Vorgeblättert

Leseprobe zu Olivier Roy: Heilige Einfalt. Teil 1

29.03.2010.
Kultur und Religion: Der Bruch

Wenn Gläubige und Ungläubige in derselben Kultur
zusammenkommen


Die Unmöglichkeit einer religiösen Gesellschaft


Das Religiöse schafft, meistens implizit, ein kulturelles Umfeld, weil die Religion auch als eine Kultur erlebt wird. Dass die Religion folgenreich für die Kultur ist, ist unvermeidlich, denn keine Gesellschaft kann sich ausschließlich mittels eines expliziten Glaubens behaupten. Die Herrschaftsausübung kann nur funktionieren, wenn die dominierende Religion sich zu einer Kultur entwickelt, das heißt zu einem symbolischen und imaginären System, das die gesellschaftliche und politische Ordnung legitimiert, aber den Glauben nicht zu einer Bedingung des Zusammenlebens macht. Konformität und nicht Glaube begründet eine Gesellschaft, das ist der Unterschied zwischen einer Gesellschaft und einer Gemeinschaft.
     Entgegen dem, was man über religiöse Ideologien fantasiert hat, ist eine Glaubensgemeinschaft niemals eine echte Gesellschaft. Sie kann es nicht sein, denn die Gemeinschaft setzt voraus, dass entweder der Bürger immer zutiefst religiös ist (was sich nicht erzwingen lässt und in die Zuständigkeit des Einzelnen, und damit der Politik, fällt und nicht auf die göttliche Transzendenz verweist) oder dass das Religiöse zugunsten äußerer Normen vollständig seiner religiösen Dimension entkleidet wird. Für den Islam habe ich das in meinem Buch L?Echec de l?islam politique(1) (Das Scheitern des politischen Islam) zu zeigen versucht. Die Gemeinschaft zur Zeit des Propheten, die heute den Verfechtern eines "islamischen Staates" als nostalgisches Vorbild dient, musste sich, um Bestand zu haben, in eine "echte" Gesellschaft verwandeln: Was als Fall oder Niedergang wahrgenommen wird, ist die unausweichliche Konsequenz des politischen Erfolgs. Darum gibt es nie echte Konkurrenz zwischen der religiösen Loyalität und der nationalen Loyalität; als Stichworte seien hier Ultramontanismus und Vatikan, Umma, jüdisches Volk und Israel genannt. Denn eine Gemeinschaft ist genauso wenig Gesellschaft wie eine Gesellschaft eine Gemeinschaft ist, auch wenn sie sich gerne so sieht. Das hat schon Max Weber betont, auf den die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft zurückgeht, und der Anthropologe Maurice Godelier(2) weist dies ebenfalls nach. Was für anthropologische Gemeinschaften gilt, die auf Verwandtschaftsbeziehungen gründen, gilt genauso für religiöse Gemeinschaften. Den calvinistischen protestantischen Gemeinschaften gelang es nicht, zu echten Staaten zu werden, obwohl sie einst Städte wie Genf oder Boston kontrollierten.(3) Das Fundament einer Gesellschaft ist die Souveränität, angefangen mit dem Anspruch auf ein Territorium. Eine Gesellschaft ist vor allem eine politische Struktur, nie eine religiöse, auch wenn sie die Religion zur Legitimierung von Machtbeziehungen mobilisiert. Und gerade deshalb erzeugt es so große Spannungen, wenn das Religiöse im politischen Raum auftaucht: weil es zu nichts führen kann. Die allmähliche Verschiebung des Religiösen in die Kultur hinein ist somit eine Form seiner Domestizierung und Instrumentalisierung. Das erklärt die offenkundig paradoxe Position von Nicht-Gläubigen und Agnostikern, die die Religion preisen, von Charles Maurras bis zu Nicolas Sarkozy.
     Dass politisch-religiöse Gesellschaften wie die amerikanischen Puritaner oder die islamischen Revolutionäre im Iran de facto gescheitert sind, hängt damit zusammen, dass sie offiziell ihre wahre Funktionsweise, die eine politische ist, abstreiten und stattdessen von der Tugend der Regierenden und der Bürger reden, während sie gleichzeitig ihren Gegnern Untugend unterstellen und ihnen den Status von Ungläubigen zuweisen. Das Phänomen der Ausgrenzung des Anderen im Namen der "Reinheit" finden wir bei allen revolutionären Ideologien: Reinheit der Klasse oder Reinheit der Rasse. Solche Systeme haben keinen Bestand, das gilt für Florenz unter Savonarola über Genf unter Calvin bis zur Revolution Khomeinis. Die faktische Reduzierung auf die weltliche Machtausübung bewirkt letztlich die Säkularisierung.(4) Die Spannung zwischen Politischem und Religiösem lässt sich nicht dadurch auflösen, dass man ein "religiöses" politisches System errichtet.
     Damit eine Gesellschaft dauerhaft existieren kann, darf sie nicht nur auf dem Expliziten aufbauen, sondern muss auch Implizites und Unausgesprochenes als Fundament haben, selbst wenn über die zentralen Werte Einigkeit besteht (was nicht immer der Fall ist). Sie muss die Randbereiche, Abweichungen, Andersartigkeiten akzeptieren und darf nicht versuchen, sie zu beseitigen - vom Bordell bis zum Karneval, von der Homosexualität bis zu Drogen und Alkoholsucht. In vielen Fällen war dafür die "Volkskultur" zuständig, die auch als ein System der Regulation funktionierte, denn sie bot ein Ventil, die Möglichkeit, Verhaltensweisen zu verspotten, ohne dabei die bestehende Ordnung in Frage zu stellen.(5) Das Problem ist der Umgang mit den Rändern einer Gesellschaft, nicht deren Beseitigung: mit den Räumen von Überschreitungen (den Rotlichtbezirken), den Zeiten von Überschreitungen (Festen, Karneval), den Randexistenzen, aber auch mit dem Privatleben und politischer Opposition. Kultur gibt es nur, wenn auch solche Randbereiche bestehen.

Die Gesellschaften, die sich vorrangig religiös verstehen, dekretieren, dass die Randbereiche und Abweichungen verschwinden sollen. Darum sind sie zu permanenter Instabilität verurteilt, denn die Forderung nach Reinheit bringt alle Menschen in eine unsichere, unhaltbare Position: Es sind Gesellschaften des Zweifels und des Verdachts und damit der Angst; das finden wir auch in den stalinistischen kommunistischen Systemen, wo jeder Held zum Verräter werden kann. Noch lange nach den Religionskriegen war in Europa die Vorstellung verbreitet, der loyale Untertan müsse die Religion seines Herrschers haben - ein Gesetz, ein Glaube, ein König -, ein Gedanke, der durch das Edikt von Nantes wie auch seinen Widerruf bestätigt wurde, aber die Übereinstimmung blieb rein formal, sie verlangte keinen echten Glauben.
     Die Überzeugung, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft explizit ein Glaubenssystem teilen müssen, ist absurd und kann nur zu dauerhaftem Zwang führen. Der traditionelle (nicht fundamentalistische) Gläubige beklagt den Mangel an Glauben, ersetzt aber in realistischer Weise Überzeugung durch Konformität und organisiert den Glauben auf seine Weise. Das ist der Punkt, um den sich die Debatte über takfir im Islam und die Beichte in der christlichen Religion dreht: Je nachdem, ob die Beichte nur vor einem Priester abgelegt werden kann, wie im Katholizismus, oder öffentlich, wie in den Anfängen des Protestantismus, ist das Verhältnis zwischen persönlichem Glauben und öffentlicher Person komplett verschieden. Die Folgeerscheinungen sehen wir in der amerikanischen Begeisterung für die öffentliche Beichte, die inzwischen im Fernsehen stattfindet. In den Anfängen des Christentums war die Beichte öffentlich, und Vergebung wurde nur einmal gewährt; das hörte auf, als das Christentum zu einer Massenreligion geworden war. Die private Beichte vor dem Priester als Ohrenzeuge war eine disziplinarische Abschwächung, die im Übrigen erfolgte, als die Herrschaft "der Christenheit" (im 12. und 13. Jahrhundert) auf ihrem Höhepunkt stand und man annahm, die ganze Welt sei christlich. Der Katholizismus hat ein vielfältiges Repertoire des "Umgangs" mit der Verfehlung: Beschreibung, Kategorisierung (Listen von Sünden), Abstufung, Techniken des Geständnisses (Beichtspiegel), Wiedergutmachung, Ablass, Vergebung, Reue und so weiter. Auf jeden Fall soll die Position des Alles oder Nichts vermieden werden, wie sie Calvin vertrat. Das Anliegen des Protestantismus, die utopische Rückkehr zu den Ursprüngen, implizierte auch die Zwänge der Ursprünge.
     In vergleichbarer Weise macht takfir im Islam - die Möglichkeit zu erklären, dass jemand, der sich als Muslim bezeichnet, nicht mehr Muslim ist - den bloßen gesellschaftlichen Konformismus unmöglich, denn es verlangt von allen den offensichtlichen Glauben und die offensichtliche Glaubenspraxis. Terroristische Bewegungen sind natürlich "takfiristisch"; im islamischen Iran hingegen wurde das takfir gerade aus Herrschaftsgründen verboten. Im Judentum stellt sich die Frage, ob der Glauben explizit bekundet wird, immer wieder dadurch, dass für die Anerkennung der Konversion zum Judentum, die die Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft ist, orthodoxe Rabbiner zuständig sind. So entschied im Mai 2008 das Rabbinergericht von Aschdod, Übertritte, die von Rabbiner Chaim Druckman vollzogen worden waren, rückgängig zu machen, weil eine Konvertitin ihre religiösen Überzeugungen nicht deutlich nach außen gezeigt hatte.(6) Eine solche Entscheidung bringt schlagartig das Konzept der Staatsbürgerschaft ins Wanken: Das Großrabbinat bemühte sich deshalb, sie wieder aufzuheben, was nicht aus grundsätzlichen Erwägungen geschah, sondern aus Sorge um die öffentliche Ordnung.
     Soweit die traditionellen religiösen Gesellschaften nur durch ein formales Bekenntnis zusammenhalten, das oft nicht mehr als Konformismus ist (oder dessen Kehrseite, Heuchelei), hängt das auch damit zusammen, dass sie die wirkliche Überschreitung nur in der Ausnahme sehen, im Skandal und dem Spektakulären der Strafe, die damit zu einer anderen Form der Außerordentlichkeit wird. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass in einer Gesellschaft mit einem offensichtlichen religiösen Rahmen alles religiös sei. In gewisser Weise könnte man sogar sagen, dass der profane und/oder säkulare Raum dort weiter entwickelt ist, denn die Frage der Grenzen stellt sich nur durch den Skandal einer außerordentlichen Übertretung. In zahlreichen Religionen sind extreme Strafen mit extrem hohen Anforderungen an die Beweisführung verbunden, was die Anwendung der Strafen (die an einen bestimmten politischen Kontext gebunden ist) praktisch unmöglich macht: Die hudud im Islam, die Tatbestände, auf denen die Todesstrafe oder Amputation steht, sind sehr schwer zu beweisen, oder aber sie werden mit politischen Absichten verhängt, um ein Exempel zu statuieren. Die Tribunale der katholischen Inquisition dienten hauptsächlich politischen Zwecken. Die Inquisition verlangte Konformität sowie die Ausmerzung von Feinden im Inneren und zielte auf bestimmte Personengruppen, hauptsächlich conversos. Als 1766 in Paris der Chevalier de la Barre hingerichtet wurde, der gefoltert und verurteilt worden war, weil er nicht den Hut abgenommen hatte, als eine Prozession mit dem Allerheiligsten vorbeizog, war das Schockierendste daran wohl das Missverhältnis zwischen dem Anlass und der Strafe. Das Missverhältnis erklärt sich daraus, dass das Urteil im Grunde nicht von der Empörung über eine religiöse Verfehlung motiviert war, sondern von einer politischen Absicht: der eines gallikanischen Parlaments in Paris, das zeigen wollte, dass es besser als die Kirche die Symbole des christlichen Glaubens zu verteidigen wusste.

Die Ausbreitung oder, je nach Standpunkt, auch der Abstieg des Religiösen in die Kultur ist umso logischer, als die Religion selbst die Instrumente für ihre Transformation in Kultur schafft, auch wenn sie dabei bereits vorhandene Operatoren verwendet (ich nenne das Formatierung). Zur Säkularisierung im strengen Sinn gehört keineswegs ein Konflikt oder ein Bruch mit der Religion, wie die Beispiele Nordeuropa, Vereinigte Staaten, Großbritannien, aber auch Thailand und Japan zeigen. Und die Trennung von Kirche und Staat ist auch nicht notwendigerweise mit einem Konflikt zwischen Kultur und Religion gleichzusetzen, verstanden als zwei unterschiedliche Glaubenssysteme, ein säkulares und ein religiöses, wie das Beispiel der Vereinigten Staaten illustriert. Viele Gallikaner waren und sind im Übrigen exemplarische Gläubige; man könnte sicher General de Gaulle in diese Kategorie einordnen.

Teil 2