Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Teil 1

23.11.2009.
(Seite 493 ff)


Benjamin und Adorno: eine fruchtbare Freundschaft trotz theoretischer Konflikte

Die theoretischen und erst recht die persönlichen Beziehungen (156) zwischen Benjamin und Adorno haben widersprüchliche und manchmal sachlich kaum fundierte Deutungen erfahren. Zu der lückenhaften Kenntnis der Texte kommen offenkundig polemische Absichten hinzu.(157) Wir können ihr Verhältnis hier nur vor dem Hintergrund einiger entscheidender Momente in der Entwicklung des Benjaminschen Werkes vergegenwärtigen. Eine erschöpfende Darstellung müßte nicht nur ihre Briefwechsel, sondern auch den postumen Dialog berücksichtigen, der lange nach Benjamins Tod die Ausarbeitung der Adornoschen ästhetischen Theorie kennzeichnen sollte. In seiner Rolle als Herausgeber war Adorno um so weniger geneigt, ihre Gegensätze herauszukehren, als sein eigenes Werk einen guten Teil der Benjaminschen Terminologie in sich aufgesogen hatte. Von der Analyse des Kunstwerks im Kapitalismus bis zur Denunziation des Jargons der Eigentlichkeit nimmt es fortwährend darauf Bezug. Mindestens drei Momente lassen sich in ihrem Dialog unterscheiden:

1. die Polemiken der dreißiger Jahre, die sich - vom Expose des
Passagen-Projekts von 1935 bis zur ersten Fassung des Baudelaire-Essays - auf Benjamins Methodik, seine zentralen theoretischen Einsichten und seine Konzeption der dialektischen Vermittlung der gesellschaftlichen Phänomene beziehen;
2. der Versuch, einer politischen Radikalisierung der Problemstellung
Benjamins entgegenzutreten, einer Radikalisierung, die Adorno für übervereinfachend hielt und die er auf den Einfluß Brechts zurückführte;
3. die Aufnahme einer Reihe von Themen und Begriffen in die ästhetische Theorie Adornos, die von Benjamin angeregt worden sind und oftmals einer sekundären Bearbeitung unterzogen werden.

Bald nachdem sie sich kennengelernt hatten, entstand zwischen ihren ästhetischen Anschauungen eine gewisse Osmose, deren Intensität in den dreißiger Jahren am stärksten sein sollte.(158) Sehr rasch machte Benjamin Adorno zum bevorzugten Leser seiner Texte. Dieser war von Benjamins Fähigkeit beeindruckt, aus den winzigsten Dingen metaphysische Konstruktionen zu entwickeln, und verglich ihn mit einem Magier.(159) Diese intellektuelle Resonanz, die sofort zwischen ihnen entstand, war um so bemerkenswerter, als beide sehr unterschiedlicher Herkunft waren.(160)

Der Einfluß Benjamins auf Adorno ist bereits in der ersten philosophischen Arbeit erkennbar, die Adorno publizierte, der von Paul Tillich betreuten und 1931 vorgelegten Habilitationsschrift "Die Konstruktion des Ästhetischen bei Kierkegaard".(161) Darin setzte sich Adorno von den existentiellen oder theologischen Kierkegaard-Deutungen entschieden ab und bemühte sich vielmehr darum, den "mythisch-dämonischen Charakter des Existenzbegriffs bei Kierkegaard" zu klären. Die Kierkegaardschen Beschreibungen bürgerlicher Interieurs - etwa derjenigen im Tagebuch des Verführers - erschienen ihm als historische Ausdrucksformen einer "objektlosen Innerlichkeit", einer auf die Immanenz zurückgeführten Transzendenz, die sich von einer mythischen Hülle nicht lösen kann.(162) Deren Überwindung hoffte er in der Konzeption des ästhetischen Stadiums bei Kierkegaard selbst zu finden. Tillich und Horkheimer waren von dieser "historisch-materialistischen" Behandlung theologischer Themen fasziniert. Methodisch hatte er sich in der Tat weitgehend von Benjamins Essay über die Wahlverwandtschaften und seiner Studie über das Trauerspiel anregen lassen.(163) Während Benjamin sich darüber freute, war Scholem empört und sah in AdornosWerk nur ein ziemlich oberflächliches Buch, das "ein sublimes Plagiat Deines Denkens mit einer ungewöhnlichen Chuzpe" verbinde.(164) Sowohl in seinem Baudelaire-Essay wie in den Passagen wird sich Benjamin auf die Analysen Adornos über die Kierkegaardsche Innerlichkeit beziehen - insbesondere diejenigen, die er im Tagebuch des Verführers den Dingen widmet -, um die Bedeutung des Plüschs, des bürgerlichen Dekors im Second Empire zu verstehen.

Seine Antrittsvorlesung "Die Aktualität der Philosophie" wollte Adorno Benjamin widmen(165), und nicht ohne Stolz schrieb dieser am 26. Juli 1932 an Scholem, "TheodorWiesengrund, Privatdozent", habe im abgelaufenen Semester ein Seminar über sein Trauerspiel-Buch gehalten.166 Und in seinem Vortrag "Die Idee der Naturgeschichte" ( Juli 1932) - einer Polemik gegen Heidegger - beruft sich Adorno ausdrücklich auf Lukacs’ Theorie des Romans und die Studie über das Trauerspiel.(167)

Die Parallelität der theoretischenWege Benjamins und Adornos tritt noch deutlicher hervor, als dieser sein anfängliches Interesse an der Musik auf die Frage nach Status und Funktion des Kunstwerks in der Industriegesellschaft ausdehnte. Die Kritik an der versteinerten Sphäre des Mythischen und der Phantasmagorie, die den Versuch über Wagner kennzeichnet, steht auch im Mittelpunkt des Passagen-Projekts. Der Aufsatz "Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens" (1938) stellt dagegen unbestreitbar eine Kritik an Thesen dar, die Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz entwickelt hatte. Ab 1935 führen ihre latenten Meinungsunterschiede zu theoretischen Diskussionen. Den ersten Anlaß dazu bot Benjamins Essay über Kafka.(168)

Seit Mitte der zwanziger Jahre hatte sich Benjamin für den Prager Schriftsteller interessiert, mit Leidenschaft seine Texte entdeckt und mehrfach den Plan gefaßt, ihm Studien zu widmen. Kafka stand im Zentrum seiner Diskussionen mit Adorno, Brecht, Scholem und Werner Kraft. Aus drei Teilen bestehend(169) - "Potemkin", "Ein Kinderbild", "Das bucklicht Männlein" -, war dieser Essay zunächst ein Versuch, die Welt Kafkas aus ihrer eigenen Logik, aus den ihr zugrunde liegenden theologischen Kategorien zu erhellen. Die Welt der schmutzigen Beamten sei mit einer merkwürdigen Machtfülle versehen. Sie ähnele der des Vaters, der den Sohn bestraft und dessen Leben zerstört. InWeltaltern denkend, stelle Kafka das Gewicht der Schuld des Sohnes im Bild des Prozesses dar. Die Gerechtigkeit, die er angeblich widerfahren läßt, gehöre der Vorwelt, der Sphäre des Mythos, an. Den Angeklagten bleibe keine Hoffnung. Trotzdem, bekräftigt Benjamin, sei Kafka der "Lockung" des Mythos "nicht gefolgt". Er sei vielmehr bemüht, in seinen Erzählungen die Möglichkeit einer Art von Erlösung offenzuhalten: "Ein Pfand der Hoffnung, das wir aus jener kleinen, zugleich unfertigen und alltäglichen [. . .] Mittelwelt haben, in welcher die Gehilfen zu Hause sind."(170)

Während er sich im dritten Teil von den geläufigen theologischen Deutungen absetzt, die die "Oberwelt" mit dem "Sitz der Gnade" identifizieren(171), beharrt Benjamin auf der Bedeutung des Vorweltlichen bei Kafka, das in der Sünde dargestellt sei. Kafka habe keine Antwort gegeben, die die Identität von Prozeß und Urteil zu klären erlaubt. Benjamin betont die Bedeutung der Parabel. Doch Kafka habe das Gefühl gehabt, mit dem Versuch, "die Dichtung in die Lehre zu überführen"(172), gescheitert zu sein; darin liege der Grund für die testamentarische Bestimmung, sein Werk zu vernichten. Seine leeren Helden werden, fern dem geschichtlichen Fortschritt, vom Vergessen beherrscht. Den Kopf tief auf die Brust gesenkt, ähneln sie in ihrer Müdigkeit Buckligen.

Ausgehend von einer träumerischen Betrachtung eines Kinderbildes von Kafka sucht Benjamin in Amerika und im "Naturtheater von Oklahoma" die Erscheinungsform eines Theaters des "Gestischen". Kafkas Werk als ein Universum kodifizierter Gesten verleihe ihnen eine Dimension, die sie einer bloß irdischenWelt entziehe. Diese Zeichengebärden, Gegenstand von "Überlegungen, die kein Ende nehmen"(173), seien bei Kafka ein Spiel von Allegorien, die er zu Parabeln entfalte. Deshalb nähert Benjamin sie der Tradition der Haggada und der Halacha an. Es seien erzählte Geschichten, die einer Erläuterung harren. Die Kunst Kafkas bestehe darin, diese Erläuterung niemals zu geben, höchstens sie manchmal anzudeuten. Ständig kehre er zur Welt der Menschen mit ihren bürokratisch-hierarchischen Formen zurück, die die Gestalt des Schicksals annehmen. Er untergrabe die Exegese seines eigenen Textes, führe jeden zum Theater des gewöhnlichen Lebens zurück. Doch dieses Gewöhnliche erhelle sich auch von religiösen, sogar säkularisierten Kategorien aus und im Herzen der Kafkaschen Welt blieben talmudische Elemente bewahrt.

In seinem Brief an Benjamin vom 16. Dezember 1934 hob Adorno den "ganz außerordentlichen Eindruck" hervor, den die Lektüre des Kafka-Essays bei ihm hinterlassen habe. Nie sei ihm ihre "Übereinstimmung im philosophischen Zentrum" deutlicher geworden.(174) In einem tags darauf geschriebenen Brief(175) unterstreicht Adorno noch einmal die Konvergenz ihrer Auffassungen. Die Deutung der theologischen Kategorien bei Kafka traf sich mit derjenigen, die er selbst bei Kierkegaard versucht hatte. Gleichwohl hält er das Verhältnis zwischen dem Vorweltlichen, dem Archaischen, dem Mythos und dem Modernen für nicht hinreichend geklärt. Die Antithese zwischen Zeitalter undWeltalter müsse dialektisch vermittelt werden. Er mißtraute auch der Hereinnahme von Kategorien des epischen Theaters und einiger Rekurse auf Brecht(176), die ihm "materialfremd" schienen. Dagegen betonte er Kafkas Nähe zum Stummfilm.

In seiner Antwort(177) räumte Benjamin die Richtigkeit der Kritik Adornos an der "mangelnde[n] Bewältigung des Archaischen" ein, an der fehlenden dialektischen Vermittlung der Beziehung zwischen denWeltaltern und dem Vergessen sowie die Notwendigkeit, alle diese Themen zu vertiefen. Die Briefe, die sie bis Mitte der dreißiger Jahre wechselten, bezeugen eine wirkliche theoretische Übereinstimmung und wechselseitige Bewunderung.(178)

Das Expose des Passagen-Projekts, das Benjamin auf die Bitte Friedrich Pollocks verfaßte, war der erste bedeutende Niederschlag dessen, was "Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" werden sollte, doch es wurde auch Anlaß sehr lebhafter Diskussionen mit Adorno über Benjamins höchst eigene Methodologie. Aus sechs Teilen bestehend - "Fourier oder die Passagen", "Daguerre oder die Panoramen", "Grandville oder die Weltausstellungen", "Louis-Philippe oder das Interieur", "Baudelaire oder die Straßen von Paris", "Haussmann oder die Barrikaden" -, war dieser Entwurf gleichzeitig ein Themeninventar und die Präsentation der Begriffe oder Kategorien, die die ihm zugrunde liegende Erkenntnistheorie bilden.

Benjamin erinnert zunächst an die Entstehung der Pariser Passagen nach 1822, an ihre Rolle als "Zentrum des Handels in Luxuswaren" und als Ort der Flanerie, an ihre Funktion des Schaufensters. Mit ihrer systematischen Verwendung von Glas und Stahl erscheinen sie ihm als das erstaunlichste Symbol der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Bemerkung Michelets - "Jede Epoche träumt die ihr folgende" - führt die Idee des "dialektischen Bildes" ein, Schöpfungen des kollektiven Bewußtseins, "in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt".(179) In solchen Wunschbildern, Traumbildern suchten diejenigen, die sie prägten, "die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären".(180) Im dialektischen Bild erweist sich derWunsch, sich vom Veralteten abzusetzen, der Kult des Neuen, doch liegen auch utopische Hoffnungen in ihm, Elemente der "Urgeschichte", die sowohl im Leben wie in der Architektur ihre Spur hinterlassen. Benjamin fand sie bei Fourier wieder, dessen Phalanstere von der Architektur der Passagen inspiriert scheint.

Diese tiefgreifende Entwicklung der französischen Gesellschaft und ihrer Wahrnehmung blieb nicht ohne Auswirkung auf die ästhetische Sphäre. Die Architektur entwächst der Kunst, und die Malerei sieht sich der Erfindung der Panoramen gegenüber, perfekten Nachahmungen der Natur, in denen sich der Film ankündigt. Vor den Augen des Betrachters wird die Stadt zur Landschaft, so wie sie es für den Flaneur sein wird. Benjamin erinnert auch an den Niedergang des Berufs des Porträtminiaturisten seit dem Erfolg der Photographie, die auf der Weltausstellung von 1855 ihre Weihen erhält. Auf diesen "Weltausstellungen" findet derWarenkult - die Verklärung des "Fetischs Ware" - seinen Höhepunkt. Die Phantasmagorien, die sie hervorrufen, dienen als echte Zerstreuung, die es dem Menschen gestattet, "seine Entfremdung [zu genießen]".(181) Zum Kultus der Ware, seinem Ritual, gesellt sich die Mode: Beide ermöglichen es Paris, als Kapitale des Luxus aufzutrumpfen.

Unter Louis-Philippe betritt der Privatmann die Bühne der Geschichte. Sein Interieur tritt in Gegensatz zur Arbeitsstätte. Die Bedeutung, die der Privatsphäre beigemessen wird, erzeugt neue Phantasmagorien: Sie stellt das Universum dar. Jeder möchte im kollektiven Raum seinen intimen wiederfinden. Daher die Bedeutung der Ornamentierung, die im Jugendstil gipfelt, der letzten Revolte gegen die Technik, deren Formen er für die Kunst zu vereinnahmen sucht. Ausgehend von diesem Kult des Interieurs versucht Benjamin das Auftreten der Figur des Sammlers oder die Entstehung des Kriminalromans zu verstehen. Das allegorische Ingenium Baudelaires, seine Melancholie, erlaubten es ihm, Paris in einen Gegenstand der Lyrik zu verwandeln. Mit ihm zeigt sich der Blick des Flaneurs, der an der Schwelle der Großstadt und der Bürgerklasse steht. Benjamin skizziert die Verbindungen Baudelaires zur Boheme und zur Welt der "Berufsverschwörer". SeinWerk ist vom "rebellischen Pathos" nicht zu trennen. Benjamin schildert, wie sich die Bilder der Frau, des Todes und der Stadt Paris beim Autor der Fleurs du mal durchdringen; er betont dessen Verhaftetsein mit den "chthonischen" Elementen der Stadt und mit der Moderne, die als Spleen erscheint. Die Zweideutigkeit der sozialen und politischen Ereignisse der Zeit findet Benjamin in der "bildliche[n] Erscheinung der Dialektik", dem "Gesetz der Dialektik im Stillstand".(182)

Das "dialektische Bild" als Traumbild erhebt dieWare in den Rang eines Fetischs. Ein solches Bild stellen die Passagen dar oder die Prostituierte, "die Verkäuferin und Ware in einem ist".(183) Die Ware symbolisiert den entfesselten Kult des Neuen, der über die vom kollektiven Unbewußten hervorgebrachten Bilder herrscht. Sie ist die Hauptquelle der Phantasmagorie. Benjamin zeigt, wie die Figuren des Snobs und des Dandys eng mit dieser Herrschaft des "Immergleichen" verknüpft sind, wie die Welt der Phantasmagorie über die Raumvorstellung des Flaneurs ebenso wie über die Zeitvorstellung des Spielers herrscht.Was die urbanistischen Leistungen, die "strategischen Verschönerungen" des Präfekten Haussmann angeht, so stützen sie die Apotheose des Bürgertums. An die Peripherie verdrängt, sahen die Arbeiter die Stadt von nun an mit fremden Augen. Diese Maßnahmen konnten die Commune und die Barrikaden nicht verhindern; sie machte "mit der Phantasmagorie ein Ende, die die Frühzeit des Proletariats beherrscht "(184) - nämlich "Hand in Hand mit der Bourgeoisie das Werk von 1789 zu vollenden" -, und zeigte, daß der Klassenkampf immer noch lebendig war. In dieserWelt, in der alles zur Ware geworden ist, sind die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen "Rückstände einer Traumwelt": "Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens." Es muß ein "geschichtliche[s] Aufwachen" ermöglichen.(185)

In seinem Brief vom 2. August 1935 erkannte Adorno an, das Expose sei "der wichtigsten Konzeptionen voll". Gleichwohl formulierte er zu Benjamins Ausführungen über die "Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts", über das "dialektische Bild" und die "Konfiguration von Mythos und Moderne" mehrere grundsätzliche Kritiken, die jene viel härter formulierten vorwegnehmen, die er gegen den "Baudelaire" richten wird. Die den Passagen zugrunde liegende Erkenntnistheorie schien ihm vom Material zu sehr getrennt. Ein echter dialektischer Zugang hätte diesen Gegensatz zu überwinden. Wenig empfänglich zeigte er sich für das Motto von Michelet; die Konzeption des dialektischen Bildes, wie Benjamin sie vorführe, impliziere dreierlei: Sie bestimme es erstens als - wenn auch kollektiven - Bewußtseinsinhalt, beziehe sich zweitens geradlinig, fast entwicklungsgeschichtlich auf Zukunft als Utopie und fasse drittens eine Epoche als einheitliches Subjekt jenes Bewußtseinsinhalts auf.186 Solche Bestimmungen entbehrten der begrifflichen Strenge und simplifizierten ihren Wahrheitsgehalt.

Diese Kritik des dialektischen Bildes liefert, hält man sich die späteren Polemiken vor Augen, den Schlüssel zu ihren Meinungsverschiedenheiten. Adorno war sich völlig darüber im klaren, daß Benjamin seinen Essay bewußt in einen theologischen Horizont stellte(187) und aus den Ruinen des neunzehnten Jahrhunderts einen bestimmten Typus historischer Erfahrung, ihre Bedeutung als Traum, retten wollte. Doch mit seinemWillen, die gesellschaftliche Entwicklung aus einzelnen Tatsachen zu rekonstruieren, schien ihm Benjamin zu scheitern. Die Argumentation Adornos ist oft triftig. Der "ontologische" Status des dialektischen Bildes und die Frage, welchem Subjekt es zugehört, sind nicht eindeutig geklärt. Insofern sich in ihm Altes und Neues verschränken, insofern es mit der Ware und ihrer Phantasmagorie untrennbar verbunden ist, insofern es von einer entfremdeten Gesellschaft hervorgebracht wurde, die freilich auch von einem anderen Leben und einer anderen Freiheit träumt, findet das dialektische Bild sein Emblem im Janusgesicht: Während die eine Seite auf die Gegenwart als Erfüllung eines vergangenen Traumes blickt, ist die andere von der Utopie überstrahlt und auf die Zukunft gerichtet. Dergestalt ist es ein Produkt der Verdinglichung und ihre Sublimierung zugleich, nämlich als Wunsch, sie durch die Vereinigung utopisch-fortschrittlicher Elemente und archaischer Träume aufzuheben.(188) Als wahrhafter Kristallisationspunkt widersprüchlicher Elemente verbinden sich in diesem Bild Materielles und Spirituelles, die Ware und ihre Allegorie. Entstanden aus dem naiven Staunen über die Triumphe des Kapitalismus, enthält es zugleich die Hoffnung auf dessen Überwindung. Natürlich läßt sich schwer sagen, auf welcher Bewußtseinsebene genau es angesiedelt ist - Staunen, Wachtraum, Wunsch, Utopie oder Illusion -, zumindest wenn man die langen Begriffsketten des Blochschen Prinzips Hoffnung verfolgt. Als Merkmal einer Epoche - des neunzehnten Jahrhunderts - vereinigt es Vergangenheit und Zukunft, individuellen Wunsch und kollektives Unbewußtes. Adorno, der sehr darauf bedacht war, daß Benjamin die ihm eigene Konzeption des historischen Bildes mit größter Strenge ausarbeitete, mißtraute dem Rückgriff auf Psychologie und warf ihm vor, er verlege "das dialektische Bild als ›Traum‹ ins Bewußtsein".(189) Damit schien ihm der Begriff nicht nur entzaubert und banal, sondern zugleich jeglichen materialistischen Charakter zu verlieren.(190) "Der Fetischcharakter derWare", wendet er ein, "ist keine Tatsache des Bewußtseins sondern dialektisch in dem eminenten Sinne, daß er Bewußtsein produziert"(191) . . . was Benjamin freilich nie geleugnet hat. Zum Verhältnis von dialektischem Bild und Traum führt Adorno einen entscheidenden Kritikpunkt an:Wenn das dialektische Bild der "Auffassungsweise des Fetischcharakters im Kollektivbewußtsein" entspricht, so mag sich darin "zwar die Saint-Simonistische Konzeption derWarenwelt als Utopie, nicht aber deren Kehrseite enthüllen, nämlich das dialektische Bild des neunzehnten Jahrhunderts als Hölle".(192) So bleibt vom Beispiel der Prostituierten, das Benjamin anführt - "Verkäuferin und Ware in einem"(193) -, im dialektischen Bild tatsächlich nur noch das Symbol von Luxus und Schönheit, nicht mehr das Ausbeutungssystem, das die Prostitution ermöglicht. Die Verknüpfung der beiden Seiten des dialektischen Bildes bleibt problematisch. Die späteren Ausarbeitungen der Passagen, etwa der Essay über Baudelaire, scheinen auf diesen Einwand zu reagieren.(194) Adorno lehnt jede Fundierung des dialektischen Bildes in der Bewußtseinsimmanenz des neunzehnten Jahrhunderts ab. Die Immanenz als solche, als "Interieur", gilt ihm als Phänomen der Entfremdung.(195) Ebenso warf er Benjamin vor, ein undialektisches Verhältnis zwischen Altem und Neuem, Archaischem und Modernem zu konstruieren. Wenngleich Benjamin sich darüber im klaren war, daß die Utopisten des neunzehnten Jahrhunderts - Fourier, Saint-Simon - die Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft benutzten, um archaische Träume einer klassenlosen Gesellschaft wiederzubeleben, sprach er diesen einen gewissen positiven Wert zu. Adorno, pessimistischer, lehnte solche archaischen Bilder als "Höllenphantasmagorien" ab.(196) Er verhehlte denn auch nicht seine Befürchtung, daß diese "Psychologisierung" des dialektischen Bildes der bürgerlichen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts auf den Leim gehen werde: Auch im Traum spiegele sich nichts als die industrielle Entfremdung. Am Begriff eines kollektiven Unbewußten fürchtete Adorno seine Nähe zu Jung und bestritt dem Begriff des "Kollektivbewußtseins", das selbst erst dialektisiert werden müsse(197), jede strenge Begründung. Hinter den Kritiken Adornos zeichnet sich fortwährend seine Befürchtung ab, Benjamin könne, zwischen einer theologischen und einer materialistischen Perspektive zögernd, schließlich beide opfern.(198)

In seiner Antwort vom 16. August 1935 bezeichnete Benjamin das Schreiben Adornos als "großen und denkwürdigen Brief", beurteilte seine Einwände als äußerst fruchtbar und beschwor noch einmal den "engsten Zusammenhang" zwischen ihnen beiden. Während er die Kritik an der vorgesehenen Kapitelaufteilung akzeptierte, unterstrich er, das "Expose" bedeute keineswegs die Aufgabe des ursprünglichen Vorhabens.(199) Benjamin antwortete nicht eigentlich auf die Kritikpunkte Adornos, außer in der Frage des dialektischen Bildes: [. . .] deute ich zweierlei an, wie zutreffend mir W’s(200) Bestimmung des dialektischen Bildes als "Konstellation" erscheint - und wie unveräußerlich mir gleichwohl gewisse Elemente dieser Konstellation erscheinen, auf die ich hinwies: nämlich die Traumgestalten. Das dialektische Bild malt den Traum nicht nach - das zu behaupten lag niemals in meiner Absicht.Wohl aber scheint es mir, die Instanzen, die Einbruchsstellen des Erwachens zu enthalten, ja aus diesen Stellen seine Figur wie ein Sternbild aus den leuchtenden Punkten
erst herzustellen. Auch hier also will noch ein Bogen gespannt, eine Dialektik bezwungen werden: die zwischen Bild und Erwachen.(201)

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(155) GB VI, S.476. Briefwechsel 1928-1940 zwischen
Adorno und Benjamin endet [ebenso wie GB VI, S.483] mit der am Vorabend seines Selbstmords in Port-Bou geschriebenen Notiz in französischer Sprache an Henny Gurland und Adorno.>
(156) Anders als im Verhältnis zu Bloch waren ihre Beziehungen nicht von ambivalenten Gefühlen getrübt. Ihre Gegensätze und Konflikte liegen wesentlich auf theoretischer Ebene.
(157) Das Verhältnis Benjamins zu Adorno steht im Zentrum jeder kritischen Rezeption seines Werkes. Den radikalsten Versuch, sie in Gegensatz zueinander zu bringen, unternahm die Zeitschrift alternative (Nr. 56/57, Oktober-Dezember 1967), die die intellektuelle Redlichkeit Adornos als Herausgeber und Nachlaßverwalter Benjamins in Frage stellte. Ihm wurde vorgeworfen, er kaschiere ihre Differenzen und spiele in seinen Darstellungen ihre Gegensätze herunter. Der erste Tadel mag ungerechtfertigt sein - der zweite ist es weniger. Helmut Heißenbüttel ("Vom Zeugnis des Fortlebens in Briefen", in: Merkur, Nr.228, März 1967) klagte den Frankfurter Theoretiker der "Manipulation" an, weil er nicht bereit sei, die Schriften der "theologischen Periode" Benjamins von denen der "materialistischen Periode" zu trennen. In diesem Punkt hatte Adorno recht, und sein Verständnis Benjamins war genauer und tiefer als das seiner Kontrahenten. Im Zuge der Polemik wurde Adorno auch vorgehalten, er wolle den entscheidenden Einfluß Brechts verschweigen: In der zweibändigen Ausgabe der Schriften Benjamins von 1955 erscheine dessen Name nur ein einziges Mal. Die Benjamin-Archive waren damals noch nicht erschlossen und teils unzugänglich. So rechtfertigten die Adorno-Kritiker ihre Angriffe mit Dokumenten, die im Zentralarchiv der DDR in Potsdam aufbewahrt wurden. Diese überzogenen, freilich nicht immer unbegründeten Attacken provozierten eine Antwort der Herausgeber und Adornos selbst (TheodorW. Adorno, "Interimsbescheid " in: Frankfurter Rundschau vom 6. März 1968, GS 20.1, S. 182-186, und Rolf Tiedemann, "Zur ›Beschlagnahme‹ Walter Benjamins oder Wie man mit der Philologie Schlitten fährt", in: Das Argument, Nr.46, Jg.10, März 1968). Ein zweites Heft der alternative (Nr. 59/60, April-Juni 1968) wiederholte die Vorwürfe. Die Herausgeberin Hildegard Brenner zog eine erste Bilanz der Auseinandersetzungen zwischen Benjamin und Adorno und veröffentlichte neue Dokumente über die Änderungen, die das Institut an den Texten Benjamins vorgenommen hatte (am Kunstwerk-Aufsatz und an dem Essay über Fuchs). Einen objektiven Bericht über diese Kontroversen gab Pierre Missac ("Du nouveau sur Walter Benjamin?", in: Critique, Nr. 267/268, August-September 1969). Nach seinem Urteil waren die Angriffe der "Berliner" überzogen und die Reaktionen der "Frankfurter" ungeschickt.
Neuere Veröffentlichungen haben damit begonnen, zu einzelnen
kontroversen Punkten unendlich nuancierte Darstellungen zu liefern: Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950; Marc Jimenez, Vers une esthetique negative. Adorno et la modernite, besonders S. 141ff.; und Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, S.217ff. Die Adornosche Deutung von Benjamins Bekenntnis zum Marxismus war Gegenstand mehrerer Untersuchungen: Christoph Hering, Der Intellektuelle als Revolutionär; Klaus Garber, Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin.
(158) "Sucht man in den Schriften und Briefen der dreißiger Jahre nach dem schwachen Anzeichen dafür, daß ein bestimmtes Thema des einen vor der Konzeption des anderen entwickelt worden ist, so ist die Gefahr groß, daß sich die Spuren im Unendlichen verlieren", heißt es bei Marc Jimenez (Vers une esthetique negative, S. 141).
(159) [Adorno, "Einleitung zu Benjamins ›Schriften‹, GS 11, S.568.]
(160) Adorno war Sohn eines jüdisch-deutschen Kaufmanns, der zum Protestantismus übergetreten war; seine Mutter, eine Opernsängerin, war katholisch und korsischer Herkunft. Als Schüler "Wunderkind", studierte er bereits mit siebzehn Jahren in Frankfurt Philosophie, aber auch Musikwissenschaft, Psychologie und Soziologie. Mit sechzehn begann er Kompositionsstudien. Seine geistige Bildung verdankt vieles dem siebzehn Jahre älteren Siegfried Kracauer, der gegen Ende des Ersten Weltkriegs sein Mentor in Philosophie wurde. Unter seinem Einfluß las er Kant. Später wurde er von der Lektüre der Theorie des Romans von Lukacs und von Blochs Geist der Utopie geprägt. Nach seiner Doktorarbeit, die er 1924 der Transzendenz des
Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie
[GS 1, S.7-77] widmete, wandte er sich der Musikkritik und Musikästhetik zu. Unter dem Eindruck der Entdeckung Alban Bergs ging er 1925 nach Wien und wurde dessen Schüler.
(161) Erinnern wir daran, daß Adorno bei seiner Habilitation fast auf die gleichen Schwierigkeiten gestoßen wäre wie Benjamin, obgleich seine Arbeit über Husserl ["Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre", GS 1 S.79-322] getreulich der "Philosophie" von Cornelius folgte, dessen Assistent er zu werden hoffte. Die Arbeit über Kierkegaard, mit der er dann habilitiert wurde und die 1933 unter dem leicht modifizierten Titel Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen [GS 2] erschien, war Kracauer gewidmet.
(162) .
(163) Vgl. insbesondere die Untersuchung der "Barockmotive" bei Kierkegaard oder die Passagen über die Allegorie. In seiner Rezension des Adornoschen Buches in der Vossischen Zeitung ("Kierkegaard. Das Ende des philosophischen Idealismus", GS III, S. 380-383) hebt Benjamin die Bedeutung dieser Themen hervor. Die Analogien zwischen den philosophischen Vorgehensweisen Adornos und Benjamins sind offenkundig Kierkegaard. Construction de l’esthetique>. Es handelt sich um einen recht ähnlichen Versuch einer materialistischen Klärung theologischer Themen, der Konfrontation mit dem mythischen Element. Die schönen Analysen, die der "Innerlichkeit" und dem "Interieur" gewidmet sind, verwandeln die alltäglichen Gegenstände in wahrhaft "dialektische Bilder". Die Betrachtung dieser Welt der Dinge in ihrem Gegensatz zur Geschichte erinnert von ferne an die Ausführungen Benjamins über die Rolle der Intrige und der Höflinge im barocken Trauerspiel und die Entwicklung des Helden zur Figur der Marionette.
(164) Brief Scholems an Benjamin vom 24. Oktober 1933, in: Benjamin/Scholem, Briefwechsel 1933-1940, S. 109.
(165) Auch die Vorlesung Adornos ist weitgehend von der "Vorrede" zum Trauerspiel-Buch inspiriert. Statt sich jedoch auf die Platonische Ideenlehre zu beziehen, stellt Adorno die wissenschaftliche und materialistische Seite heraus. Der Vortrag blieb unveröffentlicht .
(166) GB IV, S.113. In einem anderen Brief an Scholem vom 15. Januar 1933 präzisierte er allerdings, daß Adorno dies im Vorlesungsverzeichnis nicht kenntlich gemacht habe (ebd., S. 157).
(167) Mit der Einführung einer geschichtlichen Dimension in den Begriff der Natur verwarf er zugleich den Positivismus und die Heideggersche Geschichtlichkeit. Der von Lukacs in der Theorie des Romans beschworenen spontanen Totalität des Seins stellte er die Bedeutung des Fragments und des Ephemeren bei Benjamin gegenüber. Adorno verwendet die von Benjamin in dem Essay über Goethe und in seiner Dissertation über die romantische Kunstkritik entwickelten Begriffe (Konfrontation mit dem Mythos, Wahrheitsgehalt usw.) S.345-365>.
(168) "Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages", Teilabdruck ["Potemkin" und "Das bucklicht Männlein"] in der Jüdischen Rundschau vom 21. und 28. Dezember 1934; GS II.2, S.409-438.
(169)
(170) <"Potemkin", ebd., S. 416>.
(171) <"Das bucklicht Männlein", ebd., S. 426.>
(172) [Ebd., S.427.]
(173) <"Ein Kinderbild", ebd., S. 420.>
(174) Briefwechsel 1928-1940, S.89.>
(175)
(176) Anspielung auf Lao-tse, Berufung auf den epischen Stil, Verbindung mit der Legende des Großinquisitors bei Dostojewski.
(177) Brief an Adorno vom 7. Januar 1935, GB V, S. 12-15.
(178) Vgl. den Brief Benjamins vom 3. September 1932 (GB IV, S.126-129) ber die "Naturgeschichte des Theaters" (wieder in: Theodor W. Adorno, Quasi una fantasia, GS 16, S. 309-320). Im [ungedruckten, nicht erhaltenen] Schlußstück der Sammlung, das im Manuskript Benjamin gewidmet war, nimmt Adorno Bezug auf das Trauerspiel-Buch.
(179) "Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts", GS V.1, S. 46.
(180) Ebd., S.46 f.
(181)
(182) Ebd., S. 55.
(183)
(184)
(185)
(186) Brief Adornos an Benjamin vom 2. August 1935, in: Adorno/Benjamin, Briefwechsel 1928-1940, S. 139.
(187) Adorno lehnte dies keineswegs ab und ermutigte ihn eher zu dieser materialistischen Behandlung theologischer Inhalte, die er selbst bei Kierkegaard versucht hatte.Was er hingegen fürchtete, waren "die Einwände jenes Brechtischen Atheismus", den er für allzu vereinfachend hielt, und sein Revolutionspathos . Für die Konfrontation der marxistischen Theorie mit den von Benjamin herausgearbeiteten theologischen Gehalten erschien ihm das Ästhetische als geeignetesForschungsgebiet. Um so faszinierter waren Adorno wie auch Horkheimer - aus der Perspektive ihrer eigenen Untersuchungen - von der Bedeutung des historischen Bildes als Ausdrucksform der Ware. Die Arbeit Benjamins stellte eine besonders willkommene Illustration ihrer eigenen Arbeiten dar. Die theologischen Gehalte standen für Adorno und vor allem für Horkheimer in direkter Beziehung mit der vom "Warenfetischismus" "entstellten" Welt.
(188) Man denke an die Bedeutung der Kindheit, des Urkommunismus bei Fourier.
(189) Brief an Benjamin vom 2. August 1935, ebd., S. 139.
(190) So wie Benjamin es in den Notizen zu den Passagen definiert, ist das dialektische Bild von einem bestimmten materiellen Zivilisationsstand - den Möglichkeiten und dem Luxus, die der Kapitalismus hervorbringt - ebensowenig zu trennen wie von dem Freiheitsraum und der Utopie, die sie erahnen - lassen. Der Reichtum der Benjaminschen Konzeption hängt gerade mit den Widersprüchen zusammen, die dem dialektischen Bild innewohnen, insofern es zugleich realistisch wegen seiner Verwurzelung in den Dingen, irreal durch seine Traumdimension, reaktionär, insofern es an der Verdinglichung teilhat, und fortschrittlich dank seiner utopischen Fermente ist. Benjamin steht in diesem Punkt Bloch näher, der den Träumen des Unterdrückten wie denen der Bourgeoisie eine objektive Existenz zuerkennt. Adorno scheint an der Möglichkeit eines materialistischen Zugangs zu den kollektiven Bewußtseinstatsachen zu zweifeln.
(191) Ebd.
(192)
(193) "Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts", GS V.1, S.55.
(194) Man könnte diesen Begriff des dialektischen Bildes von der Marxschen Aussage im Kapital her rechtfertigen: Die "Kategorien der bürgerlichen Ökonomie [. . .] sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion" (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis", MEW Bd. 23, S.90). Gewiß privilegiert Benjamin den onirischen und utopischen Aspekt des dialektischen Bildes, doch zeigt er auch dessen Brüchigkeit. In den Notizen zu den Passagen stehen den Warentempeln die Ruinen, dem Paris Haussmanns das Paris der Commune gegenüber, und die Hölle besteht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die den Kult des Neuen kennzeichnet. Die Prostituierte wird bei Baudelaire mit dem Tod und der Genuß mit dem Spleen verknüpft. Blanqui wird es Benjamin gestatten, dieser Vision des neunzehnten Jahrhunderts als Hölle eine politische Begründung zu geben.
(195) Man entdeckt hier die Zentralthese seines Kierkegaard-Buches wieder.
(196) Vgl. ebd., S. 141: Denn "die Kategorie unter welcher die Archaik in der Moderne aufgeht", scheint ihm "weit weniger das goldene Zeitalter als die Katastrophe".
(197) "Das Kollektivbewußtsein wurde nur erfunden um von der wahren Objektivität und ihrem Korrelat, nämlich der entfremdeten Subjektivität abzulenken" (ebd., S.141 f.); "so führt die Entzauberung des dialektischen Bildes geradeswegs in ungebrochen mythisches Denken und wie dort Jung so meldet hier Klages als Gefahr sich an" (ebd., S.142).
(198) "Eine Restitution der Theologie oder lieber eine Radikalisierung der Dialektik bis in den theologischen Glutkern hinein müßte zugleich eine äußerste Schärfung des gesellschaftlich-dialektischen, ja des ökonomischen Motives bedeuten."
(199) "Diese beiden Entwürfe haben ein polares Verhältnis." Brief an Gretel Karplus und Theodor Wiesengrund-Adorno vom 16. August 1935, GB V, S. 143.
(200)
(201) Ebd., S. 144f.


Teil 2