Vorgeblättert

Leseprobe zu Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Wiederkommen. Teil 2

27.02.2012.
Hinter Kellerlicht lag die vertraute Landschaft. Vom hohen Sockel aus, am Gesims des Abhangs, überschaute man vom Internat, wo er nun sieben Jahre gelebt hatte, das ganze Tal. Die Bank, auf der er jahrelang gesessen hatte, sein Bett, sein Regal, die Stimmen vor allem all seiner siebzehn Mitschüler, die er nur von weitem hören brauchte, um sofort zu wissen, zu wem welche gehörte, wußte, wie er aussah, wo er wohnte, ob er vor Heimweh weinte oder nicht, wie er lachte, wußte, ob er ihn schon berührt oder angefaßt, ob er ihn liebgehabt hatte, ob der andere ihn auf den Dachboden mitgenommen und ihn vor sich hinknien lassen hatte, wie seine Eltern hießen, dessen Schuhe oder Hemd er sofort erkannte, das lag nun alles hinter ihm, wäre er noch da, wäre alles wie sonst. Jetzt, auf einmal, war das alles weg, verschwunden, schon weit hinter dem Horizont, das steile Wäldchen, wo er so viele Tannenzapfen für die Heizung gesammelt hatte, sie lagen, nie hatte es zwei gleiche gegeben, überall unter dem strähnigen Gras, der Felsenbehaarung, auf dem Moos, zwischen den Heidelbeersträuchern, die wie winzige Waldbäume aussahen. Er hatte damit die ovalen Weidenkörbe für Tomaten gefüllt. Der lange Balkon ganz oben, wo er so oft gestanden und das ganze Tal überschaut hatte, bis auf fast hundert Kilometer weit, das alles war nun weit hinter ihm, man mußte nur zurückkehren, und alles wäre wieder da wie sonst.
     Wie er da saß, überkam ihn auf einmal, unerwartet, hinterrücks das Heimweh, eine Welle, die ihn ansprang, so mächtig, daß ihm die Tränen in die Augen schossen, es wunderte ihn selbst. Das Internat hatte also doch zu seinem Inbild gehört, war nun Teil seiner Innenlandschaft geworden: die Beleuchtungen, Ecken, Zimmer, die Küche, die Bretter der Holzverschalungen, alles kannte er und vor allem die Stellen, wo man ihn hingeführt hatte.
     Arthur Kellerlicht war Vollwaise, zehnjährig hatte er seine Eltern verloren. Genauer gesagt, er hatte aus der Heimat wegmüssen, weil er geburtsschuldig war, aus "nichtarischer" Familie, wie es damals hieß, eine Bestimmung, von der er nie gewußt hatte, daß es sie gab. Der Vater, ein deutscher Jurist jüdischer Herkunft, als Kind aber evangelisch getauft, war schon fünfundfünfzig Jahre alt, als Arthur geboren wurde, die Mutter zehn Jahre jünger. Er hatte in einem großen Haus mit hohen Fenstern gelebt, in dem immer hinauf- und hinuntergerannt wurde, und sich Vater oder Mutter vom Treppenabsatz immer etwas zuriefen, es wurde auch viel geschrien und ab und zu, aber immer seltener, stoßweise gelacht. Vom Kinderzimmer oben hörte man im Winter den Vater unten in der Heizung mit einer langen Eisenstange stochern. Es war stets etwas nicht in Ordnung, es schlugen Türen irgendwo, weißlackierte Türen mit kleinen schwarzen Stellen, da wo die Farbe abgesprungen war. Seinetwegen, das hatte er schon her­ausbekommen, wurden sie so oft zugeschlagen. Er war viel zu jung für so alte Eltern, und mit kindlichem Zynismus nutzte er die Lage aus: Er war ein Böser. Auch hatte er sich mehrmals im weiträumigen Garten im Gesträuch versteckt, versucht sich nackt auszuziehen, um zu fühlen, wie es war. Jedesmal aber war er dabei überrascht worden, und man hatte ihn von der Stelle weggezerrt und gesagt, er sei ein ganz böser Junge.
     So hatte das Nacktsein nie von ihm abgelassen, immer irgendwo, im Hintergrund, abends im Bett, und auch das hing mit der Nacktheit zusammen, befingerte er in der Körpermitte die kleine rundliche Härte, die plötzlich aus ihm herausstand, und dann war auf einmal das Licht angegangen, und am Fuß des Bettes hatten zusammen, das war noch nie geschehen, Vater und Mutter nebeneinander gestanden, von oben bis unten mit allen Details, Anzug, Fliege, braunem Kleid und Kette, alles war da, und dann hatte die Mutter seine Hände ergriffen und versucht, sie mit einer Kordel, die er nicht gesehen hatte, zusammenzubinden. Es überfiel ihn da eine unmäßige, aus ihm herausbrechende Wut, ein bodenloser, ungeheurer Haß, am liebsten hätte er der Mutter das Gesicht zerkratzt, ihr den Schädel mit den Schuhhacken zertrampelt. Er schrie sie an, nannte sie Scheißsau, Hexe, Hure, ohne zu wissen, was das bedeutete, und fühlte, indem die Wut in ihm andauerte, daß sie in Mordlust umschlagen konnte, fühlte ihren Hals in seinen Händen, fühlte, wie er sie, ein letztes Schlucken unter seinen Fingern, erwürgte. Auf einmal aber schlug seine Wut in Schluchzen um, er war doch nur ein Bösewicht, ein Mörder vielleicht, der Vater, peinlich berührt, war davongeschlichen, und die Mutter hatte Tränen in den Augen, daß ihr Kind so boshaft war. Von da an hatte er gewußt, er trug in sich eine Wildheit, gegen die nur die Tränen, das herrliche, rettende Weinen ankommen konnte.
     Da die Mutter nicht mehr mit ihm fertig wurde, hatte man ihn seiner Hamburger Kinderfrau anvertraut, die ihn hütete, während die Mutter auf irgendwelchen mondänen Parties verschwand. Er war monatelang bei ihr in einem hohen Stadthaus mit schütterem engen Garten geblieben. Sie war mit Arthur streng und gerecht, und er war gerne bei ihr, jeden Tag bekam er es mit der Hand auf den Nackten und jede Woche sechs Hiebe mit dem Rohrstock, die er, neunjährig, entkleidet zu empfangen hatte, zuerst hatte er das ganze Haus zusammengeschrien, bald aber gelernt, den Schmerz herunterzuschlucken, vor allem, da die Hiebe nicht einmal sehr fest waren, und man ihm das Schreien verbo­ten hatte. So weinte er nur noch, sonderbar entzückt, verwirrt, erregt, seine auf diese Weise ausgestellte Nacktheit wurde zu einem festen Bild seiner Innen­welt.
     Was ihm von der Mutter geblieben war, war eine Silhouette in weißen, wehenden Kleidern, im sommer­lichen, sonnenüberfluteten Garten, unter den hohen weißen Wolken. Seine Mutter hatte oft mit ihm gespielt, er war ihr im Garten hinterhergelaufen, sie hatte seine Hände gehalten und sich mit ihm lachend im Kreise gedreht, und dann war sie auf einmal weg, und die ganze Welt um ihn herum schrumpfte, er sah nur noch Verschwommenes und in ihm war, jedesmal von ganz tief, Verzweiflung und Panik aufgestiegen.


Während all der Jahre im Internat hatte er manches von ihr vergessen, und da sie nicht wiederkam, ließ er sie jeden Morgen in dem weißen Kleid mit der blauen Schleife mit ihm spielen, er fühlte den Druck ihrer Hände um seine Handgelenke. Er hatte jetzt Erfahrung und konnte das Bild verdrängen, wenn die Tränen in ihm aufstiegen.
Eine französische Kusine, die Deutsch so drollig mit singenden Endungen aussprach, hatte sich seiner angenommen. Sie war eine geborene de la Rapière aus dem Périgord, eine alte "betuchte" Familie, die Adel vorspielte, weil sie vierzehn Bauernhöfe verpachtet hatte, die man im Laufe der Jahrhunderte auf nicht immer ehrliche Weise erworben hatte, und deren Name der Wiese "la Rapière", die sie im 19. Jahrhundert erworben hatte, entstammte.

zu Teil 3