Vorgeblättert

Leseprobe zu Hanna Krall: Rosa Straußenfedern. Teil 3

30.01.2012.
INKA M., Architektin
Über eine kleine Unebenheit im Gelände

     ? Er schrieb mir im Mai, fünfundvierzig. (Woraus hervorgeht, dass in diesem Mai verschiedene Dinge geschahen, und alle hatten auf gewisse Weise mit mir zu tun.) Er wollte wissen, was mein Studium macht. Er hatte Architektur, Dirigieren und Klavier studiert, dazu wohl auch noch anderes, ich erinnere mich nicht mehr, und ihm war an meiner Bildung gelegen. Er wollte, dass ich unbedingt Fremdsprachen lerne und musiziere, am besten auf dem Klavier, aber Geige ginge auch. Die Amerikaner hatten das Lager kaum befreit, und schon dieser Brief, schon "Was macht das Studium". Später kümmerte er sich weniger um mich, denn er heiratete eine vierzig Jahre jüngere Frau, die nicht wollte, dass wir uns sahen. Ich schaute mir öfters die Häuser an, die er entworfen hatte, besonders das höchste. Mutter belehrte mich, das sei Art deco, obwohl, nicht ganz, vielleicht doch eher Moderne, mit dieser für die Moderne typischen Zurückhaltung. In jedem Fall aber - ein Sinnbild seiner Zeit. Während des Aufstands hatte man eine weiß-rote Fahne herausgehängt, die dann von einigen Kugeln und einer Zweitonnen-Mörsergranate getroffen wurde. Das Sinnbild blieb stehen, wenn auch etwas schräg, und die Flagge, von Kugeln durchlöchert, hing weiter von dem Wolkenkratzer herab, dem ersten in Polen, dem zweiten in Europa, entworfen von Marcin Weinfeld, meinem Vater.

     In Dachau also besagter Brief, und auf dem Land bei Sochaczew - immer noch im Mai fünfundvierzig - ein Besuch von Männern mit Strumpfmasken über dem Kopf. Sie trugen geschnürte, graue wattierte Drillichjacken, in den Händen hielten sie Gewehre, einer fragte - ihr seid von Weksztajn, was? Weksztajn war unser Onkel, ihm gehörte die Ziegelei, er war tags zuvor in die Westgebiete gefahren. Sie warteten die Antwort nicht ab. Dieselbe Stimme sagte: So, ihr Juden, raus mit euch - und zeigte mit dem Gewehr zur Tür. Wir gingen hinaus. Es regnete, es war dunkel, Mutter zog mich mit sich, sie sprang, die Männer sahen es nicht oder dachten nicht an den Brunnen, denn sie liefen umher und riefen laut durcheinander. Wir saßen ein paar Stunden dort. Es war nicht tief. Ich stieg als erste hinaus, das war nicht schwer, man musste sich nur an den Verbindungsstücken zwischen den Ringen festhalten. Wir liefen über die Gleise und klopften bei der Bäckerei an. Sie buken gerade Brot und versteckten uns hinter dem Ofen. Die Miliz sagte, das sei nicht ihre Sache, wir müssten zu den Russen gehen. Die Russen schafften ein paar Männer herbei und stellten sie mit dem Rücken zu uns auf. Wir sagten, sie hätten "So, ihr Juden, raus mit euch" gerufen, also befahlen sie den Männern dasselbe zu rufen. Der erste rief: "So, ihr Juden ?" Der zweite: "So, ihr Juden ?" Beim dritten sagte ich - der ist es. Der Mann flüchtete. Sie schossen auf ihn, ohne zu treffen, vielleicht war es besser so, denn ich war mir nicht sicher. Das heißt, ich war mir sicher, aber vielleicht war es besser so. Zwei Tage später sagten die Russen, sie könnten nicht länger auf uns aufpassen, sie müssten nach Berlin. Wir stiegen in einen Zug, stiegen irgendwo aus, stiegen in einen anderen Zug, stiegen aus und waren in Sopot.

     Man wies uns das Parterre einer Villa zu. Große Zimmer, ringsum Garten. In der Nachbarschaft wohnte eine deutsche Gräfin. Sie kam zu Mutter und erzählte, die Villa habe einem Arzt gehört, der es nicht mehr aufs Schiff geschafft habe. Er habe seine Familie im Esszimmer versammelt, die Dienerin habe den Frühstückstisch gedeckt. Nach dem Frühstück habe der Arzt Zyankali in die Tassen geschüttet. Die Russen hätten sie am Tisch gefunden - den Arzt, seine Frau, die beiden Kinder, den Fahrer und die Dienerin, der Hund, ein elsässischer Schäferhund, habe auf dem Boden gelegen. Sie hätten sie im Garten begraben. Liegen sie noch dort? - fragte Mutter. Ja - sagte die Gräfin. Alle? Alle, macht Ihnen das nichts? Nein - antwortete Mutter und fing an, unsere Sachen aus dem Rucksack zu packen.
     Wir pflanzten Sträucher, Blumen und Obstbäume. Alles wuchs an, die Graue Renette, die Conference-Birne, die Pflaumen, die Stachelbeeren, nur der Kirschbaum wollte keine Früchte tragen. Wohl nicht, weil er über ihnen wuchs. Er stand in einer leichten Senkung, es war eine Unebenheit im Gelände, eine Stelle, an der man gut braun werden konnte, weil die Äste die Sonne nicht verdeckten. Welche vom Amt kamen und fragten - exhumieren? Mutter sagte, nein, diese Leute möchten gewiss lieber im eigenen Garten unter ihren Fenstern ruhen. Von Zeit zu Zeit wurden Möbel umgerückt. Anfangs dachten wir, die Nachbarn über uns würden Lärm machen, und die Nachbarn dachten, wir wären es, und dazu noch mitten in der Nacht. Als sich herausstellte, dass weder sie noch wir es waren, riefen sie einen Priester. Er spritzte Weihwasser und betete. Die Möbel wurden nachts weiter umgerückt, offenbar war Frau Doktor mit irgendetwas unzufrieden. Vielleicht, weil Mutter die Sprossenwand entfernt hatte - ein Relikt der Ballettschule, die Frau Doktor in ihrer Villa geführt hatte.
     Miron Bialoszewski hat ein Gedicht über unser Haus geschrieben - "Nachdeutsche Zoppoter Ballade":
     ? Die Bewohner
     die Nachkriegsbewohner, die polnischen, lebenden ?
     Grübeln bis heute
     Abends
     Über ihre Tragödie
     Und über die Strategie
     Der Reflexe von Leibern und Geistern.
     Licentia poetica. Ich grüble nicht - weder über die Tragödie noch über die Strategie. Ich gehe zur Psychotherapie und wir grübeln alle über dasselbe: Was uns im Alter erwartet. Krankheit? Gebrechlichkeit? Stumpfheit? Alzheimer? Demenz? Und was besser ist - Krematorium oder Sarg? Bei den Kindern oder im Pflegeheim? Wir neigen eher zum Pflegeheim, Hauptsache auf angemessenem Niveau und mit Garten. Unbedingt mit Garten.

                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Neue Kritik
(Copyright Verlag Neue Kritik)


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