Vorgeblättert

Leseprobe zu Tidiane N'Diaye: Der verschleierte Völkermord. Teil 2

15.02.2010.
Lange Zeit war der Marabout sowohl Priester als auch Lehrer. Er brachte den Bekehrten die arabische Sprache in Wort und Schrift sowie einige Koransuren bei, aber auch den Hass auf alles, was nicht muslimisch war. Mit seinem Turban, den Sandalen und dem owon genannten Gewand war er unverkennbar. Für den Notfall trug er, nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche, stets einen Säbel oder ein Gewehr bei sich. Griffen diese Marabouts selbst nicht offen zu Gewalt, so waren sie häufig deren Urheber, vor allem gegen die "Ungläubigen" oder wenn es dar um ging, sich Sklaven zu beschaffen. Ein aloufa, der sich nur zu Pferd bewegte, um Heiden und anderen Fetischisten zu imponieren, hatte stets eine große Gefolgschaft um sich. Viele afrikanische Würdenträger konvertierten, weil sie sich in der Erscheinung des aloufa stark vom Islam angezogen fühlten.
     Die eigentliche Islamisierung Schwarzafrikas begann erst im 9. Jahrhundert, doch es dauerte zweihundert Jahre, bis sich - zunächst ausschließlich - die Eliten der westafrikanischen Stammesgebiete und Reiche zum Islam bekannten. Seine Expansion ist jüngeren Datums. Vor der europäischen Kolonisierung war der Islam, abgesehen von einigen wenigen Völkern und ihren Oberschichten, kaum verbreitet, bis er schließlich über die Sahara hin aus auch die großen westafrikanischen Handelszentren und den Sudan erfasste. Nubien und der obere Nil traten erst später über, während das Christentum nur noch in einigen Regionen Äthiopiens verbreitet war.
     Mit zunehmender Ausweitung der muslimischen Kolonien und stärkerer Verwurzelung des Islam und der arabischen Kultur in Afrika entwickelten sich hier über einen langen Zeitraum hinweg auch die Methoden der Menschenjagd, der Razzien und der Unterjochung der afrikanischen Völker weiter : 1870 schätzte der deutsche Afrikaforscher Georg Schweinfurth (1836 - 1925) die Zahl der in Ober-Oubangui und Bahr el-Ghazal tätigen arabischen Sklavenhändler auf zweitausendsiebenhundert. Zu Anfang bekannten sich die meisten Stammesführer oder Bevölkerungsgruppen aus rein strategischen Erwägungen zum Islam.

Diese Bekehrungen waren fragwürdig. Einige Chronisten beschrieben Soundiata Keïta*, König von Mali, "gekleidet wie ein großer muslimischer Würdenträger", der jedoch der schwarzen Magie frönte. Trotz ihrer Bekehrung zum Islam verzichteten zahlreiche kleine Herrscher selten auf ihre altüberlieferten Bräuche und andere animistische Überzeugungen. Interessant sind die Aufzeichnungen des arabischen Chronisten, Geographen und Forschungsreisenden Ibn Jobayr (1145 - 1217) über die Menschen, die er nicht ohne Verachtung auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka und der Durchquerung des Stammesgebietes der Bujas beobachtete : "Dieser Stamm von Schwarzen ist dümmer als das liebe Vieh und hat weniger Verstand. Diese Leute haben in Wirklichkeit mit einer Religion nur insofern etwas zu tun, als sie Gottes Einmaligkeit beteuern, um ihren Glauben an den Islam kundzutun, aber darüber hinaus ist alles in ihrem fehlerhaften Verhalten und in ihren Doktrinen unerfreulich und unstatthaft. Die Männer und Frauen laufen fast entblößt her um, bekleidet mit einem Tuch, um ihr Geschlecht zu verbergen, doch die meisten tun noch nicht einmal das ! Mit einem Wort, das sind sittenlose Menschen, und es ist also keine Sünde, sie zu verfl uchen und bis in ihre Dörfer zu verfolgen, um sich dort Sklaven zu beschaffen."
     Aber am Ende, als sich die afrikanischen Massen aus freien Stücken zum Islam bekannten, wurde der Gott des Propheten Mohammed zugleich der Gott der Fetischisten von Segu, der Fulbe von Massina oder der Ceddo aus dem Senegal. Viele dieser Gesellschaften bewahrten trotz allem ihre Unabhängigkeit. Einige von ihnen entwickelten sich zu großen politischen Gebilden, zu König- oder Kaiserreichen, wie die Mali-, Songhai- und Kanem- Reiche. Dessen ungeachtet teilte der Islam mit den Afrikanern zweifelsohne gemeinsame Werte und Verhaltensweisen : Fruchtbarkeit, Familiensinn, Vormachtstellung des Mannes, frühzeitige Eheschließungen und Polygamie. Dies war jedoch nicht immer so : Über Jahrtausende hinweg herrschte in den meisten afrikanischen Gesellschaften das Matriarchat, ohne dass die Vielehe verbreitet war. Die soziale Struktur des Matriarchats ist nicht, wie einige Ethnologen es zeitweise glaubhaft machen wollten, auf einen äußeren, vornehmlich arabischen Einfluss zurückzuführen. Die Islamisierung der Völker des Schwarzen Kontinents ist im Vergleich zum Matriarchat und zur Polygamie in der Tat jüngeren Datums. Im Zuge der Islamisierung nahmen zahlreiche Gesellschaften des Schwarzen Kontinents vielmehr das Patriarchat an.

Über die Malinke, eine der ersten zu dieser Religion bekehrten afrikanischen Gesellschaften, berichtete der Reisende und Chronist Ibn Battuta Folgendes : "Sie [die Schwarzen] tragen den Namen ihres Onkels mütterlicherseits und nicht den ihres Vaters ; nicht die Söhne beerben den Vater, sondern die Neffen, die Söhne der Schwester des Vaters. Ich habe diesen Brauch nirgendwo anders erlebt als bei den Ungläubigen von Malabar in Indien." Das Matriarchat, das niemals zu Konflikten Anlass gab, wurde stets als ein harmonischer und vervollkommnender Bund zwischen Mann und Frau erlebt. Diese soziale Struktur trug zum Gedeihen dieser traditionell sesshaften Gemeinschaften bei. Vor allem deshalb, schrieb der Historiker Joseph Ki-Zerbo (1922 - 2006) aus Burkina Faso, weil jedem einzelnen Mitglied entsprechend seiner körperlichen Verfassung Alltagsaufgaben zugeteilt wurden. In der Zulu-Gesellschaft zum Beispiel ist dieses System ein altes Erbe der Bantu-Vorfahren, die die Abstammung seit Jahrhunderten einem matrilinearen Modell unterwarfen (die Übernahme eines patrilinearen Systems durch einige abgewanderte bantuphone Varianten kann als ein Epiphänomen betrachtet werden). Die Entwicklung der afrikanischen Gesellschaften hin zum - heute vorherrschenden - Patriarchat geht im Wesentlichen auf den Einfluss der Araber und später der Europäer zurück. Mit Hilfe der muslimischen und christlichen Religion haben diese "Gäste" nach und nach das Patriarchat und zugleich eine für die Frauen unvorteilhafte koloniale Gesetzgebung durchgesetzt.
     Das System der Polygamie unterschied sich in Afrika kaum von dem der meisten anderen Gesellschaften in der Welt. Im Gegensatz zu einigen überkommenen Vorstellungen, die dar in eine afrikanische Besonderheit sehen, ist sie doch nicht das Merkmal eines bestimmten Volkes. Sie kennzeichnet weder die arabischen noch die europäischen und noch weniger die afrikanischen Völker. In Asien dagegen war sie schon immer verbreitet. Bekannt war sie auch in Griechenland zu Zeiten Agamemnons. Unter der germanischen Aristokratie zu Zeiten von Tacitus war sie gängige Praxis.

Lange Zeit, vom frühen Mittelalter bis zum 10. Jahrhundert, genossen in Afrika nur die Oberschichten das Privileg der Polygamie das Volk blieb zur Monogamie verpflichtet. In dieser Frage war die Gewährung von Sonderrechten bei den Afrikanern genauso ungerecht wie bei den Griechen und Ariyas.
     Dies änderte sich spürbar mit der Ausbreitung des Islam. Die Araber, die die Polygamie zwar nicht eingeführt hatten, hatten dennoch diese Praxis bei allen von ihnen bekehrten Völkern durchgesetzt. So etwa im Senegal, über den der französische Ministerialrat Burdo bemerkte : "Die Wolof kennen die Eheschließung, besonders stolz sind sie jedoch auf die Polygamie. Sie dürfen von Rechts wegen vier legitime Frauen ehelichen."
     Obwohl zahlreiche afrikanische Gesellschaften lange Zeit als kriegerisch bekannt waren, entsandten nur drei Königreiche auch Frauen in den Kampf. Um alle Kräfte in Dahomey zu mobilisieren, kam der Herrscher Gueze (1818 - 1858) auf die Idee, weibliche Kavallerie- und Infanterietruppen zu gründen, die den Namen "Jungfräuliche Amazonen von Dahomey" führten. Diese Einheiten kämpften zunächst in den zahlreichen Sezessionskriegen, die sich Dahomey und Yoruba lieferten. König Behanzin (er regierte zwischen 1890 und 1894) setzte sie später gegen die französischen Kolonialtruppen ein. Im Senegal sandte das Cayor- Reich 7 seine Lingueren (weibliche Verwandte ersten und zweiten Grades des Herrscherhauses) in verschiedene Kämpfe gegen die Trarza-Mauren 8. Wegbereiter aber war seit langem das Zulu- Reich, das über sogenannte Impis verfügte, das heißt aus jungen Frauen bestehende Regimenter, die sowohl im Kampf als auch in der Logistik eingesetzt wurden. Doch waren dies Ausnahmen. In den meisten schwarzafrikanischen Gesellschaften übernahmen die Frauen friedlichere Aufgaben, die Waffengänge blieben stets den Männern vorbehalten. Deshalb lag die Sterblichkeitsrate der Männer höher als bei den Frauen. Dies mag zum Teil die Verbreitung der Polygamie in diesen Gesellschaften erklären, weil dadurch Witwen und Waisen sozial aufgefangen wurden. Soziologisch betrachtet haben wir es hier mit einem Vorläufer der Patchwork-Familie zu tun.
     Diese Institution lebt dank eines anderen, scheinheiligeren, von einem Männerklüngel der modernen afrikanischen Gesellschaften ins Spiel gebrachten Arguments fort, dem zufolge die Monogamie zahlreiche Frauen zeitlebens zur Ehelosigkeit zwingen würde. Vorgetäuschte Großherzigkeit und Mitgefühl sind hier nichts weiter als Doppelzüngigkeit.

Teil 3