Vorgeblättert

Leseprobe zu Harro Zimmermann: Friedrich Sieburg - Ästhet und Provokateur

27.08.2015.
Im Zentrum des feuilletonistischen Zeitalters

In der französischen Kapitale wird Friedrich Sieburg als Korrespondent der "Frankfurter Zeitung" bald eine weithin wahrgenommene, aber von etlichen Zeitgenossen beargwöhnte, nicht selten beneidete Rolle spielen. Die Wohnung des Ehepaares an der Place du Panthéon Nr. 5 ist für nicht wenige Deutsche eine interessante Adresse. Helga Hummerich, die langjährige Sekretärin Benno Reifenbergs, beschreibt die Sieburgsche Wohnung aus eigener Anschauung: "Das Büro der "FZ" lag […] auf der Place du Panthéon Nr. 5, zur Rechten, wenn man die Rue Soufflot hinaus, an dem säulen- und kuppelgeschmückten Bau des Panthéons vorbei sich dem Haus näherte. Links, im Hintergrund, erhob sich zart und zierlich die Kirche St. Etienne du Mont. […] Die "FZ"-Etage hatte seinerzeit Sieburg ausgesucht. Sie entsprach seinem verwöhnten Geschmack, angefangen mit den spiegel- und mosaikverzierten Wänden des Hauseingangs, hin zu der blank polierten Lifttür und den breiten, läuferbespannten Treppenstufen. […] Der Blick aus den großen, tief herabgezogenen Fenstern des Arbeitsraumes im ersten Stock genügte zunächst, um Paris wie in einem Atemzug in sich aufzunehmen. […] Nur wenige Minuten entfernt lagen halb versteckt Sorbonne und Ecole Normale. […] Mit wenigen Schritten war man im Jardin du Luxembourg." Überaus fleißig ist der vornehm residierende Korrespondent Sieburg, von morgens bis abends zwischen Nationalversammlung und Senatsausschüssen hin- und herwechselnd, beobachtend, parlierend und kommentierend, er zeigt sich als versierter Mann der Öffentlichkeit, aber es umgibt ihn und seine Frau Ellinor auch ein Privatleben. So ist er zum Beispiel ein unermüdlicher Leser, der sich insbesondere mit der französischen und der deutschen Historie befasst, aber auch mit der belletristischen Literatur des Kontinents und der Welt, was seine zahlreichen Rezensionen in der "FZ" dokumentieren. Schon sein erstes Buch, "Gott in Frankreich?", sollte ihn als exquisiten Historiker ausweisen.

Erst in jüngster Zeit sind die Pariser Freundschaftsbeziehungen Sieburgs genauer untersucht worden, in denen vor allem Walter Hasenclever und Rudolf Leonhard, Walter Mehring und Kurt Tucholsky eine unterschiedlich wichtige Rolle spielen. Tucholsky ist für die "Weltbühne" zwischen 1925 und 1929 oft und für längere Zeit in Paris tätig, er kennt Sieburg aus Berliner Tagen und ist mit ihm schon 1926 in Paris zusammengekommen. Von Anbeginn prägt diese Freundschaft eine hohe Ambivalenz, wobei Sieburg wohl der vertrauensseligere und hingebungsvollere der beiden gewesen sein dürfte. Die beiden Ehepaare sehen sich zunächst gern und häufig, man macht "obligate" Ausflüge in die Umgebung, treibt allerlei Schabernack miteinander und genießt das Leben. Sieburg sucht unbedingtes Vertrauen bei den Freunden, vor allem bei Tucholsky, und zeigt sich ungewöhnlich verärgert und eifersüchtig, wenn Zweifel an deren Loyalität bestehen. Tucholsky ist distanzierter, er bewundert den Schreiber Sieburg zwar durchaus und vergleicht seine Stilkraft oft mit der eigenen, aber er beneidet ihn auch um seine Position bei der "Frankfurter Zeitung", deren Feuilleton ihm erstklassig erscheint: "Die Frankfurter fordert mich nicht auf, so gut ist Sieburg für mich nicht - er ist ein eminent geschickter Journalist, aber er ist sicherlich viel zu schlau und vorsichtig, um bei mir auch das Leiseste zu schreiben, das ihm schaden könnte."

Niemals wird Tucholsky das lange Zeit erhoffte Angebot der "FZ" erhalten, und es kann ihm nicht gefallen, dass Sieburg für die "Weltbühne" um keinen Preis mehr zu arbeiten gedenkt. Wohl auch deshalb melden sich bei Tucholsky gelegentliche Zweifel an der Schreibpotenz Sieburgs, die ihm dann durchschnittlich, banal und eitel vorkommt, er zünde "Räucherkerzen" für den Leser an. Kritisch sieht er auch immer wieder die Persönlichkeit des Kollegen: "Sieburg will in die Diplomatie, der Oxe", heißt es schon im August 1927. Hat Sieburg ihm derartige Absichten womöglich im Vertrauen eingestanden? Tucholsky scheut sich schon zu dieser Zeit nicht, dem Freund hinterherzuschnüffeln und wegen seiner diversen Frauengeschichten kaum ein gutes Haar an ihm zu lassen. Allein über Sieburgs Berliner Zeit sei ihm etliches zugetragen worden: "Er hat einen sehr schlechten Ruf, Zuhälter, Hochstapler und so. Aber das wird sich ja nun wohl bessern, wo er es nicht mehr nötig hat." Gleichwohl bezeugt noch der Sieburgsche Nachlass in Marbach die rege Freundschaft mit den Tucholskys.

Um wie viel schärfer müssen die Reaktionen auf den Pariser Kollegen erst seit den frühen dreißiger Jahren ausfallen? Jetzt gilt der sanguinische und genussfreudige Sieburg oft als unzuverlässiger und unglaubwürdiger Charakter, wenig später geradezu als Büttel der Nazis. Walter Hasenclever, der Freund aus den zwanziger Jahren, setzt in dem hinterlassenen Roman "Irrtum und Leidenschaft" seinen Helden Sebastian folgendermaßen in Szene: "Ja, dieser Sebastian! Ein Fall für sich. Ein glänzender Geist, schmiegsam, korrumpiert, ein lyrischer Judas mit militärischem Ehrgeiz, bereit, jeden Meineid zu schwören, wenn man einen Millimeter dabei avanciert. Seine etwas zu kurze Nase roch den Wind, noch bevor er aus den verborgensten Körperöffnungen der Machthaber hinausfuhr. Leider kam er jedes Mal eine Sekunde zu spät, um ihn aufzufangen. Das war das Tragische an seinem Leben. Er gehörte zu jenen doppelzüngigen Kreaturen, von denen der verstorbene Tucholsky einmal gesagt hat: "Umsonst geleckt"." Die Fama von Leben und Arbeit des Friedrich Sieburg, nicht zuletzt inspiriert von Joseph Roth, ist spätestens zu Beginn der dreißiger Jahre vollkommen ausgebildet und wird von nun an mit großer, teilweise bösartiger Fabulierlust in den einschlägigen Kreisen weitergetragen.

Was der Emigrant Ernst Erich Noth schreibt, der Sieburg 1933 in Paris kennenlernt, sollte sich in den kommenden Jahren zu einer Art Sinn-zeichen der geistigen Servilität in der deutsch-französischen Kollaboration verdichten. Noth erlebt einen Herrn im seidenen Morgenmantel und in exquisiten Wohnverhältnissen, einen Genießer auf höchstem Niveau, der in der französischen Hauptstadt zur illustren Figur geworden ist und sich eines grenzenlosen gesellschaftlichen Renommees erfreut. Vor seinem Haus steht ein "blendendweißer Sportwagen". Tatsächlich geht Sieburg schon seit Ende der zwanziger Jahre nicht nur in den Höhenregionen von Politik und Diplomatie, sondern im "Tout Paris" ein und aus, er kennt hier wie dort die wichtigen Leute und macht als Charmeur und glänzender Unterhalter, als Salonlöwe und womanizer von sich reden. Es soll in den kommenden Jahren zu einigen, teilweise womöglich riskanten Amouren Sieburgs mit den Frauen hochgestellter Persönlichkeiten gekommen sein. Liegt hierin auch einer der Gründe für seine zwischenzeitliche Abberufung aus Paris im Jahre 1930?

Friedrich Sieburg veröffentlicht sein Buch "Gott in Frankreich?" (1929) inmitten eines nicht nur persönlich, sondern auch politisch und kulturell erregten Klimas. Was bei den Franzosen in der Luft liegt, wittert der Journalist und Autor mit großer Sensibilität. Sein brillantes Werk wird den Zeitnerv auf beiden Seiten des Rheins treffen, es sollte seinen europäischen Ruhm begründen, und ihn tief hineinziehen in die politischen Machinationen des Zeitalters der Extreme. Freilich wird -Sieburg mit seiner weithin wahrgenommenen Einrede in die Debatten der Zeit keineswegs allein stehen, das Thema Frankreich und Deutschland stellt schon seit dem Kriegsinferno von 1871 eine vielstimmige Herausforderung der europäischen Öffentlichkeit dar. Maßgeblich für die Linke ist lange Zeit Heinrich Heines Bild von Frankreich als "Vaterland der Freiheit", in dem Lebenslust, Feinsinn und Erotik blühen und das seinem "Wesen nach republikanisch" sei. Zehn Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs beschwört Maximilian Harden in seiner Zeitschrift "Zukunft" ein Land, das nach wie vor dem Vermächtnis der Revolution verpflichtet ist und in dem ein Mann wie Zola seine geistige Souveränität hat ausleben können. Und Stefan Zweig schreibt noch 1942: "Ach, man musste zuvor Berlin gekannt haben, um Paris recht zu lieben, musste die freiwillige Servilität Deutschlands mit seinem kantigen und schmerzhaft zugeschliffenen Standesbewusstsein erlebt haben! […] In Paris aber ging das Vermächtnis der Revolution noch lebendig im Blute um. […] Jeder fühlte sich an der Seine zu Hause. Es gab keinen Zwang, man konnte sprechen, denken, lachen, schimpfen wie man wollte, jeder lebte, wie es ihm gefiel, gesellig oder allein, verschwenderisch oder sparsam, luxuriös oder bohemehaft, es war für jede Sonderheit Raum und gesorgt für alle Möglichkeiten." Deshalb möchte damals auch Alfred Wolfenstein den "leichten und geschlossenen, noch immer lateinischen Gang von Paris" nicht missen. Und Klaus Mann, der den "Geschmack [und das] Stilgesetz der reifen und raffinierten" Kultur Frankreichs zutiefst verehrt, schwärmt: "Paris ist hochzivilisiert, skeptisch, elegant, ausgeglichen, überhaupt nicht exzentrisch."

Man vermutet, dass vor dem Ersten Weltkrieg etwa einhunderttausend Deutsche für längere Zeit in Paris gelebt haben, dem "großen Zentralkörper" (Walter Benjamin), in diesem hedonistisch-politischen Freiheitsidyll, dem Inbegriff eines geistig wohltemperierten Europa: "Wer hier nicht war, ist nur ein halber Mensch und überhaupt kein Europäer", schreibt Tucholsky. Was der Republikaner Heinrich Mann nur bekräftigen kann, alle Gutgesinnten müssten auf irgendeine Weise in Frankreich geboren sein, im Land von Montaigne, Voltaire und Zola. Und deshalb kommen sie alle nach Paris, so exquisite Köpfe wie Joseph Roth und Arthur Koestler, Alfred Kantorowicz und Ivan Goll, Carl Einstein und Walter Benjamin, Franz Hessel, Walter Mehring, Klaus Mann und Stefan Zweig. Die französische Kultur, der gute Geschmack und die feinsinnigen Verkehrsformen der Franzosen scheinen geradezu identisch mit dem liberalen Geistestemperament Europas. Auch -Sieburg, der den "einzigartigen Liebesblick" Heines (Karl Heinz Bohrer) auf die französische Hauptstadt teilt, sollte noch Jahre später in seiner "Kleinen Geschichte Frankreichs" (1953) schreiben: Paris war der Mittelpunkt einer Welt geworden, die, bewusst oder unbewusst, mit den abendländischen Ideen stand und fiel. Es war verführerischer, brausender und vielstimmiger denn je und zog die Künstler, Spaziergänger, Freiheitsdurstigen, Vergnügungssüchtigen und Verschwender der ganzen Welt an. Die Achtung vor Geist und Bildung, die Frankreich zur zweiten Natur geworden war, erhöhte das Prestige seiner Literatur.

Der Hoffnungshorizont der Linken und Liberalen spiegelt in der Zwischenkriegszeit freilich ein anderes Frankreich, als es die deutschen Konservativen, Nationalisten und Reaktionäre im Sinn haben. Einflussreicher als jene, die in Frankreich noch immer das Vermächtnis der Ideen von 1789, der Republik und der Menschenrechte wirksam sehen, sind die Meinungsträger aus dem Umkreis von Deutschlands Politik, Militär und Wirtschaft. Hier wirkt eine lange Tradition der Verunglimpfung des "Erbfeindes", der "plutokratischen Bourgeoisrepublik" mit ihrem sündigen "Babylon an der Seine" nach. Dass die Franzosen, die erschlaffte Nation aus Rentnern und Bauern, aufgrund ihres allgemeinen Sittenverfalls, ihrer niedrigen Geburtenrate und "jüdischen Überfremdung" im Niedergang begriffen seien, dass sie andererseits ihren Lebenswillen durch aggressive kulturelle Expansionen zur Geltung bringen wollten, ist bis über den Ersten Weltkrieg hinaus ein Topos deutscher Identitätsbestärkung. Noch 1934 sollte Gottfried Benn schreiben: "Frankreich schloss sich in Beton und Wälle ein, prahl-bürgerte hinter der großen Mauer, federfuchste an seinen Klauseln und Verträgen und bewachte, als ein kleinliches Provinzvolk aus Notaren, seinen wunderbaren Antiquitätentrödel: unfähig, rassenmäßig zu denken, biologisch geradezu defekt, dysgenetisch und geistig tankneurotisch vertritt es heute Afrika statt Europa. Die weiße Rasse, das ist Deutschland, Jugend, vergiss es nie, ihre letzte Züchtung, ihr letzter Glaube bist du."

Dennoch entwickeln sich seit Mitte der zwanziger Jahre in Paris auf breiter Grundlage deutsch-französische Kultureinrichtungen, Anfang der dreißiger Jahre zählt man dreiundfünfzig Gründungen, die sich dem Gedankentransfer und der Verständigung zwischen beiden Ländern widmen. Beiderseits des Rheins kann die Frage nach Europa und der deutsch-französischen Verständigung nun sogar zu einem öffentlichen Modethema werden. Dem Republikaner Thomas Mann kommen die Beteiligten am deutsch-französischen Diskurs bei seinem Paris-Besuch von 1926 vor wie eine "Gemeinde von sanften Verschwörern zum Guten", der berühmte Gast aus Deutschland lehnt es ausdrücklich ab, eine prinzipielle Andersartigkeit zwischen den Kulturen anzunehmen: "Weder Deutsche noch Franzosen sollten so töricht sein, sich von der populären Völkerpsychologie irgendeine simpel profilierte Charakterrolle aufschwätzen zu lassen und zu glauben, der eine müsse ewig Vernunft, der andere Dynamik und Chaos mimen. Die Völker werden einander desto besser verstehen, je unvoreingenommener von ihrem Ruf sie ihren menschlichen Reichtum kultivieren."

Allerdings lässt es auch Mann nicht an Vorbehalten gegenüber der "blutleer gewordenen Schematisierung der Aufklärungsideologien des 18. und 19. Jahrhunderts" fehlen und besteht bei der Idee der "Rückgewinnung" des deutschen Demokratiegedankens auf einer Art nationalem "Kosmopolitismus, der die organische Art, das geistige Europa zu denken", bewahrt. An den kulturellen Gemeinsamkeiten beider Länder möge dennoch nicht gezweifelt werden, man müsse einen neuen Weg finden zwischen Nationalismus und Internationalismus. Während der Jahre 1924 bis 1933 "nahm unsere Generation den relativen Frieden als unverhofftes Geschenk. […] Man entdeckte wieder Europa, die Welt", in dieser Zeit habe sich ein Ideenhorizont geöffnet - die "geistige Einigung" des Kontinents, schreibt Stefan Zweig später wehmütig.

Schon der spektakuläre Pariser Auftritt Thomas Manns lässt die unsichere (kultur)politische Konstellation der Locarno-Ära erahnen, und das trotz etlicher Paris-Besuche von deutschen Künstlern und Wissenschaftlern, trotz "geistiger Festwochen" und unzähliger Initiativen in den Bereichen Literatur, Musik und Theater, Film und bildende Kunst und ungeachtet reger Europadebatten etwa zwischen Ernst Robert Curtius, André Gide und dem Autor der "Buddenbrooks". Hier wird etwas versucht, was wenige Jahre später zum Scheitern verurteilt sein sollte, nämlich, wie Curtius 1921 schreibt, eine "kosmopolitische (nicht internationalistische) europäische Gesinnung auf dem Fundament eines unbefangenen und unverzerrten nationalen (nicht nationalistischen) Gefühls" zu finden. Emphatisch diskutiert man damals über den Kontinent als "Kulturgemeinschaft", über Europa als "gesellschaftliche und rationale Idee, es ist die Zukunft, es ist das väterliche Prinzip, es ist Geist", so Thomas Mann. Dem kann sein Sohn Klaus nur zustimmen im "Glauben an die Wünschbarkeit und Notwendigkeit dieser Verständigung. […] Deutschland und Frankreich. Nur auf sie kam es an! Das europäische Problem war gelöst - wir glaubten es, mit Heine -, wenn die zwei großen Völker Europas sich endlich verständigten, endlich einigten." Wie einst Heine glaubt auch Klaus Mann an die "unendliche Zukünftigkeit" dieser Stadt.

Zählebig sind damals aber auch in den deutschen Intellektuellenkreisen die Formeln von der Dekadenz Frankreichs, vom "beginnenden Bankerott der romanischen Rasse" und nicht zuletzt von der drohenden Überfremdung des Kontinents durch die Nation der Jakobiner. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Diktat von Versailles muss sich dieses Unterscheidungs- und Abwehrsyndrom noch verschärfen. Selbst bei einem sensiblen Kopf wie dem Grafen Keyserling wird den Franzosen jeder geistige Führungsanspruch aberkannt, weil das Land einem flachen Rationalismus verschworen, statisch und rückständig sei und an der "psychologischen Unfähigkeit [leide], Neues und Fremdes zu verstehen". Demzufolge hat der Publizist und Kulturbeamte des deutschen Auswärtigen Amtes Otto Grautoff, ein Jugendfreund Thomas Manns, schon 1923 einen gefährlichen Kulturimperialismus französischer Provenienz im Anmarsch gesehen, seine Formulierungen gemahnen an spätere bei Friedrich Sieburg: "Frankreich, das Herz der Welt. Die fremden Länder erscheinen als Anomalien Frankreichs. Chauvinismus, Autorität eines abstrakten Bildungssystems. In Literatur, Kunst und Wissenschaft herrscht das abstrakte Gesetz. Das klassische Zeitalter Frankreichs als Ideal. Abkehr vom deutschen Geist." Für seine eigene Nation reklamiert Grautoff den europäischen Klassizismus, für die der Franzosen die Romantik und damit jene beklagenswerte Tradition von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Aber wichtiger noch ist, dass die kulturmorphologischen Differenzen zwischen den beiden Ländern nun vermehrt als solche der "Seele", einer unaufhebbaren nationalen Wesensungleichheit betrachtet werden. Auf der einen Seite das deutsche "Werden", das "faustische Drängen", das "Auftürmen tragischer Torsi", auf der anderen Seite das französische Gleichmaß, Klarheit und Harmonie, ja der obsolete Universalitätsanspruch des Rationalismus. Verständigungsbeziehungen sind auf diese Weise nicht leicht aufzubauen. Mit dergleichen Bekenntnissen tritt Grautoff nicht nur an die Seite von Publizisten wie Keyserling und Paul Distelbarth, sondern auch an die der Mehrzahl deutscher Romanisten und Volkskundler vom Schlage Victor Klemperers und Ernst Robert Curtius", Eduard Wechsslers, Hermann Platz" und Karl Vosslers. Selbst ein international so geachteter Mann wie Curtius, der zunächst von der Fortschrittlichkeit des jungen französischen Geistes überzeugt ist, weil er in den germanisch-keltischen Ursprüngen des deutschen Romantizismus aufgehoben sei, sollte allmählich zum enttäuschten Skeptiker im deutsch-französischen Diskurs werden. Zunächst möchte Curtius durch die Erforschung der jungen französischen Literatur zur geistigen Erneuerung Deutschlands beitragen, aber gleichzeitig will er den Franzosen immer schon die Segnungen des deutschen Kosmopolitismus nahebringen. Aus dessen Vorzügen von "Mittlertum, Universalität, Unendlichkeit und Toleranz" soll gleichsam ein imperatives Mandat abgeleitet werden für die Gründung eines "organischen" Europa. Wohingegen die "Geistesenge" des alten Frankreich, die "Geschlossenheit" seiner Konventionen und Traditionen in Gesellschaft und Staat ursächlich dafür seien, dass es für ihr Land "keine Idee Europa in unserem Sinne geben kann und niemals geben wird". Denn die erfordere mehr Bereitschaft zur Selbstveränderung, als dem französischen Hegemonialanspruch jemals zumutbar sein könnte: "Zunächst einmal steckt der Traditionalismus den Franzosen tief im Blute. […] Die Größe der französischen Kultur besteht in der sorgsamen Überlieferung fester Formen. […] Das ewig Werdende, ewig Unvollendbare ist immer das geheime Sehnsuchtsziel des deutschen Geistes gewesen. Faustens Streben ist sein großes Symbol. Der französische Geist dagegen sucht das Begrenzte, Geschlossene, regelmäßig Wiederkehrende. […] Die Umwertung aller Werte ist ein tief deutscher und ein tief unfranzösischer Geist."

Auch wenn Curtius zunächst auf eine Neubesinnung beider Länder über Art und Wesen ihrer Nationalcharaktere hofft, weil sie in Europa zutiefst aufeinander verwiesen seien, er wird gegen Ende der zwanziger Jahre die Perspektive einer deutsch-französischen Kultursynthese aufgeben. Das "saturierte, sich chinesenhaft absperrende Land" fordert ihn nun vielmehr heraus, an den Franzosen ex negativo das deutsche Wesen begreifbar werden zu lassen. Im Jahre 1932 erscheint Curtius" Buch "Deutscher Geist in Gefahr", das von unüberbrückbaren Differenzen spricht und davon, dass die Deutschen der Gegenwart für keinerlei französische "Formqualitäten" mehr empfänglich sein können. Stattdessen rekurriert der berühmte Wissenschaftler nun wieder auf den Geist jener "Elite der Frontkämpfer" von 1914/18 und gerät so zumindest in die ideologische Nähe der Nationalsozialisten.

Was für Curtius gilt, trifft auch auf andere deutsche Frankreichforscher zu, ihre Völkertypologien nehmen seit den späten zwanziger Jahren immer stärker den Gestus der Insistenz auf der eigenen völkischen Identität an. Auf verschiedensten Ebenen wird nun die "Verflechtung der nationalen mit christlichen, der politischen mit den religiösen Idealen, Gefühlen und Wallungen" in Frankreich herausgearbeitet, um damit das "Sonderliche, Sphinxartige, ja nicht selten Abstoßende" jener Nationalart zu kennzeichnen. Nicht um seiner selbst willen wird das Romanentum studiert, sondern als demonstrative "Folie", vor der sich deutsche Sprache und Kultur "um so besser abheben". Daraus kann etwa bei dem ("antithetischen") Kulturkundler Eduard Wechssler im Blick auf den "Dauerfranzosen" die Beteuerung einer "im Blut ererbten Volksart" werden. Französische Traditionalität versus deutscher Fortschrittsgeist, Statik und kulturelle Überreife auf der einen, Wagnis, Unrast und Rausch der Selbstveränderung auf der anderen Seite - das wird zu einem Ensemble von Topoi, die am Ende der Locarno-Ära signalisieren, wie leicht aus dem Verständigungsversuch beider Länder ein desillusionierter Schlagabtausch im Horizont der verschleierten Aggressionspolitik Hitlers werden kann. Nur wenige Jahre sollten vergehen, bis ein großer Vermittler wie Friedrich Sieburg dekretiert, jede deutsch-französische Synthese sei grundsätzlich ausgeschlossen, denn unsere Beziehungen zu Frankreich müssen mehr als einmal notwendigerweise den Charakter purer Notwehr annehmen. Kaum anders Ernst Robert Curtius, bei dem 1931 zu lesen ist: "Nach mehr als einem Jahrzehnt der Diskussion über Verständigung ist so gut wie nichts erreicht worden."

Otto Abetz, der Frankreich-Referent unter Ribbentrop im Berliner Außenministerium, wird wenige Jahre später als Botschafter Nazi-Deutschlands die verschiedenen Verständigungsinitiativen jener "Centres", "Cercles", "Clubs" und "Foyers internationaux" zwangsweise zusammenführen. Es wird dann mehrere Institutionen der nationalsozialistischen Auslandskulturpolitik im Umkreis der Pariser Botschaft geben, etwa das "Deutsche Institut", das "Goethe-Haus" und die "Deutsch-Französische Gesellschaft" und ihre Partnerorganisation, das "Comité France-Allemagne" (CFA), die untereinander und im Verhältnis zum Auswärtigen Amt, zum Reichskultur-, Innen- und Propaganda-Ministerium in Rivalität geraten. Auf dem Boden dieses Beziehungsgeflechts sollte allmählich die "intellektuelle Kollaboration" zwischen den deutschen Nationalsozialisten und der französischen Rechten heranreifen. Friedrich Sieburg wird sich in diesen Pariser Gefilden wie ein Fisch im Wasser bewegen.

1 H. Hummerich 1984
2 DLA Marbach. A: Sieburg 74.925, Karte vom 9. 8. 1927 / A: Sieburg 74.925 / 2, Karte vom 19. 8. 1928 / K. Tucholsky 2007 / 2001
3 K. Tucholsky 1966 ff., Bd. 18-20 / E. E. Noth 1971 / K. Deinet 2014 / C. v. Buddenbrock 2007 / H. Hummerich 1984 / G. Gillessen 1986 / S. Liebold 2012
4 K. Mann 1942 / K. H. Bohrer 2007
5 H. M. Bock 2005 / 2010 / S. Zweig 2013
6 K. Mann 1987 / K. H. Bohrer 2007
7 G. Bott 1982 / S. Liebold 2012 / M. Grunewald 1996 / H. M. Bock 1998 / 2005 / 2010 / R. Ray 2000 / F. Fischer 1977 / K. Hildebrand 1977 / J. I. Engels 2007 / T. Lange 1994 / W. Jasper 1994 / E. Michels 1993 / K. Harpprecht 2012 / S. Zweig 2013 / T. Krause 1993 / K. Deinet 2014

Mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags. Informationen zu Buch und Autor hier.