Vorgeblättert

Leseprobe zu Regie: Ruth Berghaus. Geschichten aus der Produktion. Teil 2

05.08.2010.
Jürgen Flimm
Die Generalin Ruth

Inszenierungen am Thalia Theater Hamburg
(1989 bis 1995)



Der Schauspieler tobte und schrie, riss sich die Jacke vom Leib und drosch damit im Bühnenbild herum und wollte nicht enden. Völlig stumm und starr saß im dunklen Zuschauerraum die grauhaarige Regisseurin, wie unbeteiligt eben schaute sie dem wütenden Gezappel da oben zu. Als ich aufstand, um das Rumpelstilzchen zur Ordnung zu rufen, hielt sie mich und sprach leise und wie immer mit ein wenig Sachsen in der Melodie: "Nee, lass ihn, das brauchta." So saß sie mit hochgerecktem Kopf und verschränkten Armen und wartete mit Engelsgeduld, bis schließlich der Zorn in kleinen und kleineren Wölkchen verrauchte und Ruhe eintrat und alles ziemlich trödelig wurde. "So, nun haste ein bisschen rumgeschrien, nu is auch gut so, jetzt gehen wir wieder an die Arbeet, Kollegen." Der Schauspieler K. lächelte verlegen und nahm seine Jacke wieder auf, die Kollegin F. rief ihm das Stichwort quer über die Bühne zu und los ging?s, bis die Regisseurin die nächste Anweisung gab. Wer hätte sonst wohl gleichermaßen die Nerven behalten?
     Weil sie derart diszipliniert und beherrscht war, hieß sie bei uns am Hamburger Thalia nur die Generalin; adrett, präzise, pingelig geradezu. Aber sie konnte auch arrogant auftreten und Widersprüche besserwisserisch herunterbügeln, dann schnitt die Stimme und es konnte kalt werden, als sei gerade ein Fenster weit aufgesprungen und weiße Winterluft in den Raum gezogen.
     Irgendwann muss sie sich das alles selbst angeordnet haben und kam wohl klar damit: Mit diesen Lebensprinzipien der Ruhe und Geduld und Ordnung. Auf sie war Verlass, von all den vielen Regisseuren, die damals in meinen langen Jahren am Thalia dabei waren - da gab es auch furchterregende Kawenzmänner, Monster und preziöse Regieasthmatiker -, kam sie fast biblisch daher: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein.
     Sie nahm, was sie bekommen konnte, begann pünktlich und beschloss die Arbeit am Text zum genau verabredeten Punkt. Dazwischen gab es kein Gejammer, Geraunze oder Gemaule. Einmal suchte sie mich in meinem Büro auf und beschwerte sich in einem ausführlichen Monolog über einen Schauspieler, den ich ihr wortreich Wochen zuvor vorgeschlagen hatte. So nahm ich am Ende ihres kleinen Plädoyers alle Schuld auf mich - als hätte ich das wissen müssen - und bot ihr an, mit dem Künstler eine Unterredung anzuberaumen, mit dem erklärten Ziel, ihn umzubesetzen. Sie schaute mich fassungslos an, von Umbesetzung könne keine Rede sein. Warum sie mir aber all das erzähle? Aber irgendjemandem muss ich es doch erzählen, wem, wenn nicht Dir, meinem Intendanten. Und sprang auf und verließ schnurstracks des staunenden Direktors Büro. Die Brechtschen recht albernen Verse über die "Lust des Beginnens" waren ihr so eine Art Morgenchoral.
     Viele andere freilich hassen geradezu die erste Probe, oder fürchten sich vor den spöttischen Augen der Sänger oder Schauspieler, vor den ersten Entscheidungen. Diese Angst war ihr fremd, sie hatte schon alles parat: In ihrem kleinen Haus unter Bäumen am See in Zeuthen entstanden die Aufführungen. In ihrem klugen Graukopf hatte sie schon alles ausgedacht, was sie später mit ahnungslosen Komparsen in Kompaniestärke auf der Bauprobe durchexerzierte. Eine Generalin eben, der jedes Stück ein Schlachtplan ist. So wusste sie immer einen Beginn, war die Bauprobe also schon so ein schleichender Anfang: "Einmal muss man doch anfangen, dann doch lieber gleich!", war die entsprechende Antwort auf entsprechende Fragen. Wallungen der Gefühle waren ihr abhold. Das spezielle Pathos Müllerscher Inversalien war ihr verpönt. Das theatralische Moment, die raumgreifenden Bewegungen waren der Schülerin der großen Dresdner Choreografin und Lehrerin Gret Palucca stets ein Herzensanliegen. Tänzerin ist sie augenscheinlich immer geblieben, kein Kopf ohne Körper.
     Die kleine Geschichte vom wütenden Schauspieler K. geschah während der letzten Arbeit von Ruth Berghaus am Thalia im Juni 1995 - Die heilige Johanna der Schlachthöfe.
     Als ich Jahre zuvor endlich Klaus Zehelein überredet hatte, als Chefdramaturg nach Hamburg zu kommen, begaben wir uns sogleich auf eine Reise nach Zeuthen. Da wir den Plan hegten, alle drei Stücke Georg Büchners auf den Plan zu setzen, lag es nahe, der Berghaus Dantons Tod anzutragen, Später inszenierte ich Woyzeck (1990) und Axel Manthey Leonce und Lena (1991).
     Und am 30. September 1989 hatten wir mit einer großartigen Aufführung von Büchners Meisterwerk Premiere. Es war viel Lärm nach dieser sehr rigorosen und ungewöhnlichen Aufführung. Die Schauspieler, an der Spitze Sven-Eric Bechtolf, Michael Maertens und Hans Kremer, wurden bejubelt, das Bild von Erich Wonder bewundert, die Musik von Heiner Goebbels bestaunt, und die, die alles dieses in Werk gesetzt hatte, die Generalin Ruth, wurde bebuht.
     Als sie zum wiederholten Male hocherhobenen Hauptes in das Gebuhe hinaus stolzierte, zupfte ich sie am Ärmel, um sie zurück zu halten, sie blitzte mich an, ich solle sie lassen, die Leute da hätten doch bezahlt, dann dürften sie auch ihren Unmut äußern und Buh rufen. Dieser Meinung bin ich im Übrigen bis heute nicht. Standhalten, nicht flüchten, hätte auch eine ihrer Losungen sein können!
     Mit DDR-Künstlern Verträge abzuschließen, war eine kniffelige Sache. Einige von diesen, die im kapitalistischen Westen herum sprangen, hatten hier eigene Konten, wie der grenzwandernde Dichterfürst Heiner Müller in Frankfurt. Es war nämlich üblich, Doppelverträge abzuschließen, einen mit der Künstleragentur der DDR und dem Genossen H., der später als enger Stasi-Mitarbeiter aufflog, und einen weiteren mit dem Menschen Künstler. Diese Gage blieb in der Regel am Arbeitsort auf einer genehmen Bank liegen. Das funktionierte sogar bei Jahresverträgen ?
     Als ich also die Berghaus fragte, ob sie auch eine solche Regelung bevorzuge, ließ sie mich sehr schroff abfahren. Sie denke nicht daran, ihren Staat zu betrügen. Kommt nicht infrage!
     Sie hätte freilich guten Grund gehabt, ihrer Republik zu grollen. In stillen Stunden konnte sie von dem bitteren Desaster erzählen, das ihr am Berliner Ensemble geschehen war. Und ihre Stimme zitterte dann immer noch vor Empörung. Die alte Prinzipalin Helene Weigel hatte die Berghaus zu ihrer Nachfolgerin bestimmt. Diese war zum ersten Mal als Choreografin der Schlachtszenen in Coriolan (1964) aufgefallen. Also diese begabte junge Frau sollte künftig das alte Traditionshaus erneuern, das war die gute Idee. Keiner der Meisterschüler des B. B., keiner der Museumswächter durfte sich Hoffnung machen. Die Berghaus scharte sogleich einige junge Theaterleute um sich, Talente wie Einar Schleef, B. K. Tragelehn und den aufmüpfigen Dichter Müller. Eine Inszenierung von Tragelehn und Schleef, Fräulein Julie (1975), gab Anlass zu hitzigen Debatten und erregten Versammlungen. Die Betonköpfe wedelten heftig mit Marx, Lenin, dem Allvater Brecht und allem, was so an sozialistischer Langeweile dazu gehörte. Sie hatten die Zeichen der Zeit nicht erkannt, Benno Besson und seine Volksbühne waren ihnen kein Beispiel!
     Die Nachlassverwalter, an der Spitze der Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall, behielten die Oberhand, die Berghaus und ihre jungen Leute mussten das BE verlassen, der Museumsoberaufseher Manfred Wekwerth folgte nach, und so grauer Stillstand. Vor diesem hatte der alte Brecht-Gefährte Paul Dessau die Frondeure gewarnt. Dessau war mit Ruth Berghaus verheiratet. Der Status quo ist eben ein miserabler Ratgeber. So versank das BE in trauriger Bedeutungslosigkeit und hat sich lange nicht von diesem Auszug erholt. Tragelehn, Schleef und auch Müller arbeiteten verstärkt im Westen. Die Opernkarriere der Ruth Berghaus ging im westlichen Ausland steil in die Höhe, das BE hat sie nie mehr betreten. Traumatisch tief saß dieser Schock.
     Das habe ich feststellen müssen, als wir über die Brecht-Stücke sprachen, die sie am Thalia inszenieren sollte, Im Dickicht der Städte, Die heilige Johanna der Schlachthöfe und Baal.
     Johanna? Das werde Barbara - die mit Schall verehelichte Tochter von Helene Weigel und Brecht - niemals zulassen. Ich musste ihr freilich die geänderte politische Situation beruhigend vor Augen führen: die Mauer war gefallen, die DDR in Konkurs gegangen. Und Johanna wurde ein großer Erfolg und kein Mucks aus Berlin-Mitte.
     Im Oktober 1991 hatte Im Dickicht der Städte Premiere. Es war wohl die beste Aufführung dieses wirren Stückes nach Klaus Michael Grübers genialer Deutung in Frankfurt 1973 und stand den Visionen des jungen Grüber in nichts nach. Wie in Dantons Tod spielte Bechtolf die Hauptrolle - hier den Shlink -, den Garga spielte Martin Wuttke. Das war radikal und zu Herzen gehend. Unvergesslich auch hier Wonders Raum. Es hat sie mit bei ihr seltenem Stolz erfüllt, beim Theatertreffen vor das Berliner Publikum zu treten, und wie fröhlich ließ sie sich feiern!
     Drei Jahre später, nach der Generalprobe der Johanna, saßen wir noch beieinander, wie wir es zu solchem Anlass jedes Mal taten. Ich versuchte, sie zu Baal zu überreden. Dann hätten wir doch die drei bedeutenden frühen Stücke des Meisters vom Schiffbauerdamm fürs Thalia gemacht.
     Vergiss nicht den Galileo, das war ein wichtiger Text für uns. Dann machen wir doch beide in den nächsten Jahren, entgegnete ich flott. Nein, sie wolle nun erst mal keine Verabredungen mehr eingehen, lächelte sie mich an, du verstehst. Nichts verstand ich, sie hatte sich doch immer bei uns am Thalia wohl gefühlt und das auch gesagt.
     Wenig später mussten wir verstehen. Sie war auf den Tod an bösem Krebs erkrankt. Sie kam noch einer letzten Freundespflicht nach und inszenierte an der Hamburger Staatsoper Medea von Rolf Liebermann - er hätte so viel für Paul Dessau getan -, und zog sich endgültig zurück.
     Ja, sie hat sich wie kaum jemand um die ästhetische Erziehung verdient gemacht. Sie hat dem ostdeutschen Theater die dogmatische Langeweile ausgetrieben, konsequent und prinzipiensicher, die alte, wundersame Generalin Ruth. Es hat den Museumswächtern und Fundusverwaltern nicht genutzt. Am Ende hat sie über alle staubigen Mucker und feigen Duckmäuser gesiegt. Sie konnte nicht zu Kreuze kriechen.

Jürgen Flimm

Geboren 1941 in Gießen. Er studierte Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität Köln. Ab 1971 entstehen eigene Schauspiel- wie Operninszenierungen. Von 1979 bis 1985 war er Intendant des Schauspielhauses der Stadt Köln, von 1985 bis 2000 des Thalia Theaters Hamburg. Von 2005 bis 2008 leitete er die RuhrTriennale, seit Oktober 2006 die Salzburger Festspiele. 2009 wurde er Berater der Berliner Staatsoper, 2010 deren Intendant. Flimm unterrichte an der Harvard University, der New York University und als Professor an der Universität Hamburg.


Teil 3