Vorgeblättert

Leseprobe zu Paul Veyne: Foucault. Teil 3

12.03.2009.
Er hatte keine Angst vor dem Tod, so sagte er seinen Freunden, als man wieder einmal auf den Suizid zu sprechen kam (als guter Samurai trug er die beiden Schwerter bei sich, von denen das kürzere dazu dient, sich umzubringen), und die Fakten haben bewiesen, dass dies keine leeren Worte waren. In seinen allerletzten Lebensmonaten war er damit beschäftigt, seine beiden Bücher über die antike Liebe zu schreiben und umzuschreiben, und damit die Verpflichtung einzulösen, die er sich selbst gegenüber eingegangen war. Manchmal ließ er mich eine seiner Übersetzungen überprüfen, und er klagte über hartnäckigen Husten und ständiges leichtes Fieber. Aus Höflichkeit bat er mich, meine Frau, die Ärztin ist, um Rat zu fragen; sie konnte ihm nicht weiterhelfen. "Deine Ärzte werden sicher denken, dass du Aids hast", sagte ich im Scherz zu ihm (die gegenseitigen Neckereien über unsere unterschiedlichen sexuellen Präferenzen gehörten zu den Ritualen der Freundschaft). "Das ist genau das, was sie denken", antwortete er mir lächelnd, "das habe ich jedenfalls den Fragen entnommen, die sie mir gestellt haben." Der Leser wird kaum glauben können, dass in diesem Februar des Jahres 1984 Fieber und Husten niemandem verdächtig vorkamen; Aids war noch eine so ferne und unbekannte Geißel, dass man sie ins Reich der Sage verwies und für nur imaginär halten konnte. "Übrigens", fragte ich ihn einmal aus purer Neugier, "gibt es Aids tatsächlich, oder ist das bloß eine moralisierende Legende?" - "Hör zu", antworte er mir nach einer Sekunde des Nachdenkens, "ich habe mich mit dieser Frage beschäftigt, ich habe eine ganze Menge dazu gelesen: Ja, es gibt Aids, es ist keine Legende. Die amerikanischen Ärzte haben sich eingehend damit befasst." Und er lieferte mir in zwei oder drei Sätzen einige fachmännische Details. "Er ist schließlich Medizinhistoriker", sagte ich mir. In den Zeitungen erschienen damals ein paar kurze Notizen amerikanischer Herkunft über den "Krebs der Homosexuellen", in denen die reale Existenz dieser Geißel in Zweifel gezogen wurde.

Rückblickend verschlägt mir seine Kaltblütigkeit angesichts meiner törichten Frage den Atem. Er selbst muss vorausgesehen haben, dass es eines Tages so weit sein würde, er muss sich die Antwort, die er mir gegeben hatte, wohl überlegt und sich auf mein gutes Gedächtnis verlassen haben. Seitdem hatte sich in mir eine verdrängte Unruhe breitgemacht, die sich immer wieder in missglückten Scherzen über Foucaults Gesundheit niederschlug und schließlich in einer Halluzination genau an seinem Todestag gipfelte, am Montag, dem 25. Juni 1984, wenige Stunden vor dem Anruf eines anderen Freundes, des Japanologen Maurice Pinguet, der mich von Tokio aus, wo man die Nachricht gerade im Radio verkündet hatte, über Foucaults Tod informierte.

So also lebte und starb dieser Weltverbesserer, dieser unermüdliche Reformer, der weder Utopist noch Nihilist war und auch kein Konservativer oder Revolutionär. Darf ich von seinem gesunden Menschenverstand sprechen? Seine Erkenntnisphilosophie stand im Gegensatz zur Rolle der Vernunft in der Geschichte. Doch reden wir auch von seinem scharfen Blick, der unerbittlich, durch die Essenzen hindurch, das Arbiträre der Singularitäten erkannte. Dieser elegante Mann, der sich durch seinen kühlen Kopf und die Klarheit seiner Gedanken auszeichnete, war mutig, unbeugsam, eher schneidend als ironisch (die Ironie, diese Fistelstimme ?). Er war über die Feindseligkeiten und Eifersüchteleien, die er in seiner Umgebung provozierte, völlig im Bilde, ein hellsichtiger Psychologe der Mittelmäßigkeiten.

Ohne Hemmungen brachte er die Stärke seines Egos zur Entfaltung, aber aufgrund desselben Prinzips lehnte er auch jede psychologische Unehrlichkeit sich selbst gegenüber ab: Er sündigte beherzt (pecca fortiter, sagte Luther) und stand dazu. Wenn er sich ungehörig benommen hatte, verdrängte er das nicht (die Moral war für ihn existent, er wollte sich auf keinen Fall wie ein Fiesling vorkommen müssen). Um sein Gewissen zu entlasten, hatte er das Bedürfnis, sich einem engen Freund anzuvertrauen (von dem er wusste oder vermutete, dass er über allen Klatsch und Tratsch in unseren Kreisen Bescheid wusste).

Ansonsten war er sehr sensibel und konnte von ganzem Herzen lieben; er verfügte über ein reiches Innenleben; dabei hatte er, so wie jedermann, seine kleinen Mängel und Phobien, auch seine Tricks und Großzügigkeiten, und er hat bewiesen, dass er sowohl zu hingebungsvoller Zuneigung wie auch zu verlässlichen oder leidenschaftlichen Freundschaften in der Lage war. Er war ein reaktionsschneller Gesprächspartner, dessen Gegenwart sich aufdrängte, ohne dass man sie als Last empfand. Höflich und zuvorkommend gegenüber allen, wollte er niemanden belehren und er war nicht herablassend. Diejenigen, die für ihn gearbeitet haben, ob Männer oder Frauen, berichten, dass er sie wie seinesgleichen behandelte und nicht ohne Herzlichkeit mit ihnen sprach. "Mit meiner Sekretärin verstehe ich mich gut: Wenn wir im Auto sitzen und die Passanten betrachten, gefallen uns dieselben Männer." Dieser alltägliche Egalitarismus war selbstverständlich, da Foucault immer er selbst war, innerlich gefestigt, erhaben über die verschiedenen konventionellen Verhaltensweisen, die den unterschiedlichen Milieus zu eigen sind. Manche seiner Gesprächspartner ließen sich davon irritieren und fragten sich, mit wem sie es eigentlich zu tun hätten.

Musik hörte Foucault eher selten, aber die Malerei liebte er sehr (seine Vorliebe für Manet ist allgemein bekannt), und er hatte ganz klare literarische Präferenzen. Um das Jahr 1955 gab es aus seiner Sicht zwei literarische Lager; zu dem einen, das er für unbedeutend hielt, gehörten z. B. Brecht, Sartre oder Saint-John Perse, zu dem anderen, dem allein guten, rechnete er Kritiker oder schöpferische Autoren wie Beckett, Blanchot, Bataille oder Char. Foucault besaß eine ausgeprägte literarische Sensibilität. Ich weiß noch, wie er eines Morgen wie ein kleiner Springteufel aus seinem Büro auftauchte, mit weit aufgerissenen Augen, ein offenes Buch in der Hand und sagte: "Hör mal, Veyne, findest du nicht auch, dass es in der Literatur Dinge gibt, die alles andere übertreffen? Für mich ist die Tirade des geblendeten Ödipus am Schluss von König Ödipus ?". Er ließ seinen Satz unvollendet.

Seine eigenen Bücher - um auf diese zurückzukommen - wiederholen unablässig: "Im Namen welchen Prinzips könnte ich oder könnten Sie ein bestimmtes Aktionsprogramm empfehlen? Lassen Sie sich doch nicht von der Gegenwart täuschen, die bereits Vergangenheit ist, sobald Sie sie wahrnehmen; Sie müssen sich vielmehr bewusst machen, was Sie wollen und was Sie nicht wollen." Ich denke oft an ihn, und dann kommen mir immer wieder, wie eine Art Gebet, vier Verse von William Carlos Williams über den Morgenstern in den Sinn (dass er mit dem Abendstern identisch ist, weiß seit Frege jeder moderne Logiker):

"It?s a strange courage
You give to me, ancient star:
Shine alone in the sunrise
Toward which you lend no part."

Die Vorlesungen Foucaults im College de France waren eine Massenattraktion, wie seinerzeit die von Bergson. Der Hörsaal war überfüllt, die Leute saßen, standen, manche lagen sogar, sie nutzten sämtliche Sitzgelegenheiten, hockten sogar auf den Treppenstufen. Bekannte Persönlichkeiten fanden sich ein, Theaterleute, ein ehemaliger Sekretär Stalins. Während der Vorlesung klapperten die Tonbandgeräte (die Kassetten der Vorlesungen wurden unter der Hand gehandelt). Pierre Nora und ich selbst waren anwesend, saßen brav Seite an Seite und dachten nach über das, was wir hörten.

Vor dem Auditorium, zu Füßen des Rednerpults, hatte sich auf dem Boden ein sehr schöner, schlanker und hochgewachsener junger Schauspieler der Länge nach ausgestreckt und hob seinen Kopf, elegant auf die Hand gestützt, zum Professor. Diese allegorische Gestalt, die zwischen dem Publikum und dem Redner eine klare Trennungslinie zog, bezeugte den großen Zulauf, den Foucault hatte. Die ostentative Gegenwart des jungen Mannes bewies, dass er dem Denken des Redners Anerkennung zollte; seine lässige Pose, die zwischen ihnen beiden und den allgemein anerkannten Konventionen eine Distanz herstellte und die Legende vollendete, war durch ihre gemeinsame Gruppenzugehörigkeit legitimiert.

Foucault achtete nicht darauf und ließ es geschehen. Mit einer eleganten Formulierung weigerte er sich jedoch, photographiert zu werden.

Die rue du Fouarre in Paris befindet sich ganz in der Nähe des College de France. Dante (er war die vollständigste menschliche Monade, die je existierte, interessierte sich für alles und erhob alles zu einer Leidenschaft) ließ in seinem Paradies Siger von Brabant auftreten (dieser war im Jahre 1277 vom Bischof von Paris verurteilt worden, weil er die Wahrheiten der Philosophie den Offenbarungen des Glaubens entgegengestellt hatte). Von ihm sagte Dante:

"Essa e luce eterna di Sigeri,
che leggendo nel vico de li strami,
sillogizo invidiosi veri."

"Es ist die ewige Leuchte des Sigerus,
Der einstens in der Rue de Fouarre
Mit scharfem Geiste bittre Wahrheit lehrte."


Mit freundlicher Genehmigung des Reclam Verlages

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