Vorgeblättert

Leseprobe zu Olivier Roy: Heilige Einfalt. Teil 3

29.03.2010.
Wie lautet nun die rechtliche Definition der Ehe? Im muslimischen Recht ist die Ehe einfach ein Vertrag, der der französischen Lebenspartnerschaft als einem zivilen Solidaritätspakt näher steht als jener säkularisierten Form der christlichen Ehe, die für das napoleonische Recht typisch ist. Nun wird jedoch diese Symbolik der "westlichen" Ehe auf einmal zu einer universellen Form, die sowohl das islamische Recht wie das lokale kulturelle Imaginäre überlagert. Parallel dazu wirkt die islamische religiöse Norm, im gegebenen Fall der Salafismus, in dieselbe Richtung: Das lokale kulturelle Imaginäre wird weggewischt, und die Norm haftet sich an das juristische Konzept der westlichen Ehe an. Das Imaginäre verschwindet hinter einer real gewordenen Symbolik. Das Implizite soll explizit werden: Wenn viele Marokkaner finden, die Videobilder verstießen gegen ihre Religion und ihre Kultur, dann deshalb, weil die religiöse Norm die kulturelle Imagination ausgelöscht hat. Das Internet schafft einen homogenen, undifferenzierten Raum vor den Augen der ganzen Welt. Es gibt kein Zentrum und keinen Rand, keine Abstufung und keine Variation der Norm einerseits, aber vor allem wird, andererseits, die religiöse und universelle Norm ausgehend von einem aus dem Westen, so wie er gerade ist, übernommenen Paradigma ("die homosexuelle Eheschließung") definiert.
Nicht die Säkularisierung lässt eine solche Zeremonie in den Augen der Öffentlichkeit seltsam erscheinen, sondern ein neofundamentalistischer Prozess, das heißt die Behauptung universeller, abstrakter religiöser Normen, die aus jedem kulturellen Kontext herausgelöst sind. Das Wissen über eine Volkskultur ist auf einmal verschwunden. Aber die Normen sind auch summarische und sehr unzulängliche Rekonstruktionen, wobei die Religion nicht mehr auf Wissen gegründet wird, sondern auf einen Kodex von Regeln (erlaubt/verboten, hallal/haram). Fundamentalisten verweigern sich bekanntlich der Komplexität jedes religiösen Wissens. Die heilige Empörung entstammt der heiligen Einfalt.


Das Phänomen der Exkulturation ist noch viel ausgeprägter in säkularisierten Gesellschaften, denn dort hat das Profane seine religiösen Bezugspunkte verloren. Das Religiöse lässt sich nur schwer wieder mit einer Gesellschaft verbinden, die als etwas Andersartiges dargestellt wird. Der kulturelle Marker und der religiöse Marker fallen auseinander. Die Notwendigkeit, sich einzig in der Reinheit des Glaubens neu zu konstruieren, bringt die religiöse Gemeinschaft dazu, die religiösen Marker absichtlich von der Kultur abzulösen, die als heidnisch angesehen wird, und im Anschluss versucht sie, diese Marker zu monopolisieren: Die Gemeinschaft versteht sich als Minderheit, selbst wenn ihre Religion gesamtgesellschaftlich in der Mehrheit ist - das trifft für den Protestantismus in den Vereinigten Staaten und für den Islam im Mittleren Osten zu.
Im Juni 1997 verlangte der katholische Patriarch von Venedig, Kardinal Scola, die Absetzung des Tanzstückes Messiah Games von Felix Ruckert, das bei der Biennale gezeigt werden sollte. Die Begründung lautete, es handle sich um eine sadomasochistische Umdeutung der Passion Christi. Im Februar 2005 erreichte eine dem französischen Episkopat nahestehende Vereinigung namens Croyances et Libertes, dass in der ersten Instanz eine Werbekampagne des Modehauses Marithe et François Girbaud verboten wurde, die Das Abendmahl von Leonardo da Vinci verwendet und auf dem Bild die Jünger durch sehr leicht bekleidete junge Frauen ersetzt hatte. Das Gericht erkannte an, dass sich durch die Darstellung eine Gemeinschaft von Personen in ihren Gefühlen verletzt fühlen könnte. Es argumentierte nicht mit Gotteslästerung (den Tatbestand gibt es im französischen Recht nicht), sondern mit pretium doloris (Schmerzensgeld bzw. Zufügen von Schmerz) und mit Antirassismus, das heißt der Verteidigung einer Gruppe, die durch ihre Rasse, ihre religiöse oder ihre sexuelle Orientierung definiert ist. Das Urteil, das in der nächsten Instanz wieder aufgehoben wurde, ist interessant, weil es den kulturellen Marker vom religiösen geradezu exemplarisch ablöst. Die Gemeinschaft der Gläubigen beansprucht gewissermaßen ein Copyright auf den religiösen Marker, in dem Fall die Darstellung einer Szene aus einem heiligen Text, während das Bild von Leonardo da Vinci als Bestandteil eines gemeinsamen künstlerischen Erbes gilt.
Das wirft ein Problem auf, denn entweder sind die religiösen Symbole (das Abendmahl) universell und gehören zu unserer westlichen Kultur, oder sie gehören einer Gemeinschaft von Gläubigen, im konkreten Fall vertreten durch eine Institution, die katholische Kirche. Aber in einer Gesellschaft wie der europäischen, wo Kunst und Religion seit jeher eng verbunden sind, gehören die religiösen Symbole den Gläubigen genauso wie den Ungläubigen. In einer lebendigen Kultur gibt es beständig Umwendungen, Umdeutungen und Neuinterpretationen, auch bei ganz trivialen Dingen, wie zum Beispiel den Flüchen in Quebec, von denen noch die Rede sein wird.
Doch seit einigen Jahren pocht der Vatikan systematisch auf die christlichen Ursprünge Europas, und christdemokratische Abgeordnete des Europäischen Parlaments haben gefordert, der Bezug auf die christlichen Wurzeln Europas müsse in der Präambel der künftigen europäischen Verfassung stehen. Wenn man allerdings sagt, dass es ein gemeinsames Erbe gibt, dann erlaubt man zugleich jedem, damit zu hantieren, auch im Spott oder zu Werbezwecken. In ihrem Protest gegen die Vermarktung sind die christlichen Aktivisten nicht allein. Aber die Werbung hat sich des Abendmahls bemächtigt, weil das Bild zu uns spricht. Dessen Zweckentfremdung ist letztlich eine Verbeugung vor der Vertrautheit religiöser Bezüge; eine solche Werbung wäre beispielsweise im Jemen sinnlos. Den ironischen oder gar blasphemischen Gebrauch eines religiösen Paradigmas zu verbieten, läuft darauf hinaus, es aus dem Bereich der Kultur auszuschließen und allein im Religiösen zu verorten. Dann ist es nur der Besitz der Gemeinschaft der Gläubigen, die verlangt, als solche anerkannt zu werden. Nicht mehr die Kultur begründet die Identität, sondern allein der Glaube. Die "reine" Religion ist die, die sich von jedem kulturellen Bezug lossagt. Indem die Kirche sich die Hoheit im Umgang mit religiösen Symbolen sichert, drückt sie das Gegenteil dessen aus, was sie mit ihrem Beharren auf der Wichtigkeit der christlichen Kultur in Europa eigentlich sagen wollte: Sie verteidigt nicht mehr eine Universalität - obwohl sie natürlich denkt, dass ihr Partikularismus etwas Universelles ist-, sondern eine in sich abgeschlossene minoritäre Gemeinschaft, die verlangt, das Gesetz solle die Gefühle ihrer Mitglieder schützen. Sie folgt einer kommunitaristischen Logik von derselben Art, als wollte man die Rechte von Homosexuellen verteidigen oder sexistische Scherze verbieten. Ihr Handeln entspricht dem, was überall auf dem Feld der Religion zu beobachten ist, angefangen mit dem Islam: Religiöse Wiedererweckungsbewegungen blühen, weil sie Religion und Kultur voneinander entkoppeln, die religiösen Marker aus jedem gesellschaftlichen Kontext herauslösen und eine klare Trennungslinie zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Häretikern und Skeptikern ziehen. Aber die mehr oder weniger christliche Kultur, auf die Europa sich mit Recht berufen kann, hat nicht mehr viel mit einem reinen und ach so gefährdeten Glauben zu tun, der um den Schutz der Gerichte bettelt. Die Religion hat die Kultur verlassen: Die Kirche ist zu einem Agenten der Säkularisierung geworden.
Wir finden dafür auch Beispiele in der muslimischen Welt, ein besonders kurioses ist die bereits erwähnte Verfügung des malaysischen Innenministeriums, dass Christen für Gott den Begriff "Allah" nicht verwenden dürfen. Diese Bezeichnung bleibt dem Gott der Muslime vorbehalten. Aber auf Arabisch bedeutet "Allah" Gott allgemein, was sich auch daran ablesen lässt, dass die arabischen Christen von Allah sprechen. Hier wurde ebenfalls der religiöse Marker von seinem kulturellen Gebrauch, in dem Fall in der Sprache, abgelöst und für die religiöse Identität okkupiert.
Die Gläubigen nehmen die sie umgebende Kultur als einen Angriff auf die Religion wahr, als permanente Blasphemie. Aber die Exkulturation der Religion funktioniert in beiden Richtungen: Das Religiöse verliert seine kulturelle Verwurzelung, und die Kultur hat ihre religiösen Wurzeln sowie alles profane Wissen über das Religiöse vergessen. In der muslimischen Welt trifft man heute viele säkulare Intellektuelle, sogar solche, die sich öffentlich als Atheisten bekennen wie Abdelwahab Meddeb, die umfassend mit der religiösen Kultur vertraut sind. Im ehemals christlichen Westen ist das nicht mehr der Fall. Die Antiklerikalen des 19. Jahrhunderts hatten einen religiös geprägten kulturellen Hintergrund, oft weil sie selbst aus religiösen Zusammenhängen kamen, man denke an die Seminare und Schulen, die von Orden wie den Jesuiten geleitet wurden. Umgekehrt waren die Agnostiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts häufig viel nachsichtiger gegenüber der Religion, die ihnen eher seltsam, unangemessen, exotisch und extravagant als bedrohlich erschien - das zeigt die Popularität eines Johannes Paul II. -, weil sie ihnen fremd blieb. Es ist kein Zufall, dass man seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in Frankreich über einen weltlichen, laizistischen Religionsunterricht nachdenkt, denn es gibt praktisch kein profanes Wissen mehr über Religion. Wir haben es mit einem Paradox zu tun: Wer der Rückkehr des Religiösen den Weg bereitet, als Bekehrter oder Wiedergeborener, tut dies ohne Wissen über die Religion, das er später erwerben kann oder auch nicht, aber auf jeden Fall als ein von jedem kulturellen Kontext losgelöstes Wissen. Wie wir noch sehen werden, ist es verblüffend, wie wenig die Fundamentalisten über ihre jeweilige Religion wissen.


Die Kultur hat das Religiöse vergessen

Folgender Satz ist heute ein Gemeinplatz: Die profane Kultur hat ihre religiösen Wurzeln vergessen. Das hat nichts mit Antiklerikalismus zu tun oder einer militant antireligiösen Haltung. Es geht schlichtweg um Unwissen. Man weiß nicht mehr, was "religiös" bedeutet, selbst wenn man das Etikett weiter verwendet. In Frankreich wurde im Jahr 2006 eine Gruppe von Personen befragt, die auf die Frage: "Sind Sie katholisch?" ausdrücklich mit Ja geantwortet hatten.(11) Die Frage an sie lautete: "Was ist der wichtigste Grund, warum Sie sich als katholisch definieren?" 55 Prozent sagten, sie seien in eine katholische Familie hineingeboren worden, und nur 21 Prozent nannten den Glauben. Aus der Umfrage geht auch hervor, dass nur 26 Prozent derjenigen, die sich in Frankreich als Katholiken bezeichnen, die Existenz Gottes für gesichert halten. 2007 konstatierte der Erzbischof von Paris, Andre Vingt-Trois: "Wegen des starken Rückgangs der Katechese können viele Erwachsene gar nicht mehr Stellung zum christlichen Glauben beziehen, denn sie wissen nichts darüber. Dessen Symbole und zentralen Begriffe sind für sie zu etwas Fremdartigem und Exotischem geworden. Viele Katholiken haben im Übrigen das Ausmaß der gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Wandels noch gar nicht begriffen. Glaube und Gott, Nächstenliebe, Teilen, die Fähigkeit, sich in den Dienst anderer zu stellen, sind nicht länger die Werte, an denen die Gesellschaft sich orientiert."(12) Im Hinblick auf die neue Katechese sagte er, "es geht weniger darum, den Glauben zu festigen oder zu vermitteln, sondern darum, überhaupt erst die Grundlagen dafür zu legen angesichts der Tatsache, dass zwar 70 Prozent der Franzosen sich als Katholiken bezeichnen, aber nur 5 Prozent den Glauben praktizieren".(13)
Als Kommentar zu der Umfrage erklärte Pater Madelin: "Kann man von einer Minderheitskultur sprechen? Offenbar, wenn man sich anschaut, wie wenig Katholiken ihren Glauben in die Praxis umsetzen. Aber für mich, der ich in Brüssel lebe, ist das keine französische Besonderheit. Ein belgischer Bischof hat kürzlich gesagt, seine Kirche werde [in Belgien] bald genauso in der Minderheit sein wie in der Türkei, das heißt in einer Situation, bei der ihr Einfluss nicht mehr die vorrangige Matrix darstellt. [...] Die Zahl der Kinder, die im Glauben unterwiesen werden, ist in Frankreich auf einen sehr tiefen Stand gesunken. Dieser Punkt fehlt in der Umfrage, und die Kirche breitet schamhaft einen Schleier darüber, obwohl er von entscheidender Bedeutung ist. Er erklärt nämlich, warum die französischen Katholiken, bei denen inzwischen eine zweite Generation ohne religiöse Unterweisung herangewachsen ist, die Glaubenslehren nicht praktizieren: Sie kennen sie ganz einfach nicht mehr!"(14) Diese Unwissenheit beunruhigt sogar die säkularen Milieus: Die Gründung des europäischen Instituts für Religionswissenschaften 2006 in Paris entsprach dem Wunsch nach profanem Wissen über die Religion. Aber wie kann man Religion lehren, ohne vom Glauben zu sprechen?
Die Klage durchzieht alle Religionen.(15) Auch solche Religionen, die eine Mehrheit vertreten, haben es sich zum Ziel gesetzt, Menschen zu bekehren, die sich zwar nominell auf sie berufen, aber jegliches religiöse Wissen verloren haben. Das gilt zum Beispiel für Bewegungen wie die Tablighis im Islam oder die Lubawitscher im Judentum.(16) Sie wollen aus einer nominellen Zugehörigkeit wieder eine echte Praxis machen.
Im Frühjahr 2006 tauchten entlang der Autobahnen in Quebec merkwürdige Werbetafeln auf: In Großbuchstaben waren typische Flüche aus Quebec zu lesen wie "Tabernakel" und "Kelch", jeweils gefolgt von ihrer Definition - die eine religiöse ist. Die Initiative zu der Kampagne war vom Erzbischof von Montreal ausgegangen. Es sollte daran erinnert werden, dass die Flüche einen christlichen Ursprung haben. Man flucht mit dem Heiligen, entsprechend dem französischen Wort für fluchen, jurer, das auch schwören bedeutet.(17) Wenn die Menschen fluchen, ohne dass sie wissen, was sie sagen, hat die dominierende Kultur jeden Bezug zur Religion verloren. Und der Kirche ist nichts Besseres eingefallen, als die profane Unwissenheit als Anknüpfungspunkt zu nehmen, um religiöses Wissen zu vermitteln oder ganz schlicht daran zu erinnern, dass es sie gibt.(18)
Eine neue Debatte in der christlichen Welt dreht sich um religiöse Feste. Seit Ende der 1990er Jahre hat Halloween in Frankreich Verbreitung gefunden und den Zorn vieler Bischöfe geweckt, die es als "heidnisches Brauchtum" anprangern. Damit haben sie vollkommen recht, es ist ein Beispiel für das Abgleiten des Profanen ins Heidnische, und dieser Prozess trennt das Religiöse und die Kultur noch weiter voneinander. Unübersehbar ist auch die Dechristianisierung von Weihnachten: Man geht nicht mehr in die Mitternachtsmesse, und der Weihnachtsmann oder Santa Claus sind wichtiger als das Christkind. Aber diese Dechristianisierung wird besonders in einem "multikulturalistischen" Kontext offenbar, in dem viele Stimmen dafür plädieren, dass der christliche Bezug um der religiösen Neutralität willen ganz verschwinden sollte. So wird in Amerika der Begriff Christmas mittlerweile oft vermieden und durch Holiday oder Yule, einer germanischen Bezeichnung für die Wintersonnwende, ersetzt. Die großen amerikanischen Geschäfte wünschen auf ihren Plakaten nicht mehr Merry Christmas, sondern religiös neutrale Season?s greetings, sehr zur Empörung vieler Christen.(19)
Angesichts der Trennung zwischen profaner Kultur und Religion erleben wir bei den christlichen Autoritäten zwei gegensätzliche Reaktionen: Da sind einmal die, die Weihnachten rechristianisieren wollen und dafür kämpfen, dass das Wort Christmas nicht verschwindet; sie setzen sich dafür ein, den religiösen und den kulturellen Marker wieder zusammenzubringen. Man denke an die Erklärung von Papst Benedikt XVI. vom 9. Dezember 2006, in der er forderte, in Klassenzimmern und Gerichtssälen solle es weiterhin sichtbare christliche Zeichen wie das Kruzifix geben. Auf der anderen Seite gibt es die Stimmen aus dem Umfeld eines fundamentalistischen Protestantismus, die die religiöse Sphäre und das Profane, das als strukturell heidnisch wahrgenommen wird, vollkommen trennen wollen. Ihr Vorbild ist die Vertreibung der Händler aus dem Tempel, ein bei dem Theologen Karl Barth immer wiederkehrendes Thema. Tatsächlich hat der Wunsch der Protestanten nach einer Trennung von Staat und Religion nichts mit Liberalismus zu tun, sondern rührt im Gegenteil von einer Form des Fundamentalismus her, die wir übrigens auch im islamischen Schiismus finden. Die amerikanischen Puritaner feierten Weihnachten nicht, und zu Anfang des 19. Jahrhunderts trat an diesem Tag der amerikanische Kongress zusammen, denn für die strengen Protestanten gibt es keine Grundlage in der Bibel, die rechtfertigen würde, diesen Tag zu feiern. Hier ist vielleicht der Hinweis von Interesse, dass das moderne Weihnachten (als ein Fest der Familie, das rund um den Kamin gefeiert wird, mit Weihnachtsbaum und Geschenken) tatsächlich ein erster Schritt in Richtung einer Dechristianisierung der Geburt Christi ist. Denn es entstand im viktorianischen England im Gefolge von Charles Dickens Buch A Christmas Carol, und es handelte sich tatsächlich um einen Bruch mit der unter Christen damals üblichen Art zu feiern, bei der man die Wärme des heimischen Herdes verließ und in nächtlicher Kälte zur Kirche ging. Wieder erweist sich eine vermeintliche "christliche Tradition" als eine kulturelle Erfindung.
Eine ähnliche "Heidnisierung" religiöser Feste finden wir auch im Judentum und im Islam: Seit 2001 ist in den Vereinigten Staaten die Zahl der zu Thanksgiving als hallal verkauften Truthähne explodiert, was bedeutet, dass hier ein muslimischer religiöser Marker, hallal, über einen amerikanischen kulturellen Marker gestülpt wird, ohne dass man sich Gedanken über die religiöse Bedeutung des Fests macht. Zudem mischen sich jüdische Feste mit christlichen Festen, vor allem wenn die Feiertage auf dem Kalender zusammenfallen; die religiösen Marker beider Seiten werden dann wie kulturelle Marker behandelt.(20)
Aber die Trennung von Religion und Kultur bringt es mit sich, dass der Zwischenraum verschwindet, die Abstufung. Der Übergangsbereich zwischen Unglaube und der Glaubensgemeinschaft war definitionsgemäß der Bereich der religiösen Kultur. Er wurde Mitte des 20. Jahrhunderts zum Objekt der soziologischen Erforschung, als die Gläubigen nach der Intensität ihrer religiösen Praxis klassifiziert wurden, etwa von Fernand Boulard, einem Priester, oder Gabriel Le Bras. Dieser Zwischenbereich rechtfertigte angepasste Formen der Seelsorge und die Einbeziehung von Priestern in weltliche Aktivitäten, was im Aufkommen von Arbeiterpriestern kulminierte. Das Zweite Vatikanische Konzil rechtfertigte nachträglich diese "Inkarnation des Christentums" in der Welt. Aber seit der Wahl von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1978 ist eine Rückbesinnung auf die "Glaubensgemeinschaft" oder das "Volk Gottes" zu beobachten; die Zwischenstufen verblassen und werden zunehmend durch das Prinzip des "Entweder-oder" ersetzt. Wie wir sehen werden, tragen auch die Religionen selbst zur Verstärkung der Dichotomie und zum Verschwinden einer weltlichen religiösen Kultur bei, indem sie die Kriterien für die Zugehörigkeit verschärfen.(21) Die Religion wird gemäß Begriffspaaren wie Erfülltheit gegenüber Leere gedacht, beziehungsweise als Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Engagement, Identität und nicht mehr im Hinblick auf ihre Präsenz
in der Welt. Die "Welt", das heißt die umgebende Gesellschaft, erscheint verdächtig, bedrohlich, beschmutzend, denn sie ist feindselig, materialistisch und unrein, mit einem Wort: heidnisch.

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Mit freundlicher Genehmigung des Siedler Verlages

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