Vorgeblättert

Leseprobe zu Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Eine Biografie. Teil 2

14.09.2009.
Schmitt argumentiert nicht staatsrechtlich, sondern "rechtsphilosophisch". Er beschreibt nicht die gegebenen konstitutionellen Verhältnisse, sondern abstrahiert ohne Hinweis auf die geltende Rechtslage prinzipielle Voraussetzungen jedes möglichen legitimen Staates. Staaten sind nur als Rechtsstaaten legitim. Jeder Rechtsstaat konstitutionalisiert eine Unterscheidung von Macht und Recht und gibt dem Einzelnen normative Bedeutung. Schmitt argumentiert so auch oberhalb der Staatsformenfrage. Dabei vertritt er bereits einen anthropologischen Pessimismus, den er später Referenzautoren wie Donoso Cortes und Hobbes zuschreibt. "Das leibliche konkrete Individuum ist, wenn die Betrachtung sich nicht über die materielle Körperlichkeit erhebt, eine gänzlich zufällige Einheit", schreibt Schmitt, "ein zusammengewehter Haufen von Atomen, dessen Gestalt, Individualität und Einzigkeit keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt wird." (WdS101) Schmitt will dem "Einzelnen" seine metaphysische "Bedeutung" durch das Recht sichern, ohne schon ein "System der subjektiven Rechte" oder Grundrechte zu formulieren. Es geht ihm allgemeiner nur um die rechtliche Konstruktion der "Persönlichkeit": "Was immer die Persönlichkeit ist, bestimmt sich durch die Rechtsordnung selber" (I63). Schmitt skizziert auch eine zeitkritische Fassung seiner Überlegungen. Am Ende heißt es da: "Das Recht ist Norm, außerhalb der Welt, vor und nach der Welt. Das Recht als Zweck sucht die Norm zu verwirklichen. Das zu bewirkende Ergebnis ist nicht das Recht, sondern ein Zustand, der der Norm entspricht; das Recht kann also eigentlich niemals Zweck sein, sondern immer nur der rechtgemäße Zustand, die normgemäße Wirklichkeit. [?] Man wird zwei Arten des Rechts unterscheiden müssen. Das wesentliche Recht und das zufällige Recht. [?] Das positive Recht verdient nur abgeleitet den Namen Recht." (I66) Schmitt setzt also seine Unterscheidung von "substantieller Gerechtigkeit" und positivem "Recht" in einen eschatologischen Vorbehalt um und bindet das staatliche Recht an die "Zeiten der Mittelbarkeit"; später wird er hier vom "Normalzustand" und der "normalen" Situation sprechen. Er spricht auch vom "ius divinum" und "Naturrecht ohne Naturalismus".
     Die knappe Schrift Wert des Staates gliedert sich in eine Einleitung und drei Kapitel. Die Einleitung antwortet dem "Einwand der Unzeitgemäßheit". Dieser Einwand besagt, dass die Studie antiindividualistische Konsequenzen habe, weil sie die Bedeutung des Individuums an den Wert für den Staat knüpft. Unter Berufung auf Rathenau betont Schmitt, dass der "Individualismus der Gegenwart" dem "mechanistischen Zeitalter" widerspricht: "Eine Zeit, die sich skeptisch und exakt gibt, kann sich nicht in demselben Atem individualistisch nennen; weder der Skeptizismus noch die exakten Naturwissenschaften vermögen eine Individualität zu begründen" (WdS4). Schmitt meint, dass die Anerkennung der Individualität (des "modernen Menschen") nur durch eine rechtsphilosophische "Konstruktion der Individualität" erfolgen kann. Er kehrt die Einwände des "modernen Menschen" um und richtet sie gegen ihn. Die Rechtsphilosophie aber stünde auch mit den neuesten "Werken Stammlers und Cohens" erst am Anfang. Denn die "Frage nach der Möglichkeit der Rechtswissenschaft als Wissenschaft" (WdS12) sei noch nicht hinreichend gestellt. Schmitt begründet diese Möglichkeit im ersten Kapitel "Recht und Macht" durch eine Kritik der Machttheorie des Rechts. Solche Machttheorien wurden das lange 19. Jahrhundert hindurch in verschiedenen Varianten vertreten. So ließe sich zwischen rechtsphilosophisch anspruchsvollen Machttheorien vom Recht und begründungstheoretisch enthaltsameren Varianten - wie derjenigen Hans Kelsens, die die Frage nach dem "richtigen Recht" (Rudolf Stammler) als naturrechtliche "Ideologie" ausschließt - unterscheiden. Anders als in seinen späteren Arbeiten argumentiert Schmitt aber nicht wissenschaftshistorisch. Es geht ihm weniger um eine interne Widerlegung historisch vertretener Positionen als um eine externe Kritik, die unthematische Voraussetzungen aller möglichen Machttheorien aufdeckt.
     Schmitt unterstellt der "Machttheorie" vom Recht, dass ihre positive "Bewertung" der Macht ein "Vertrauen auf den Gang der Dinge und die Gerechtigkeit der Geschichte" (WdS23) ausspricht. Deren Wahrheit liege in der "Umkehrung der Antithese": "nicht das Recht wird aus der Macht, sondern die Macht wird aus dem Recht erklärt." (WdS24) Schmitt entnimmt der Machtheorie des Rechts ein quasireligiöses "Bekenntnis höchsten Vertrauens" auf die Geschichte. Der Zeit, "die sich skeptisch und exakt gibt", hält er eine "vollendete Skepsis" (WdS24) entgegen. Diese Wendung der Machttheorie gegen sich selbst genügt Schmitt, um die Eigenständigkeit des Rechts zu behaupten. "Wenn es ein Recht geben soll", meint er, "dann darf es nicht aus der Macht abgeleitet werden" (WdS29). Eigentlich tue das auch niemand. Systematisch gäbe es Recht nur, wenn es der Macht unverfügbar sei. Schmitt grenzt den "Endzweck" des Rechts damit von allen utilitären Zweck/MittelRelationen ab, begreift die Rechtsnormen mit seinem Däubler-Motto als "Gebot" und sucht im Staat das Rechtssubjekt, das zwischen Norm und Wirklichkeit vermittelt.
     Das zweite Kapitel "Der Staat" beschränkt die Definition des Staates auf den "idealen", "in seiner Idee erfassten Staat". Sieht die Machttheorie im Staat den Gesetzgeber kraft höchster Macht, so unterstellt sie erneut ein Recht der Macht: "Die höchste Gewalt, die den Staat ausmacht, ist ihrem Wesen nach eine Einheit, die nur durch wertende Kriterien gewonnen wird. Der Satz, das Recht könne nur von der höchsten Gewalt ausgehen, kehrt sich daher gegen die Machttheorie um und erhält den Inhalt, dass höchste Gewalt nur das sein kann, was vom Recht ausgeht. Das Recht ist nicht im Staat, sondern der Staat ist im Recht." (WdS47f) Damit ergibt sich als Definition des Staates: "Der Staat ist [?] das Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen." (WdS52) Er erhält seine "Legitimation" als "Träger" der Rechtsverwirklichung. Mit dem Staat erst wird Recht positiv. Mit ihm tritt die Differenz zwischen dem idealen und dem wirklichen Recht in die Welt. Der "abstrakte" Rechtsgedanke nimmt erst "in einem positiven, staatlichen Gesetz Gestalt" an: "Der Rechtsgedanke, der einer Umgestaltung der Wirklichkeit zur Richtschnur dienen soll, muss positiv werden, d.h. sein Inhalt wird durch einen Akt souveräner Entscheidung gesetzt; er wird zur Satzung und in konkreter Fassung ausgesprochen." (WdS78). Damit nimmt die Kritik der Machttheorie eine neue Wendung. Schmitt geht nun vom Staat als Mittler aus, der Macht und Recht mit seinem positiven Gesetz zugleich setzt, und verweist auf die alternativen Lösungen von Katholizismus und Protestantismus. Dabei nimmt er eine damalige Debatte zwischen den großen Theologen und Kirchenrechtlern Rudolph Sohm und Adolf Harnack um die Rechtsgestalt der Kirche auf. Ist das urchristliche Charisma rechtsförmig verfasst? Gibt es also ein göttliches Kirchenrecht? Schmitt stimmt Harnack(5) gegen Sohm zu und überträgt den Gedanken vom ursprünglichen Kirchenrecht auf den Staat. Er nimmt Sohms Vorbehalt gegen die kirchliche Institutionalisierung des Christentums aber ernst und hält ihn als eschatologischen Vorbehalt fest. Damit gelangt er zum abschließenden Kapitel "Der Einzelne".
     Hier erörtert er einige Konsequenzen für die "Bedeutung des Einzelnen". Eindringlich formuliert er, dass der Einzelne seine Bedeutung nur als "Beamter" und "Diener" in der "Hingabe" an die Aufgaben des Staates gewinne. Schmitt spricht von einer "Umschmelzung" und "Umformung" und verweist auf den Amtsbegriff der katholischen Kirche. Dabei nimmt er die einleitende Überlegung wieder auf, dass ein Individuum seinen juristischen Wert nur im Normsystem des Staates erhalte: "Durch die Zurückführung des Wertes des Individuums auf seine Aufgabe und deren Erfüllung ist [?] nicht die Würde des Einzelnen vernichtet, sondern erst der Weg zu einer gerechtfertigten Würde gezeigt." (WdS108) Abschließend formuliert Schmitt als eschatologischen Vorbehalt: "Es gibt Zeiten des Mittels und Zeiten der Unmittelbarkeit. In diesen ist die Hingabe des Einzelnen an die Idee etwas den Menschen Selbstverständliches" (WdS108). Schmitt verknüpft diese Unterscheidung mit einer "Gegenüberstellung von intuitivem und discursivem Denken" und deutet an, dass der Einzelne sein intuitives Verhältnis zur Rechtsidee in apokalyptischen Zeiten jenseits von Kirche und Staat finde. Damit stellt er das "Beispiel" der Kirche in den Horizont seiner später programmatisch formulierten "Politischen Theologie". Schmitts ganze Haltung zum Staat steht unter dem Vorbehalt, dass der Staat den Ausnahmezustand entscheidet, Ordnung schafft, "Zeiten des Mittels" und institutioneller Vermittlung stabilisiert und eine "Relation von Schutz und Ordnung" stiftet. Tut er dies nicht, so herrschen "Zeiten der Unmittelbarkeit". Dann erlischt die Loyalitätspflicht des Individuums und der Einzelne kann die politische Unordnung "eschatologisch" als "unmittelbares" Verhältnis deuten.

Recht                     Staat                     Der Einzelne                
Idee (Gebot) Macht                 Person (nicht: Individuum)
                                              Mittler
ius divinum            Gesetz                 Diener, Beamter
[Kirche]                 Autorität            [Papst]

Der Wert des Staates ist eine überaus wichtige Grundlegungsschrift. Später wird Schmitt nicht mehr derart eingehend argumentieren. Hier formuliert er sein antiindividualistisches Credo, dass der Einzelne nur im Rechtsstaat normative Bedeutung und "Würde" hat. Den Rechtsstaat nimmt er dabei als eine soziale Tatsache hin. Der normative Vorbehalt kennt eine religiöse Alternative. Das Kirchenrecht erscheint als Schule des Rechts. Schmitt formuliert einen weiten Rechtsbegriff in klassischen Traditionen und lehnt sowohl den neuzeitlichen Kontraktualismus als auch den deutschen Idealismus als anthropozentrische Legitimationstheorien ab. Am 19. Juli 1913 meldet er seiner Schwester den Abschluss der "rechtsphilosophischen" Studie. Mitte September schickt er sein Manuskript an den Mohr-Verlag. Er widmet es seiner "Pabla von Dorotic". Anfang Oktober erhält er die Zusage des Verlags und schon bald sitzt er an den Korrekturen. Am 11. Dezember erhält er seine Exemplare.(6) Schmitt bemüht sich um Rezensenten. So schickt er ein Exemplar an Georg Lukacs, für dessen Werk er sich zeitlebens interessieren wird. Das Buch hat einigen Erfolg und wird auch von der Kelsen-Schule positiv aufgenommen. Alfred Verdross übersendet eine Besprechung(7) (II498): Er habe über das Buch im "rechtsphilosophischen Seminar Kelsens referiert" und es habe in diesem "kleinen Wiener Kreise, der sich mit der Normentheorie beschäftigt, [?] großen Beifall gefunden".(8) Seitdem ist Schmitts Verhältnis zu Kelsen nicht nur negativ. Auch Carl Brinkmann(9) rezensiert die Schrift positiv und bleibt dann in lebenslanger Verbindung.
     Schmitt schiebt eine knappe Selbstanzeige nach, die er über Bruno Bauch in den Kant-Studien veröffentlicht.(10) In zweierlei Hinsicht ist sie interessant. Einerseits verdeutlicht sie die antiindividualistische Stoßrichtung, andererseits nimmt sie direkt zum Kriegsausbruch Stellung. Schmitt schreibt: "Der große Gegensatz, der alle menschliche Geschichte bewegt, ist nicht der von Staat und Individuum, sondern der von Staat (= Macht) und Recht. Das Individuum scheidet ganz aus. Seine Bedeutung bleibt derivativ." (I346)(11) Schmitt schreibt im Oktober, wenige Tage vor der Nachricht von Eislers Tod: "Das Buch ist 1913 geschrieben, Anfang 1914 erschienen und heute wird jeder, der noch die Ruhe hat, sich der ungeheuren Ereignisse in historischen und kulturellen Zusammenhängen bewusst zu werden, erschüttert sein von der Gewalt des Unpersönlichen, in der man das Zeichen dieser großen Zeit erblicken kann." (I347) Die "Ideen von 1914" werden hier als "Gewalt des Unpersönlichen" entlarvt. Das klingt wenig euphorisch.

Teil 3