Musik kann man lesen oder deklamieren, die Musik ohne Text ist schal, daher bedarf die Musik der Texte, das hat sich bei etlichen Lesungen bestätigt. Die Musik ist für mich ein Kunstmittel, um den Klang der Texte zu fördern, sie steht auch bald fest, hingegen ändere ich die Texte immer wieder.
     Als Zivilist sprach ich zu niemandem, denn niemand hörte mir zu. Anderen Künstlern ging es nicht besser, aber sie merkten es nicht immer. Sie diskutierten manchmal einen ganzen Abend lang und schilderten das Gespräch am nächsten Tag in einer Minute. Erst ihre Kunst brachte ihre stumme Wirklichkeit zutage, und schweigend wurde ihnen dann ihr Alleinsein bewusst. Viele mieden dann die Kunst oder verachteten sie, denn sie wollten gefallen.
     Später in New York ging es mir ähnlich mit Karl Marx. Der ist nichts für junge, einsame, durchgeschüttelte Menschen. Marx muss man mit jemandem teilen. Die einsamen Kommunistinnen, die ich traf, litten unter Schuppenflechte und dergleichen, da gab es keine Gespräche für mich. Henry Kissinger, den ich als Soldat kurz kennengelernt hatte, und seinesgleichen waren anders, professionelle Alleswisser, die durch Andersdenkende aus der Ruhe gebracht wurden. Sie erkannten ihre Feinde und schlugen sie freundlich tot. Politiker diskutieren ungern, so wie Marx kein Vielleicht duldet.
     Mir war klar, dass ich dem Konzentrationslager New York entkommen musste, wenigstens um in ein anderes Konzentrationslager zu gelangen, aber ich hatte kein Reisegeld. Kein Europäer, den ich kannte, wollte Amerika verlassen. Lieber sehnte man sich und hatte Angst vor der Vergangenheit. Wie kommt man in die Zukunft? war meine stetige Frage. Ich konnte die anderen verstehen, man fühlte sich in Sicherheit, und nach dem Krieg gab es in Amerika Hochgefühle. Man wählte sogar General Eisenhower zum Präsidenten, weil er angeblich den Krieg gewonnen hatte. Niemand schien die Unwahrscheinlichkeit zu sehen, bis plötzlich der Kommunistenjäger McCarthy auftauchte, und die Zukunft war da. Der Koreakrieg war auch da. Die Kommunisten sind jetzt die Juden, sagten die Juden, sofern sie nicht selbst Kommunisten waren. Einige versuchten, nach Ostdeutschland zu entkommen. Das Jahr 1938 zeigte sich - natürlich kein Vergleich, die Situation in den USA war nicht lebensbedrohend, aber widerlich.
     In Wien hatte ich die österreichische Nationalhymne gesungen: "Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold". Nun sang ich die amerikanische, und man erzählte, im Jahr 1942 hätten französische Juden beim Abtransport nach Auschwitz die Marseillaise gesungen. Also Naivität, wo man hinschaute. Ich musste mich täglich irgendwie überzeugen, dass ich nicht träumte, sondern tatsächlich in Amerika war. Ich verstellte mich also - wozu war ich Schauspieler geworden? Es war nicht schwer, denn der Einwanderer ist interessiert an Amerika, und die Amerikaner sind interessiert an Europa. Sie umkreisen einander, lächeln einander an, der Amerikaner weiß, dass seine Vorfahren auch Einwanderer waren, und sagt: Ich bin teils russisch, teils französisch, teils deutsch. Der Einwanderer hat nur ein einziges Land, daher sagt er: Ich bin italienisch. Der Amerikaner spricht englisch, der Einwanderer auch, aber nur damit ihn der andere versteht, beiden ist bewusst, dass der Einwanderer lieber seine eigene Sprache sprechen würde. Nun muss der Italiener den Amerikaner überzeugen, dass er sich als Amerikaner fühlt, und der Amerikaner nimmt das zur Kenntnis, aber er weiß: Sich als Amerikaner fühlen ist etwas anderes als Amerikaner sein, der Einwanderer könnte ja irgendwann in sein Land zurückkehren, und dann würde er sich nicht mehr als Amerikaner fühlen. Auch Marlene Dietrich war ein anderer Mensch in Amerika als in Europa. Auch ich war ein anderer Mensch, ein Amerikaner auf Zeit. Letzten Endes bleibt der Einwanderer ein Fremder, und wenn er in sein Geburtsland zurückkehrt, ist er auch dort ein Fremder, wie ich später erfuhr. Er schließt sich ein und wird ausgeschlossen.
     Jeder Mensch ist ein Flüchtling. Wer zu Hause bleibt, flüchtet vor der Realität. Er behauptet, sich in seiner Heimat wohlzufühlen, aber er beneidet den Fremden, der so viel mehr erlebt hat, daher der Fremdenhass, der manchmal irrtümlich Patriotismus genannt wird. Oft ist Patriotismus eine Flucht in die Karriere, die man meint gemacht zu haben. Manche Menschen flüchten ein Leben lang, anderen muss man beweisen, dass sie auf der Flucht sind.
     Mein Vater, der, aus welchen Gründen immer, meine Flucht nach New York verhindern wollte, sagte: "Du wirst schon sehen: Wo du dein Auskommen hast, bist du zu Hause." Aber ich wollte in eine andere Fremde. Ich war nicht so eingeschüchtert wie er und versuchte, ihn zu überreden, mit mir nach New York zu kommen. Er hätte seinen neuen Beruf, Buchhalter und Steuerberater, auch in New York ausüben können. Ich liebte meinen Vater und dachte, ich könnte ihn ändern. Aber er blieb in Hollywood und lebte dort seine Wiener Routine weiter. Erst siebzehn Jahre später kam er zu mir nach Wien.
     New Yorker Juden fühlen sich so zu Hause, wie wir uns in Wien zu Hause gefühlt hatten. Sie finden sich mit dem Antisemitismus ab. Israel ist schlimmer, denken sie, dort muss man sich mit den Arabern abfinden. Niemand will bis heute das Judentum als Religion unter anderen Religionen betrachten, immer nur als Lebenseinstellung oder Charakterschwäche, also etwas, wogegen man zu sein hat. Auch in Amerika wurde der öffentliche Antisemitismus erst in den Fünfzigerjahren gesetzwidrig, bis dahin konnten Hotels und Gaststätten mit den Worten "Nur für Arier" Werbung machen. Auch sollte man nicht vergessen, dass die Amerikaner nach der Machtübernahme Hitlers ihre restriktiven Einwanderungsgesetze und Quoten beibehielten, während sie beim Ungarnaufstand 1956 30 000 ungarische Flüchtlinge außerhalb der Quote ins Land ließen. Das waren eben Antikommunisten und keine Juden. Im Zweiten Weltkrieg lehnten es Engländer und Amerikaner ab, deutsche Konzentrationslager zu bombardieren, obwohl es ihnen von jüdischen Organisationen wiederholt nahegelegt worden war. Man hat mir von jüdischer Seite mehrmals die vorwurfsvolle Frage gestellt: Wie kannst du nur nach Österreich oder Deutschland zurückkehren, nach allem, was passiert ist? Dann frage ich zurück: Wie kannst du in einem Land leben, in dem dasselbe jederzeit passieren könnte?
     Denn es hängt doch davon ab, wo ein Hitler sprießt. Auch den islamistischen Terror gibt es erst seit wenigen Jahren, als man begann, die Leute anzustiften. Man muss ihnen nur die Gelegenheit geben, unvernünftig und grausam zu sein, dann sind sie es. Ich habe mich in Wien nach meiner Rückkehr 1932 [sic! - gemeint ist wahrscheinlich 1955] sicherer gefühlt als in New York, denn in Wien war ja gerade das Schlimmste vorbei. Man sah dort die vergangenen Fehler ein - nicht wirklich, sondern aus Opportunismus -, dadurch konnte ich mit dem verbleibenden Wiener Antisemitismus besser zurechtkommen als mit dem New Yorker Antisemitismus. Kaiser Franz Joseph soll gesagt haben: "Schon recht, man tut ja alles, um die Juden zu schützen, aber wer ist eigentlich kein Antisemit?"
     Nach langem Suchen fand ich in New York einen Agenten, der sich meiner annahm. Er war Nachtlokalkomiker gewesen und hatte sich zurückgezogen, als er frühzeitig die Haare verlor. Mit der Glatze, die er nun hatte, konnte man damals in New York nicht auf die Bühne gehen, und ein Toupet wäre mit der Zeit als solches erkannt worden, also wurde er Agent. So gründlich waren die Vorurteile, von denen es viele gab. Wenn man eine Agentur aufsuchte, musste man einen dunklen Anzug, weißes Hemd und Krawatte tragen sowie glänzend geputzte schwarze Schuhe und Kniestrümpfe, damit kein nacktes Männerbein hervorlugte. War man nicht genau so gekleidet, wurde man von der Vorzimmerdame nicht vorgelassen.
     Dieser Agent schloss mit mir einen Exklusivvertrag ab, nach dem ich ihm von meinen zukünftigen Gagen 25 Prozent zu zahlen hatte statt der üblichen zehn Prozent. Dafür gab er mir Privatstunden in der Vortragskunst eines Nachtlokalkomikers und redigierte meine Texte, kurz, er lehrte mich das Handwerk. Das war für mich wesentlich wertvoller als ein paar Prozent meiner Gage. Ich war ein gelehriger Schüler.
     Die Erfolgreichen in der Kunst waren fast immer gelehrige Schüler, erfolgreich natürlich in dem Sinn, dass sie Kunst produzierten, nicht etwa dass sie Geld verdienten oder in der Zeitung standen. Kunst war schon immer selten, zahlreich waren nur die oft namenlosen Dilettanten, die allerdings auch so viel Geld verdienten wie die Künstler. Meistens mangelte es ihnen an Demut, an Einsicht, an Intelligenz oder an allen dreien. Mein erster Kontakt 1955 in Wien, Gerhard Bronner, war auch so. Er war dumm, wollte nichts lernen, aber er hatte eine glänzende Überredungsgabe und konnte mit dem, was er und andere für Kunst hielten, viel Geld verdienen.

Teil 3