Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Warshow: Die unmittelbare Erfahrung. Teil 3

12.05.2014.
Aus dem gleichen Grund lässt Trilling auch die Tatsache außer Acht, dass der von ihm beschriebene Stalinismus in erster Linie eine Erfahrung der Mittelschicht war: Er ist sich zwar der sozialen Herkunft seiner Figuren ebenso bewusst wie des Umstands, dass ihre Art zu leben und zu denken von dieser Herkunft bestimmt ist, aber letzten Endes"zählt" bei Trilling auch die Klasse nicht, und so kann er nicht zeigen, welchen Ausweg der Stalinismus aus der besonderen psychologischen Misere der Mittelschicht bot. Mehr noch, er ignoriert die Tatsache, dass die vom Stalinismus geprägte Mittelschicht zum großen Teil eine jüdische war - getrieben von der speziell jüdischen Verunsicherung, die zu derjenigen der Mittelschichten noch hinzukam. (Dieses Ausblenden wird umso offensichtlicher, als Trilling einen Juden in einer unbedeutenden Nebenrolle auftreten lässt.) So leben die Figuren in einem akademischen Vakuum moralischer Abstraktionen - ohne jede Geschichte. Doch der Stalinismus war eine durch und durch historische Erfahrung, eine bestimmte Reaktion auf bestimmte historische Zumutungen: Menschen, die sich auf ihn einließen, führten nicht einfach ihre persönliche Beziehungen in einer festen moralischen Ordnung fort. Hier wiederum weiß Trilling ohne Zweifel genau, was er tut: Er versucht, die stalinistische Erfahrung zu verallgemeinern, um ihre essenzielle Bedeutung klar werden zu lassen. Doch als Kunstform beruht der Roman auf Besonderheit: Das Besondere bekommt allgemeine Gültigkeit, ohne seine Besonderheit zu verlieren - darin besteht das Wunder. Trilling wäre dem Wesen der von ihm beschriebenen Erfahrung vielleicht näher gekommen, wenn er sie als Erfahrung einzelner Menschen in einer speziellen Situation hätte betrachten können - das heißt vielleicht, wenn er bereit gewesen wäre, sich seinem eigenen Verhältnis zu ihr zu stellen.
     Wenn sich Trilling aber daran macht, sein Material in eine gefühlsmäßig und moralisch passende Form zu gießen, scheitert er prompt an anderer Stelle. In Forsters Romanen dient die Melodramatik immer dem Plot oder als Mittel, um auf einen tieferen Gehalt hinzuweisen. Trilling versieht jedoch den tieferen Gehalt an sich mit einem melodramatischen Ton. Das macht sich besonders auf den ersten Seiten bemerkbar, die an den Auftakt einer ausgeklügelten Spionagegeschichte erinnern, wie auch in der Darstellung der Figur des Duck Caldwell, eines üblen und verantwortungslosen Repräsentanten der unteren Klassen, der mit einer moralisch gewichtigen Bedeutung beladen ist, die jenseits aller Realität steht (obwohl er auf der realistischen Ebene sehr gut gezeichnet ist). Die Aufregung um Duck Caldwell herum scheint fast ein wenig naiv, als könnte Trilling die Entdeckung des Bösen bekannt geben: Wenn es ein sentimentaler Irrtum war, der Arbeiterklasse eine Tugend und Unschuld zuzuschreiben, die sie niemals besaß, so ist es nur eine andere Form von Sentimentalität, beim Ausgleich dieses Irrtums zu weit zu gehen.
     Der Gefahr, seinem Material mehr Gewicht aufzubürden, als es tragen kann, kann kaum noch jemand entgehen - ein weiteres Zeichen dafür, dass das literarische Schreiben für das herkömmliche Talent zu anspruchsvoll geworden ist. Kein Wunder: wenn sich der Schriftsteller Erfahrung in jeder Hinsicht ausdenken muss, kann er sie eben nicht immer in den richtigen Proportionen halten.

Trilling mangelt es aber vor allem an Forsters Distanziertheit - dieses geradezu olympische Unbeteiligtsein (nicht zu verwechseln mit Neutralität), das Forster all das Vertrackte und Unklare von Erfahrung so mühelos erfassen lässt. Forster geht fast niemandem in die Falle - weder Margaret Schlegel noch Leonard Bast, nicht einmal Mrs. Wilcox, und schon gar nicht sich selbst. Trilling dagegen fällt sehr oft herein. Ich habe bereits Duck Caldwell und Gifford Maxim erwähnt, die Trilling immer todernst nimmt, wenn er sie dadurch imposanter machen kann. Emily Caldwell soll in dem Buch dagegen einen positiven Pol darstellen und die wahre Welt verkörpern, von der uns die Massenkultur der stalinistischen Linken entfremdet hat, doch entpuppt sie sich nur als weiteres Geschöpf eben dieser Kultur. Die kurze Affäre zwischen Emily Caldwell und John Laskell ist geradezu ein Paradebeispiel für die Vorstellung der linken Mittelschicht vom Sex: Er ist ehrlich, geradeheraus, erwachsen; er braucht keine unbeherrschbare Leidenschaft, sondern Zuneigung; er schafft keine Komplikationen, das heißt keine Verantwortlichkeiten; er findet bei Tage und unter freiem Himmel statt - und gleich nachdem Emily gebadet hat.
     Schließlich ist da John Laskell selbst, der verwirrte Mann mit Gewissen und gutem Willen, der die Irrtümer der stalinistischen Linken zu erkennen lernt und die"Schlussfolgerung" des Buchs formuliert. (Es muss bemerkt werden, dass man nicht einmal in Forsters schlechteren Romanen eine Figur gefahrlos als Sprachrohr des Autors bezeichnen kann, Trillings Identifikation mit Laskell aber ist unverkennbar.) Eben dieser Schluss zeigt, wie wenig es Trilling gelungen ist, sich von der kulturellen Atmosphäre freizumachen, die er zu überwinden versucht, denn er reduziert das ganze Problem der modernen Erfahrung auf eine Frage der richtigen oder falschen Meinung. Zwei Orthodoxien stehen einander gegenüber: Auf der einen Seite die Orthodoxie der stalinistischen Linken, derzufolge der Mensch ein Geschöpf seiner Umgebung und damit frei von moralischer Verantwortung ist, auf der anderen Seite die Orthodoxie der Religion, derzufolge der Mensch ein Kind Gottes ist und damit unendliche Verantwortung trägt - das heißt unendliche Schuld. Laskell lehnt beides ab:"Absolute Freiheit von Verantwortung - so sehr kann keiner von uns Kind sein. Absolute Verantwortung - so sehr kann keiner von uns göttliches oder metaphysisches Wesen sein." Laskell steht für die freie Intelligenz, für "die Idee in stetiger Modulation". Das ist, was verloren ging und wiedergefunden werden muss. "Worauf es einzig ankommt" ist, sich nicht zu fügen.
     Trilling hat sich damit endgültig auf das Niveau seines Sujets begeben: Wie die Stalinisten selbst kann er auf die Komplexität der Erfahrung nur mit einer Revision der Doktrin antworten. Seine Doktrin mag vernünftig sein (obwohl auch der Mittelweg eine Form der Heuchelei sein kann), doch tatsächlich ist sie irrelevant: Die Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht darin, mit seinen Figuren zu diskutieren, und wenn, dann sollte er sich nicht zu sehr anstrengen, die Diskussion zu gewinnen.
     Eigentlich sollte die Tugend der Distanz mit der Intelligenz einhergehen und daher nichts mit Empfindungen zu tun haben. Doch die Distanziertheit eines Schriftstellers beruht genau auf seiner Fähigkeit, eine möglichst angemessene emotionale und moralische Antwort auf Erfahrung zu finden, eine Antwort, die in dem Sinne objektiv gültig ist, dass sie der Erfahrung selbst innewohnt und sich sozusagen automatisch aus der"Wiedererschaffung" dieser Erfahrung ergibt. Trilling fehlt ein ästhetischer Bezug zur Erfahrung, und deshalb ist er gezwungen, Erfahrung in Ideen umzuwandeln, diese Ideen in seinen Figuren zu verkörpern und seinem Plot die Form einer intellektuellen Diskussion zu geben, die von Ereignissen bekräftigt wird. So verstrickt er sich persönlich mit seinen Figuren auf eine Art, wie es dem wahren Romancier niemals widerfährt, denn einige seiner Ideen sind seine eigenen, und mit anderen Ideen ist er nicht einverstanden, und deshalb muss er den Leser davon überzeugen, dass einige Figuren richtig und andere falsch liegen (obwohl richtig und falsch keine Eigenschaften von Menschen, sondern von Ideen sind); dagegen bemüht sich der echte Romancier nur, seine Figuren und ihr Handeln überzeugend darzustellen, was etwas ganz anderes ist. Es gibt viele intellektuelle Diskussionen in Forsters Romanen, und sehr oft wissen sowohl Forster als auch der Leser, wer recht hat; aber richtige oder falsche Ideen sind Teil der Erfahrung, sie sind kein Problem.

Ich habe mich so lange bei Forster aufgehalten, weil sich Trilling ganz offensichtlich an dessen Vorbild zu orientieren versuchte - wie auch an den von Forster verkörperten moralischen und intellektuellen Qualitäten (bis zu einem gewissen Grad aber auch an Henry James) ­ und weil der immense Unterschied zwischen den beiden Autoren nicht nur in dem ungleich verteilten Talent besteht. Das Problem ist nicht, dass Trilling kein großer Schriftsteller ist - eine lebendige Kultur hat Platz für kleinere Talente. Trilling hat aber überhaupt nicht begriffen, was es heißt, ein Schriftsteller zu sein. Mit diesem Versäumnis steht er nicht allein: In seinem Scheitern gelingt es ihm auf gewisse Weise, für uns alle zu stehen - wie er es mit einem Erfolg vielleicht nicht geschafft hätte. Das Problem bleibt: wie können wir in der Welt der Massenkultur die Hoheit über unsere Erfahrung wiedergewinnen? (1947)

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags Vorwerk 8 (Copyright: Vorwerk 8).

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