Vorgeblättert

Leseprobe zu Mircea Cartarescu: Nostalgia. Teil 2

26.02.2009.
Unsere Truppe war nach dem Kriterium der Körperkraft (wer wen verprügeln konnte) streng hierarchisch gegliedert: Ich erinnere mich einiger ihrer Mitglieder: Wowa und Paul Smirnoff (es überraschte mich sehr, als ich später von einem Wodka gleichen Namens hörte), Mimmi und Lumpa, den Nachnamen habe ich vergessen, Lutza, Luci, Dan von Aufgang 3, Marconi und sein Bruder, den wir den Chinesen nannten, Marian-Marzianu-Marzaganu-Zaganu-Zaku, der vor etwa zwei Jahren eine Verkäuferin aus der Konditorei geheiratet hat, Jean von der siebenten Etage, mein Nachbar Sandu, Niku aus dem anderen Flügel. Jeder in seiner Art war, so erscheint es mir heute, eine interessante Persönlichkeit. Paul aß gerne Pech und saugte Schmetterlingsbäuche
aus, weil sie, wie er behauptete, voll Honig wären, sein Bruder Wowa war still und scheu, nur hatte er die Manie, jedem, der ihm zuhörte, von der Titanic zu erzählen; sie sei, sagte er, höher gewesen als drei übereinandergetürmte Blocks und von über tausend Schiffsschrauben angetrieben worden. Mimmi zog einen Igel groß und sammelte leere Zigarettenschachteln (ausländische Marken), einige darunter aus dünnem Plastik. Er war der größte von uns, konnte uns alle verprügeln. Daher war er trotz seiner recht dunklen Hautfarbe der Boß. Wie groß und stark Mimmi war, so mickerig war sein Bruder Lumpa: ein schwarzer Rotzlöffel und Jammerlappen, der gern aus heiterem Himmel zu heulen anfing, weshalb er auch C-Dur-Sinfonie genannt wurde. Er mag damals vier Jahre alt gewesen sein und geistig etwas zuräckgeblieben, er brachte kaum drei Wörter zusammen. Luci, genannt Luciossu, wie man mich Mirciossu rief, war mein bester Freund. Wir durchstreiften zusammen die Gegend, und ich lauschte seinen Geschichten über Pferde, über nichts anderes als Pferde;
sie galoppierten in Arenen, die mit Seide ausgelegt waren, und ihre Hufe steckten in Schuhen aus geblümtem Kaschmir. Lutza hatte etwas leicht Makabres an sich. Sein älterer Bruder hat sich im übrigen nach Beendigung des Gymnasiums von der Dachterrasse unseres Blocks gestürzt. Ich hielt mich gerade in meinem Zimmer auf, faltete Papier zu Salzfäßchen, als ich plötzlich seinen großen Körper flügelschlagend am Fenster vorbeisegeln sah. Ich hörte den Aufprall und schaute hinaus: Auf dem Asphalt neben einem "Pobeda" lag in voller Uniform der vormalige Gymnasiast, und sein edles Profil zeichnete sich auf dem Hintergrund einer lustigen hellpurpurnen Blutlache ab, die sich langsam ausbreitete.

Sicher, die Truppe hatte auch noch andere Mitglieder, die weniger wichtig waren oder an die ich mich einfach nicht erinnere. Aufgang 6, das weiß ich noch, wohnte ein Junge, der Kinderlähmung gehabt hatte, ein Bein war in einen komplizierten metallenen Apparat gespannt, wie ihn ähnlich auch Eminescus Schwester Harietta getragen haben soll. Seine Großmutter fuhr ihn hinter dem Block spazieren, von wo er uns zuschaute, wenn wir "Hexenspießen" spielten. Doch er war so gut wie nicht vorhanden. Ja, und schließlich - beinahe hätte ich ihn vergessen - gab es noch den verrückten Dan, dem Mimmi jenen seltsamen Spitznamen verpaßte, von dem ich heute noch nicht weiß, wie er den Weg in Mimmis schwerfälliges Hirn gefunden hatte: Mendebilus. Dan pflegte sich auf die Balustrade der Dachterrasse zu schwingen und uns aus der Höhe von acht Stockwerken herab unter heftigem Gestikulieren etwas zuzurufen, so als drohte ihm unmittelbar der Absturz. Wir anderen trauten uns nicht einmal in die Nähe der Balustrade, geschweige hinauf.

Die Mädchen unseres Alters gehörten selbstredend nicht zur Truppe. Sie malten gewöhnlich mit blauer, gelber und zyklamfarbener Kreide oder auch mit schlichten Ziegelbrocken endlos Landschaften auf den Asphalt, sofern sie zur Abwechslung nicht gerade ihre Spielchen mit Tüchern, Schleiern, Prinzen hoch zu Roß, mit Küßchen, Odi-odi-oda und "Edelstein so strahlend rein gibt?s in der Welt nicht deren zwein" spielten. Ich will hier nur einige von ihnen nennen: Viorika, die Tochter der Taubstummen, als einzige in der Familie der Sprache mächtig, verständigte sich mit den Eltern dennoch nach Art der Stummen; Mona, Dans psychisch gleichfalls angeknackste Schwester, hatte gelbe, vor Haß funkelnde Augen und durfte als einzige beim Hexenspießen mitmachen; sodann Fiordalis, die Tochter griechischer Eltern namens Sorson; Marinella, von Jean auf die Melodie von Marina,
Marina, Marina
als "die Lange, die Lange, die Lange, lang wie ?ne Hopfenstange" getauft, und schließlich Jolanda, das Mädchen, das mir im Traum erschienen ist.

Ich will mich nicht weiter über all diese Gestalten auslassen. Als bunte, duftende Wölkchen sind sie bestenfalls malerisch, aber was soll ich euch mit malerischen Geschichten langweilen. Background - das waren wir alle für den, der dann kam und etwas in uns verändert hat oder uns zumindest in unerklärlicher Weise prägte, der nicht einmal Lumpa zu schlagen vermochte und dem trotzdem alle, Mimmi eingeschlossen, eine Zeitlang aufs Wort gehorchten. Was ich hier bisher ausgebreitet habe, ist ja nur eine Einleitung zu dieser Erzählung, soll mir die Mühe aber wert sein, allein schon weil ich als Rumänischlehrer stets darauf hinweise, jeder Aufsatz müsse Einleitung (mit Zeit, Ort und Personen der Handlung), Inhalt und Schluß haben. Sie ist etwas lang geraten, und trotzdem kann ich noch nicht zur Sache kommen. Erst muß ich noch schildern, womit wir uns die Zeit vertrieben, bevor der "Hauptheld" im Block auftauchte.

Die meisten von uns gelangten praktisch nie über die Grenzen des Spielfelds hinter unserem Block hinaus. Unmittelbar an der Brotfabrik Pionierul, gleichsam direkt dem Gemäuer entwachsen, stand eine alte leidgepräfte Kastanie, mit einer Höhle im Bauch, die man mit Zement gefällt hatte, und einem rostigen Riesennagel, der schräg aus der Rinde ragte, und auf der Rinde wimmelte es stets von Ameisen. Auf diesen Nagel setzten wir - Sandu, Luci und ich - den Fuß, wenn wir den Baum bestiegen, in seiner Krone waren wir ganz in unserem Element, wie die Alten in Capotes Grasharfe. Dort oben gab es an der Stelle, wo die Äste sich verzweigten, noch eine weitere Aushöhlung, da setzten wir unsere Füße hinein. Zu Beginn des Sommers hatten wir in dieser Baumhöhle eine Fülle chinesischer Bleistiftspitzer aus Plastik entdeckt, die in den prächtigsten Pastellfarben leuchteten, so daß uns bei ihrem Anblick der Atem stockte. Es waren mehr als fünfzig Bleistiftspitzer, jeder in Gestalt irgendeines sanften Tieres,
Eichhörnchen mit buschigem, geschwungenen Schweif, weiße
Kaninchen, Schaukelpferde, Disney-Rehlein, Frösche mit blauen Augen. Und dazu noch rote und grüne Raketen, durchsichtige rosa Tännchen, Schildkröten und langhalsige Giraffen mit beweglichem Schwanz. Am Vorabend war da noch nichts gewesen, und wir waren morgens sehr früh zur Stelle. Auch an den folgenden Tagen trieb sich außer uns niemand in der Nähe der Kastanie herum. Daraus schlossen wir, daß die Bleistiftspitzer ganz einfach dort gewachsen sein mußten, wie eine zauberhafte Blütenpracht des Baumes; schließlich blühten auch Kakteen und das Bambusrohr nur einmal in hundert Jahren. Wir nahmen die Dinger mit nach Hause. Selbst unter den Häschen und den sanftesten Rehlein verbarg sich eine unerbittlich scharfe Stahlklinge. In der Baumkrone hielten wir Rat wie die alten Indianer. Wenn Luci die Lust an seinen Pferdegeschichten verlor, da er die Tiere in so viel Gold, Rubine und schwere Seide gepackt hatte, daß er selbst nicht mehr wußte, wie es mit seinen Erfindungen weitergehen sollte (er behauptete, solche Pferde auf dem Dorf tatsächlich zu besitzen), sobald Sandu, der gewiß nicht zum Mathematiker geboren war, uns mit der absurden Behauptung nervte, er habe ein "Arithmetik"-Buch entdeckt, worin statt Zahlen Buchstaben addiert, subtrahiert, multipliziert und geteilt würden, nachdem schließlich ich selbst Stein und Bein geschworen hatte, ich
sei einem Phantom begegnet, wandten wir uns ernsteren Dingen zu. Ob es denn stimmt, daß jenes sehr kurze Wort, das wir überall auf den Betonzaun geschmiert oder ins Pech eines Kanalrohrs geritzt antrafen, bedeutet, alle Erwachsenen würden . . . Und hieß das dann nicht, daß die Lieder, die wir so gerne sangen, sich auf die gleiche widerwärtige Sache bezogen? "Selene-ene-e, die Oma hüpft beschwingt ins Bett, der Opa zeigt ihr, wo?s langgeht" usw. Klar doch, sagte Luci und fügte zynisch hinzu: Selbst Mama und Papa tun es. Dann begann er zu spinnen: Wenn die Zeit kommt, daß sie es machen müssen, gehen sie in eine Art Krankenhaus. Dort weist man sie in ein fensterloses Zimmer ein, dessen Schlüsselloch mit Watte zugestopft ist. In der Mitte des Zimmers steht ein Operationstisch, da legt sich die Frau mit dem Gesicht nach oben drauf. Über der Frau befindet sich eine Hängematte, die der Mann mit Hilfe einer Leiter erklimmt, um sich mit dem Gesicht nach unten hineinzulegen. Dann wird die Hängematte mittels einer Vorrichtung zum Operationstisch runtergelassen, so daß sich die Eltern einander gegenübersehen, genau wie in Mimmis Witzen. Alles dauert sehr lange, stundenlang, so lange, daß die Frau ein Buch auslesen kann, dann gehen sie wieder nach Hause. "Woher weißt du das?" fragten wir ihn und verstrickten uns dann in scholastische Kontroversen. Dabei kamen wir mit jenem kurzen Wort noch einigermaßen klar, doch äber andere Ausdrücke, die in den meisten Flächen enthalten waren und einem weismachen wollten, daß es auch noch Variationsmöglichkeiten gab, konnten wir uns in keiner Weise verständigen. Und selbst was jenes gewisse Wort anging, hatte ich meine Zweifel: Meine Eltern schienen mir viel zu ernst, um dergleichen zu tun, und sei es im Krankenhaus.

An den quälend langen Nachmittagen, wenn ich schlafen sollte, gingen mir diese Dinge durch den Kopf. Rötlich goldenes Licht erfüllte das Schlafzimmer, spiegelte sich in der gemaserten Schranktür und fiel auf mein Gesicht. Ich lag mit offenen Augen im Bett und schaute durchs Fenster den herrlichen Wolken zu, wie sie im Strahlenglanz eigenwillig über den Sommerhimmel taumelten. Manchmal erhob ich mich heimlich aus dem gestärkten Linnen, das schneidend wie weißes Glas, aber leicht wie Papier war, und trat ans Fenster. Ich hatte das Bukarester Panorama bis zum Horizont im Blick, die Schar alter Häuser, die sich unter den Wolken duckten, Häuser mit Ziegeldächern und Oberlicht, mit Gauben und massiven Eichenholztüren. Etwas weiter entfernt große graue, fensterreiche Gebäude, mittendrin das Hochhaus, das die Galluswerbung wie eine blaue Kugel am Scheitel trug, das Victoria-Kaufhaus, links der Turm der Feuerwache, die geschwungenen Blocks auf dem Boulevard Stefan-cel-Mare und ganz weit weg das Wärmekraftwerk mit seinen riesigen Schloten, aus denen wergartig Dampffäden in den Himmel stiegen. Und all dies gefiltert durch das bewegte Laub der Weißbuchen und Pappeln, die mit ihren lichtgrünen, smaragdgrünen oder dunkelgrünen Wipfeln immer mal wieder zwischen den Gebäuden hervorlugten. Ich war nie schläfrig. Beim kleinsten Geräusch huschte ich ins Bett, denn ich wußte, das war Vater, der mit einem Nylonstrumpf überm Kopf kontrollieren kam, ob ich schlief.

Teil 3