Vorgeblättert

Leseprobe zu Leila Guerriero: Strange Fruit. Teil 2

14.04.2014.
Die Argentinische Arbeitsgruppe für Forensische Medizin hat ihre Büros in zwei identisch geschnittenen Wohnungen, im ersten und zweiten Stock eines alten Gebäudes im französischen Stil im Stadtteil Once. Vor der Tür fliegende Händler, Autos, Busse, Fußgänger: die Geräuschkulisse einer Stadt an einer ihrer belebtesten Stellen. Im zweiten Stock steht kein Name an der Tür. Im ersten schon, und er lautet Labor. Ansonsten haben beide die gleiche Anzahl an Zimmern, die gleichen Toiletten, die gleiche Küche im hinteren Teil der Wohnung, und nirgendwo ist etwas Persönliches zu finden. Die Möbel sind neu oder alt, klein oder groß, aus erlesenen Hölzern oder aus Resopal. Ein einziges Bild an der Wand, ein Poster des Metropolitan Museum, aber das sind Dinge, die hier nur Zeit rauben: Dinge, die man schon gar nicht mehr sieht. Es hängen da Tafeln und Pinnwände mit Visitenkarten von Bringdiensten und Postkarten, die tanzende Skelette zeigen: die lateinamerikanischen Totenfeste. Auf einer Fensterbank stehen zwei kleine Kakteen, an den Wänden hängen zuhauf Pläne und Karten. Auf einigen, aber nicht allen, sind Markierungen. Einige dieser Markierungen, aber nicht alle, kennzeichnen die geheimen Gefängnis- und Folterzentren: die Orte, wo das verübt wurde, was hier erforscht wird.
     Luis Fondebriders Büro befindet sich im zweiten Stock. Er, Mercedes Doretti und Patricia Bernardi sind die Einzigen, die schon der Gründungsgruppe angehört hatten: Douglas Cairns half nur anfangs bei ein paar Exhumierungen; Morris Tidball Binz ging 1990 zum Roten Kreuz und lebt seither in Genf. Ende der Neunziger kamen andere dazu - Miguel Nievas, Sofía Egaña, Mercedes Salado -, und lange Zeit waren sie nur zu zwölft. Aber zu Beginn des neuen Jahrhunderts wurden mit der plötzlichen Möglichkeit von DNA-Analysen viele Einstellungen zwingend, und jetzt sind es 37 Mitarbeiter. In all den Jahren kam das Team in mehr als dreißig Ländern zum Einsatz, beauftragt vom Internationalen Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien; vom Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen; von den Wahrheitskommissionen der Philippinen, Perus, El Salvadors und Südafrikas; von Staatsanwaltschaften in Äthio­pien, Mexiko, Kolumbien, Südafrika und Rumänien; vom ­Internationalen Komitee des Roten Kreuzes; von der Präsidentenkommission für die Suche nach den Überresten Che Guevaras sowie der bikommunalen Kommission für die de­saparecidos von Chipre.
     "Das ganze Gehalt, das wir für diese internationalen Missionen beziehen, geht in einen Gemeinschaftsfonds", meint Luis Fondebrider. "Für das, was wir tun, nehmen wir von den Angehörigen nichts. Wir bestehen dank der Finanzierung durch zwanzig private europäische und nordamerikanische Stifter und einige europäische Regierungen. Von argentinischer Seite fördern uns weder private Stifter noch Non-Profit-Organisationen. Die Non-Profit-Organisationen hier unterstützen die Aufführungen des Balletttänzers Julio Boccas, aber nicht Projekte wie unseres."
     Sie arbeiten zwar diskret und weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber jede spektakuläre Identifizierung - 1989 diejenige von Marcelo Gelman, Sohn Juan Gelmans, des argentinischen Dichters, der in Mexiko lebt; 1997 die von Che Guevara in Bolivien; 2005 die von Azucena Villaflor, der Gründerin von Madres de Plaza de Mayo, 1977 verschwunden - bringt sie auf die Titelseiten der Tagespresse.
     "Aber für uns", sagt Luis Fondebrider, "sind alle gleich. Ob Che oder Juan Pérez. Nachdem wir Gelmans Sohn identifiziert hatten, waren Morris, Alejandro und ich in New York, um den Preis einer Stiftung entgegenzunehmen, und wir haben dann Gelman selbst, der in der Stadt wohnte, besucht, um ihm die Sache mit seinem Sohn zu erzählen. Mich hat er sehr eingeschüchtert, er war sehr ernst und wortkarg. Wir blieben über Nacht in seiner Wohnung. Er machte kein Auge zu und las den Untersuchungsbericht, und morgens hat er uns Tausende von Fragen gestellt. Das war schon seltsam. Ich hatte zuvor nie in der Wohnung von jemandem übernachtet, dem ich so eine Nachricht überbringen musste."
     "Kannst du dir ein Leben ohne diese Arbeit vorstellen?"
     "Ja. Keine Ahnung, was ich tun würde. Aber doch, ja."
     Alle sagen sie das Gleiche. Als ob sie stolz in die einzige mögliche Zukunft marschieren: die Auslöschung.

Im unteren Stockwerk stehen in verschiedenen Zimmern lange, schmale Tische, die mit grünen Blättern bedeckt sind. Das Büro, in dem Sofía Egaña in der Regel arbeitet, wenn sie in Buenos Aires ist - 36 Jahre alt, ist sie 1999 ins Team gekommen, als man sie für einen Einsatz in Ost-Timor anfragte, sie sagte zu und ging direkt für zwei Jahre auf eine Insel, auf der es weder Strom noch Trinkwasser gab und wo die indone­sischen Streitkräfte im Jahr 1991 200 000 Menschen getötet hatten -, besteht aus einem Schreibtisch und einem Computer.
     Mit einem Klick öffnet sich die Fotodatei: ein Schädel. Noch ein Klick: der Schädel mit Einschussloch.
     "Die Kugel ist direkt eingetreten: von hinten hingerichtet. Haben wir Zähne? Wie sehen die Zähne aus?"
     Zwei Tage später wird Sofía Egaña nach Ciudad Juárez aufbrechen, wo das Team an Frauenleichen arbeitet, die entweder überhaupt noch nicht identifiziert sind oder deren Identifizierung zweifelhaft ist, und bis dahin muss sie ein paar dringliche Angelegenheiten regeln: das Haus verkaufen, in dem sie wohnt, vielleicht einen Bankkredit aufnehmen, vielleicht direkt umziehen. An einer Pinnwand hinter ihr hängt die Zeichnung eines Schmetterlings und unter dem Schmetterling der mit kindlicher Handschrift geschriebene Satz Sofi hat dich lieb. Es hängt da außerdem ein Foto, das in Timor aufgenommen wurde:
     "Das sind meine Vermieter gewesen. Hin und wieder rufen sie an, um zu fragen, wie es mir geht. Und weil ich selber nicht so gut zu erreichen bin, rufen sie bei meinen Eltern an. Seit mehr als elf Jahren bin ich die ganze Zeit unterwegs. Ich besitze keinen Schrank. Nur zwei Koffer. Aber wenn Knochen und Geschichte aufeinandertreffen, ist das alles gerecht­fertigt. Für die Angehörigen bin ich die Ärztin, die Frau Doktor. Zum Weinen gehe ich hinter die Bäume. Man kann nicht einfach vor den anderen weinen."
     "Und man gewöhnt sich mit der Zeit nicht daran?"
     "Nein, es wird mit der Zeit nur schlimmer."
     Am Ende eines Korridors liegt ein dunkler, kühler Raum, an den Wänden Regale, die bis unter die Decke reichen, und in den Regalen nicht sonderlich große Pappkartons, auf denen Obst und Gemüse steht.
     "Jeder Karton ist ein Mensch. Hier bewahren wir die Knochen auf. Alle sind etikettiert, mit dem Namen des Friedhofs und der Bezugsnummer."
     In den drei hellbeleuchteten Räumen gegenüber beugen sich fünf junge Frauen über die mit Papier bedeckten Tische. Auf den Tischen, was auch sonst, Skelette.

Auf dem Schreibtisch von Silvana Turner, im oberen Stockwerk, befinden sich lauter Kartons, die mit Kosovo, Togo, Südafrika, Timor, Paraguay beschriftet sind: die größten Ma­s­saker des vergangenen Jahrhunderts. Silvana Turner trägt die Haare kurz, ihr Gesicht wirkt gepflegt. Sie ist seit 1989 dabei.
     "Wenn ein Angehöriger nicht wünscht, dass wir die Überreste bergen, werden wir auch nicht tätig. Wir machen nie etwas, was ein Angehöriger nicht will. Aber selbst wenn es schmerzt, das Ergebnis einer Identifizierung zu haben, ist es doch auch heilsam. Woanders wäre unsere Arbeit viel technischer. Dort wäre es undenkbar, dass diejenigen, die die Überreste untersuchen, auch das Gespräch mit dem Angehörigen führen und sich um die Rückführung der Leiche kümmern. Wir haben immer alles gemacht."
     Im Lauf der Jahre sind ihnen 300 Identifizierungen mitsamt Rückgabe der Überreste gelungen, und indem sie Daten abglichen und Unterlagen durchgingen, konnten sie das Schicksal von 300 weiteren Menschen, deren Überreste niemals gefunden worden sind, ermitteln und publik machen.
     "Wenn ich mit der Arbeit ein Gefühl verbinde, dann vor allem Frustration. Man wäre oft gern schneller."
     Ein paar Meter entfernt ein weiterer Raum, wo die Kartons die Namen argentinischer Friedhöfe tragen: La Plata, San Martín, Ezpeleta, Lomas de Zamora, Ezeiza.
     Die Aufgabe war von Anfang an immens. Könnte sein, dass die Arbeit unendlich ist.

Regen, aber drinnen ist es warm und trocken. Es ist ein Montag, aber das ist egal.
     In einem der Büros im Labor steht seit Tagen ein kleiner Sarg. Sie nennen es eine Urne. In solchen Urnen werden den rechtmäßigen Eigentümern die Knochen übergeben.
     "Kannst du es sehen?", fragt eine Frau mit Kameengesicht, eine ovale Schönheit. "Das hier im inneren Knochen heißt Spongiosa, schwammähnlicher Knochen. Und darum liegt die kortikale Knochenschicht."
     Unter ihren Fingern wirkt das Skelett wie ein sonderbares Meereswesen, seine schwammähnlichen Stellen der Luft preisgegeben.
     "Das ist ein Stückchen Schädel. Im Schädel heißt die Spongiosa Diploe."
     Wenn die Rekonstruktion des Skeletts - die einzelnen Teile und die Verletzungen nummerieren, das, was davon übrig ist, auf dem Tisch arrangieren - abgeschlossen ist, kommt es zurück in seinen Karton, und diese geduldige Art der ovalgesichtigen Frau führt Jahre später - mit etwas Glück - zu einem Namen, zu einem Sarg von der Größe eines Oberschenkelknochens und zu einer Familie, die ein zweites Mal weint: und vielleicht ja das letzte Mal.
     An einer der Fensterscheiben klebt ein Zettel: der Aufriss eines Grabes, in den sechzehn Skelette eingezeichnet sind. Unter jedem Skelett stehen Anmerkungen: fünf Kugeln plus Ithaka-Schrot, zahnloser Oberkiefer, fünf Projektile. Keines hat einen Namen, aber Alter - durchschnittlich dreißig Jahre - und Geschlecht schon: Die meisten sind männlich. Von der Straße aus kann jeder, der den Blick hebt, diesen Zettel sehen, der da am Fenster haftet. Aber was man von ­unten sieht, ist ein weißes Blatt. Und es schaut auch keiner hoch.

Eine Tür öffnet sich wie ein Seufzer und schließt sich wie eine Feder. Mercedes Salado stellt einen kleineren Karton - darauf steht Obst und Gemüse - auf dem Schreibtisch ab. Danach wünscht sie einen guten Morgen und zündet sich erst mal eine an. Sie ist Spanierin, Biologin, arbeitete von 1995 an in Guatemala, ist seit 1997 Teil des Teams, und lange Zeit dachten ihre Eltern, zwei Pensionäre mit Wohnsitz Madrid, dass die Arbeit ihrer Tochter keine anständige Arbeit sei.
     "Eines Tages riefen sie mich an und fragten: 'Hör mal, Mercedes, was du da machst … ist das eigentlich legal?' Klar, als ich damit anfing, wusste man nicht genau, was in Lateinamerika eigentlich so los war, und in die Berge zu ziehen, um da die Überreste von irgendwelchen Guatemalteken auszubuddeln … Meine Eltern hatten wohl Angst, dass man sie anrufen und ihnen sagen würde: 'Ihre Tochter sitzt im Knast, weil sie eine Leiche geklaut hat.' Die Nachbarn in Madrid begegnen mir jetzt so à la 'Puh, ist ja doch legal'. Was mich am Team überrascht, ist der Zusammenhalt. Man lebt von den Projekten, und es gibt einen Gemeinschaftsfonds. Jeder, der in einem internationalen Einsatz arbeitet, zahlt sein Gehalt in den Gemeinschaftsfonds ein. Das ist ein gut funktionieren­des kommunistisches System. Man tut das, weil man an das glaubt, was man tut. Niemand könnte zwanzig Jahre lang das leisten, was wir leisten, wenn man es nicht auch gern machen würde. Aber diese Arbeit hat einen Aspekt, der sehr romantisch und sehr abgedroschen wirken mag. Nämlich dass das nicht einfach eine Arbeit ist, sondern eine Lebensform. Das Ganze steht noch über der eigenen Familie, über dem Partner, über der Möglichkeit, eigene Kinder zu haben. Wir haben Geburtstage vergessen, Hochzeitstage, aber wir haben nie ­einen Termin mit einem Angehörigen verpasst. Im Grunde ist es was ganz Einfaches. Was macht man? Man findet die Identität eines Menschen heraus, nicht mehr und nicht weniger. Das ist das, was die Angehörigen nach dem langen Warten unbedingt brauchen. Wenn man dann das Gesicht der Menschen sieht, dafür lohnt sich das alles. Man achtet die Würde der Toten, aber auch die der Lebenden."
     Anschließend lächelt sie schwach und sagt, dass sie ein Trauma habe: dass sie Schädelknochen nicht in Plastiktüten stecken und die zumachen kann.
     "Da kriege ich Beklemmungen. Blöd von mir, aber ich habe das Gefühl, dass sie ersticken."

zu Leseprobe Teil 3