Vorgeblättert

Leseprobe zu Olivier Roy: Heilige Einfalt. Teil 2

29.03.2010.
Die Orthopraxie: Wenn Laien und Religiöse
sich darüber verständigen, was richtig ist


Die Säkularisierung bedeutet nicht unbedingt einen Konflikt, nicht einmal die Trennung vom Religiösen. Eine säkularisierte Gesellschaft kann weiter im Einklang mit einer religiösen Kultur und religiösen Werten bleiben. Die Säkularisierung betrifft den Glauben, aber nicht notwendigerweise die Werte. Wenn die Säkularisierung die Politik berührt und das Thema der Trennung von Religion und Staat auf den Plan ruft, verlangt sie nicht unbedingt eine Debatte über moralische Werte: Klerikale und antiklerikale Kräfte können dieselbe Vorstellung von Moral haben, und Veränderungen der Sitten führen nicht automatisch zu einem Konflikt zwischen Religion und Kultur.
     Wir sprechen von Trennung und Loslösung, wenn Gläubige und Ungläubige sich nicht mehr in einer "Orthopraxie" wiederfinden, das heißt in der Achtung vor denselben praktischen Werten, selbst wenn sie unterschiedlich gerechtfertigt werden. Ebenso sprechen wir mit einer Formulierung von Daniele Hervieu-Leger von "Exkulturation", wenn die Gläubigen sich in der sie umgebenden Kultur nicht mehr wiedererkennen und wenn die Kultur das Religiöse nicht mehr anerkennt.(7)
     In vielen säkularisierten Gesellschaften, auch im republikanischen Frankreich des 19. Jahrhunderts sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, betraf der Gegensatz zwischen Gläubigen und Atheisten nicht so sehr die Frage der Werte, denn man hatte eine gemeinsame Orthopraxie: Der Ungläubige behauptete nicht, andere Werte zu haben, sondern im Gegenteil genauso "moralisch" oder "noch moralischer" zu sein als der Fromme, der immer der Heuchelei verdächtig war. Die Moralvorstellungen von Jules Ferry (bekannt für seine Rede von der "Moral unserer Väter"), die er als Erziehungsminister in das Curriculum des säkularen Schulsystems einbrachte, das er 1881 verpflichtend machte, waren von der christlichen Moral nicht weit entfernt. Es ist im Übrigen ein fundamentales Prinzip der laizistischen Moral, dass sie auf Konsens bedacht ist und nicht der Religion entgegengesetzte Werte verbreiten will. Schon der Code Napoleon ging bei Ehebruch und ehelichen Verfehlungen von einer christlichen Sicht der Familie aus, und das blieb so bis Ende des 20. Jahrhunderts, also lange über den Zeitpunkt hinaus, da die Laizität in der Verfassung verankert wurde. Das mögliche Urteil über eine Frau, dass sie einen "schlechten Lebenswandel" habe, wurde unabhängig von religiösen Überzeugungen gefällt. Das Konzept der "guten Sitten" stand in der Rechtsordnung der laizistischen Republik ebenso wie in administrativen Rundschreiben des republikanischen Frankreich. In den 1920er Jahren stieß das Gesetz gegen Abtreibung in Frankreich auf relativ breiten Konsens, jedenfalls führte es nicht zu einem Gegensatz von Gläubigen und Laizisten: Auch die Linken waren Natalisten. (An dieser Stelle sei auch an den Widerstand von Jeannette Vermersch, der Lebensgefährtin von Maurice Thorez, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, gegen die Freigabe von Verhütungsmitteln in den 1960er Jahren erinnert.) Die Idee, dass es eine von der Natur des Mannes verschiedene Natur der Frau gebe, die sich in der Mutterschaft realisiere, gehörte zur dominierenden Kultur in der französischen Dritten Republik.
     In zahlreichen muslimischen Gesellschaften unserer Zeit findet man einen ähnlichen Konsens über Werte und Normen - einen Konsens, der wenig mit einem expliziten Bezug auf die Scharia zu tun hat.(8) Die Orthopraxie ergibt sich hier nicht aus einer religiösen Praxis oder einer ideologischen Forderung, sondern aus einem Konsens, wie ein gemeinsamer Sinnhorizont aussehen kann, und das erklärt zu einem großen Teil, warum man sich häufig geradezu beschwörend auf die Scharia beruft und gegenüber ihrer tatsächlichen Anwendung gleichgültig ist. Die Scharia wird (und wurde) nie vollständig angewendet, aus Gründen, die wir schon mehrfach betont haben: Die Gemeinschaft zur Zeit des Propheten war eine religiöse Gemeinschaft, und als sie sich später in eine politische Gesellschaft verwandelte, entsprang das einer politischen Logik, die zur Folge hat, dass seither kein Herrscher die vollständige Autonomie der Scharia hinnehmen kann. Er wird sie darum auf zweierlei Weise in die Schranken weisen: einmal durch eine restriktive Definition ihres
Anwendungsbereichs (im Allgemeinen betrifft dieser die persönlichen Lebensverhältnisse, das Familienrecht und manchmal auch einige Strafregeln) oder durch ihre Kodifizierung nach dem Vorbild des westlichen positiven Rechts, um sie in das staatliche Recht zu integrieren (wie beim osmanischen Kodex, mecele oder mejele, der in den Rechtsordnungen verschiedener arabischer Länder noch präsent ist). Die Forderung nach vollständiger Anwendung der Scharia bedeutet, dass man die Autonomie der politischen Instanz aufgibt; das ist die Aporie des Konzepts "Islamischer Staat".
     Woher kommt nun der "Ruf nach der Scharia"? Aus zwei sehr unterschiedlichen Richtungen: Einmal gibt es ein fundamentalistisches Projekt, das darauf hinausläuft, jeden Bezug auf die Geschichte und die Kultur abzulehnen; das ganze gesellschaftliche Leben wird auf ein System expliziter Normen zurückgeführt. Auf der anderen Seite und im Gegensatz dazu steht eine kulturelle Orthopraxie, für die die Scharia ein virtueller Sinnhorizont ist und nicht eine spezifische Rechtsordnung. Baudouin Dupret und Jean-Noël Ferrie (9) haben in ihren Arbeiten dargelegt, dass die Ägypter sich zwar auf die Scharia berufen, sie aber sehr wenig praktizieren; Steinigung findet nicht statt. Es ist ein (sehr) frommer Wunsch, der aus der Definition einer "Zivilität" (Ferrie) entspringt, und nicht ein juristischer Kodex.
     Wenn wir den Bezug auf gemeinsame Werte als einen Sinnhorizont betrachten und nicht als eine Ansammlung von expliziten Normen, die mit allen Mitteln, juristischen und politischen, durchgesetzt werden müssen, dann sind die Konflikte um Normen lösbar, ob es um die Frage von Bordellen in einer traditionellen katholischen Gesellschaft geht (wo ihre Zulassung nichts mit einer Lockerung der Sitten zu tun hat) oder den Widerspruch zwischen dem paschtunischen Stammenskodex (pashtunwali) und der Scharia. Der Widerspruch zwischen Norm und Praxis wird in einem größeren Sinnzusammenhang erlebt: Ich bin gläubiger Katholik, aber ich kann sündigen; ich bin Muslim, aber ich kann ein schlechter Muslim sein. Das ist keine Schizophrenie. Hingegen ändert sich alles, wenn Taliban auftauchen oder ein Savonarola: Die Norm wird explizit und muss universell angewendet werden.
     Das Problem entsteht aus dem Brüchigwerden der Orthopraxie und der Schwächung des Sinnhorizonts. Dann tritt die Trennung zwischen dem Religiösen und der Kultur zutage: Aus dem religiösen Blickwinkel ist die Kultur nicht mehr profan, sondern sie wird heidnisch.
     Die Exkulturation des Religiösen ist ein Schlüsselphänomen der Entwicklung des Religiösen in unserer Zeit. Es ist zugleich eine Folge und ein Instrument der Globalisierung und erklärt zu einem großen Teil den Erfolg fundamentalistischer Erscheinungsformen des Religiösen. Mit Akkulturation hat das nichts zu tun: Es geht nicht um den Zusammenprall zwischen verschiedenen Kulturen, sondern um die Trennung von Kultur und Religion.


Kultur als neues Heidentum

Die Exkulturation des Religiösen geschieht, wenn die religiöse Norm sich von der Kultur ablöst.10 Aus religiöser Sicht erscheint die Kultur auf einmal als Heidentum und nicht mehr nur als eine profane oder säkulare Realität, die die Religion wie ihr eigener Schatten begleitet.
     Das passiert natürlich in den Gesellschaften, die einen Prozess der Säkularisierung erlebt haben, wie wir später noch sehen werden. Aber es gibt keinen Automatismus zwischen Exkulturation und Säkularisierung: Wie schon dargelegt, kann eine säkularisierte Gesellschaft kulturell religiös bleiben, aber umgekehrt kommt Exkulturation auch in Gesellschaften vor, die sich noch als zutiefst religiös empfinden, aber das Religiöse nicht mehr im Rahmen einer komplexen traditionellen Kultur denken, wie das in den Ländern mit muslimischer Kultur der Fall ist. Die Trennung zwischen Religion und Kultur kann insofern außerhalb des klassischen Prozesses der Säkularisierung erfolgen.
     Im November 2007 berichtete die marokkanische Presse über ein Video im Internet, das angeblich eine "homosexuelle Eheschließung" in der Stadt Ksar el-Kebir zeigte: Inmitten der Gäste tanzte ein Mann in Frauenkleidung. Der Skandal war enorm. Tatsächlich handelte es sich bei der Szene höchstwahrscheinlich um einen Exorzismus nach traditionellem Ritus, begangen zum Fest des lokalen "Heiligen" Sidi Madloume. Man blieb somit im noch akzeptablen Rahmen einer Tradition, die sich als religiös verstand, vielleicht auch verbunden mit der gnawi-Musik, die lange Zeit von den Nachfahren schwarzer "guineischer" Sklaven gespielt wurde, die sich in Marokko angesiedelt hatten. Aber auf einmal verursachte das, was lange zwar als marginal galt, aber akzeptiert war, einen Skandal und wurde nicht mehr als ein Ausdruck der Volkskultur am Rand verstanden. Rand muss hier in mehrfacher Hinsicht gedeutet werden: als Rand der Gesellschaft, verbunden mit Ganoven und sozial Deklassierten; als Rand im psychiatrischen Sinn, verbunden mit Heilung; und als Rand im religiösen Sinn, da zu einem "Heiligenkult" gehörig, den der vorherrschende Salafismus ablehnt. Zunächst fiel die Marginalität, die Verortung als Abweichung von einem bestimmten Setting an sich weg, weil die von einem Teilnehmer gefilmte Szene sofort auf YouTube gezeigt und allgemein verbreitet wurde: Durch die technischen Möglichkeiten wurde das Ereignis aus dem Kontext herausgelöst und globalisiert. Dann wurde es nach expliziten Normen gedeutet, in diesem Fall waren es neofundamentalistische und westliche: Es ging um die Verurteilung von Homosexualität, aber um Homosexualität, so wie sie im Westen definiert wird, nämlich nicht auf das Handeln der Beteiligten bezogen, sondern auf deren Wesen. Das Thema Legalisierung der "Schwulenehe" bewegt in der Tat seit einiger Zeit die westlichen Länder und die Wähler dort. Aber es wird darüber hinaus in der ganzen Welt als ein universelles Paradigma verbreitet, losgelöst von jedem religiösen, kulturellen oder auch nur rechtlichen Kontext.

Teil 3