Vorgeblättert

Leseprobe zu Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Wiederkommen. Teil 1

27.02.2012.
I Stadtgrau

Das Dröhnen des Zuges wurde jetzt, da man die Berge hinter sich gelassen hatte, vom Heulen des Windes übertönt, der von weither vom Ozean gekommen, bis in die russischen Weiten ziehen würde. In der leicht gewellten Ebene fuhr der Zug durch Felder und Wiesen, von weit ausholenden Eichen gesäumt, deren Kronen in der Mondhelle Nachtschatten warfen. Ganz in der Ferne erriet man Hügelketten, trotz der Dunkelheit ging der Blick ins Endlose, in unermeßliche Ferne. Es war sonderbar, so im Abteil mit sieben anderen, völlig unbekannten Menschen, vier zu vier, gegenüberzusitzen.
     Die Reisenden hatten das Licht im Abteil ausgemacht, manche schliefen und fielen gegen ihren Nachbarn, der, selbst im Halbschlaf, ihn nicht zurückschob. Er, Arthur Kellerlicht, gerade achtzehnjährig, mit zur Hälfte bestandenem Abitur, saß am Gang, natürlich hätte er gerne am Fenster gesessen, da es doch seine ­allererste längere Bahnfahrt durch Frankreich war. Man war von Sallanches um neun Uhr abends abgefahren und sollte zehn Stunden später in Paris, Gare de Lyon, ankommen, dort würde man ihn am nächsten Tag abholen. Ihm gegenüber schlummerte, in sich zusammengesunken, der Baron von Weinbein, der ihn nach Paris begleiten sollte. Im Halbdunkel sah man ihn ungenau, aber Kellerlicht kannte ihn so gut, daß er nicht einmal hinzuschauen brauchte, um ihn zu erkennen, er war der Englischlehrer im Internat, und da sie nur drei Schüler waren, die man auf das Abitur vorbereitete, sah man ihn immer aus nächster Nähe. Da Arthur Kellerlicht links von ihm saß, kannte er jeden Bartstoppel, jede Hautfaser seiner linken Gesichtshälfte, er hatte eine tiefe Stimme und schwarze Haare, die über der Stirn eine gerade Linie bildeten und von der Arthur nicht weg­sehen konnte: Wie war es möglich, daß die Haare so ­genau, jedes für sich, eins neben dem anderen, wuchsen und auf einmal aufhörten, und es von da ab nur noch leicht angefeuchtete, ein wenig fettige, glatte Haut gab, mit unzähligen Poren und hie und da schwarzen Punkten, die die Stirn überzogen. Es gab so viel in einem Gesicht zu sehen, das von sich selbst nicht wußte, wie es aussah.
     Herr von Weinbein rauchte Pfeife, und an ihm hing immer ein leiser bräunlicher Geruch, er trug dickes, aber, wie jeder zu dieser Zeit, zerschlissenes Tuch.
     Im Internat war er Englischlehrer gewesen, als Nachfolger des Herrn Baron von Frankenstein, der sofort nach dem Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland sein Schloß und seine Pferde zurückgelassen hatte und nach Frankreich ins Exil gegangen war. Sehr rasch hatte er in Florimontane, dem Internat, eine Anstellung gefunden, als Englischlehrer, Deutsch lernte ja keiner. Er bewohnte ein winziges Holzhaus mit Ofen gegenüber vom Internat. 1943, als die Deutschen die italienischen Besatzer des damals mit den Nazis kollaborierenden okkupierten Frankreich ablösten, war er der Franzö­sischen Résistance beigetreten und nach London geschleust worden, wo er sich in die Englische Armee einreihte und Dolmetscher wurde.
     Den Tip hatte er seinem Freund Weinbein gegeben, der gleichfalls nach dem Anschluß Österreichs an Nazideutschland emigriert und einige Monate lang auch dort im Internat Englischlehrer gewesen war. Er, Baron von Frankenstein, hatte aber nicht im Holzhäuschen gewohnt, sondern in einem großen Zimmer im Internat. Arthur Kellerlicht hatte es immer vor Scham geschüttelt, wenn er sich einen Erwachsenen im Bett vorstellte.
     Erst ein Jahr nach der Befreiung des südlichen Teils Frankreichs, im September 1944, war der Baron von Weinbein plötzlich wieder aufgetaucht. Allmählich erfuhr man, daß er ein Jahr zuvor in Lyon von der Miliz verhaftet und zum Tode verurteilt worden war und im Gefängnis des Fort Monluc in den noch blutfeuchten Bettüchern eines von der Gestapo gefolterten franzö­sischen Widerstandskämpfers hatte schlafen müssen. Da am Tage seiner Hinrichtung Lyon von der Résistance befreit wurde, hatte er überlebt. Als er dann, ein Jahr später, im Internat wieder Englischlehrer war, schwieg man immer, wenn man ihm begegnete und schaute ihn länger an, weil man wissen wollte, wie es in einem aussah, der zum Tode verurteilt worden war. Er fand Arthur Kellerlicht viel zu zappelig, störend, nervös, und gerade ihn hatte man gebeten, da er nun schon mal hinfuhr, den Arthur nach Paris zu bringen, wo er an ­einer neuen Schule aufgenommen worden war. Und nun konnte er wieder nicht von diesem Gesicht lassen. Schräg gegenüber von Herrn von Weinbein saß ein älterer schwitzender Mann, dessen Bauch sich langsam unter den vielen Knöpfen, die ein so großer Bauch brauchte, hob und senkte, es war eigenartig, daß dessen Gesicht wie auch die Gesichter der anderen Mitreisenden einfach so mitfuhren.
     Alle Gesichter waren immer und überall mit dabei, und das war das Groteske, er, Kellerlicht, stellte sich diese Gesichter beim Waschen, beim Ankleiden vor, und dabei sah man doch kaum etwas in der fahlen ­Beleuchtung des Abteils. All die Reisenden waren auch immer wieder, abends oder morgens, selbst Nackedeis, und man wußte nichts von all den Landschaften, die jeder einzelne von ihnen gesehen hatte, von den Wegen, die er gegangen, von den Zimmern, in ­denen er gewesen war, den Türen, die er auf- oder ­zugemacht hatte, all das war in jedem von ihnen, und von alldem wußte man nichts, von den Sonntagskleidern, den Abenden, den Fenstern, aus denen sie sich gelehnt hatten, und jedes Gesicht war so vollkommen anders und doch ähnlich zugleich mit seinen ganz ­eigenen Zügen, die jeden von ihnen überallhin begleiteten, aufs Klo, ins Bett, ins Zimmer, auf die Straße, man konnte sich einfach nicht satt sehen. Ganze Weltgeschichten fuhren da mit ihm, Arthur Kellerlicht, eine Frau mittleren Alters saß am Fenster, schaute starr in die Nacht hinein und dachte an etwas, wovon man nichts ahnte, sie hielt den Kopf unbeweglich gesenkt, und die Haare hingen ihr herunter. Sie mußte an die dreißig Jahre alt sein und hatte bestimmt schon Hunderte von Türen zu- und aufgemacht, sie hatte Verwandte und Freunde, ­Eltern vielleicht, die alle wiederum andere Menschen kannten, und jeder hatte seine eigenen Bilder in sich.
     Von den drei Reisenden neben sich sah er nur wenig, Knie und eine Gesichtsflanke auf Augenhöhe, die drei anderen ihm gegenüber hatte man alle auf einmal vor Augen, mit allem Zubehör: Nase, Lippen, Kinn, Stirn. Alles hatte sie immer, zu jeder Gelegenheit, begleitet, war immer dabei, hatte alles gehört und gesehen.
     Hinter den Reisenden befand sich in einem Rechteck ein fahlgraues Foto, das eine französische Landschaft darstellte. In der sehr schwachen Beleuchtung konnte man hinter dem Glanzpapier nur vage Formen von Bergen, von Ebenen oder Türmen sehen, vielleicht war in irgendeinem anderen Abteil des Zuges die Landschaft abgebildet, durch welche man gerade fuhr.
     Aus der Luft sah der Zug wie ein langer, heller dünner Strich aus, der da unten auf einer schwarzen, geraden Linie fuhr. Man konnte sich vorstellen, wie alles, von einem nächtlichen Flugzeug aus betrachtet, aussehen würde. Die Wiesen, Hecken und Wälder wurden von dieser sonderbar geraden Linie durchschnitten, und im vom Mond hell beleuchteten schmalen Strich saßen oder lagen einige hundert Menschen, je nach Reichtum in weichen Bettüchern oder auf Leder, Kord oder Holz, schlafend, dösend, nachdenkend, wartend, traurig, ruhig oder froh, und von all diesen jahrzehntelangen Geschichten eines jeden war nichts zu ­sehen, nichts zu vernehmen, und doch zog da in jenem winzigen Strich, der da fuhr, die ganze Welt vorbei.
     Einer erinnerte sich an den letzten Geburtstag seiner kleinen Tochter, an den im Garten aufgestellten Tisch mit der Decke, die auf einer Seite die Beine verdeckte, man hatte Kuchen von blauen Tellern gegessen, und der andere neben ihm dachte an den Haken am Fenster­laden, den er immer so schwer aufkriegte, und ein anderer an seine Küche, wo seine Frau, trotz fortgeschrittener Stunde, am Tisch mit dem Wachstuch saß und auf ihn wartete: aus jedem konnten ganze Romane hervorkommen, und er, Arthur, der da auch im winzigen Strich saß, stellte sich die Unendlichkeit der Welt vor.

zu Teil 2