Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Teil 2

04.03.2013.
Im Laden der Gebrüder Volpi hat er sich zwischen Minolta, Leica und Pentax wegen des Auslösergeräuschs für eine Nikon entschieden. Dennoch wählt er nicht das Modell, mit dem David Hemmings in Antonionis Film Blow up Vanessa Redgrave durch einen englischen Park verfolgt. Er wählt die einfachste Nikon ohne Automatik, denn er ist ein langsamer, ein statischer Fotograf, auf sorgfältige Vorbereitung bedacht; nichts bleibt dem Zufall überlassen. Im Fotoladen vergleicht er auf einer Liste die angegebenen Verschlusszeiten der Kamera mit eigenen Messungen. Vielleicht lag es an dieser Genauigkeit, dass der Verkäufer, der 1965 die Rechnung abgezeichnet hatte, seinen früheren Kunden zehn Jahre später an einer Hauswand in Zürich wiedererkannte. Ehemalige Weggefährten hatten nach seinem Tod am neunten Mai 1975 ein Plakat im Gedenken an Philip S. angebracht. Der Verkäufer macht ein Foto und veröffentlicht das Bild in einer Zeitschrift. Wind und Regen haben das Gesicht noch nicht gänzlich abgelöst. Das Lachen in den Augen ist auf dem Foto zu erkennen, die breite Stirn, die Zahl achtundzwanzig, das Datum seines Todes und drei Wörter, die einmal einen Satz ergeben haben - "weiter", "Sinn" und "Leben".


II
Begraben ist er auf einem kleinen Friedhof am Rand von Zürich, wo es ins Weite hinausgeht, nach Forch oder Rüti. Der Weg zu seinem Grab führt an der Klinik vorbei, in der er 1947 zur Welt kam, geboren im Zeichen des Widders, von dem man sagt, dass er keine Vergangenheit kennt. Viele Jahre liegt er als einziger unter dem wuchtigen, mit einem Wappen verzierten Stein. Auf dem Grab eine junge Tanne. Verstreute Nadeln im Schnee. Heute ruht die Großmutter an seiner Seite. Sie hatte ihm manchmal etwas zugesteckt, nachdem er von zu Hause fortgegangen war, und er hatte ihren Familiennamen an den seinen angehängt. Ihr folgte Klari nach, die Hausangestellte und Kinderfrau, die er liebte. Die Großmutter und Klari haben ihn um fast zwanzig Jahre überlebt, die Eltern um mehr als dreißig. Geschäftsleute, die mit dem Bau von Verkehrsampeln reich geworden sind. Sein Elternhaus - eine Villa am Zürichsee.
Vom Bahnhof Tiefenbrunnen steigt das Ufer steil an bis zur Resedastraße. Seit sich unsere Wege getrennt haben, bin ich zum ersten Mal wieder in dieser Stadt. Ein leichter Regen fällt. Nach mehr als drei Jahrzehnten sitze ich gegenüber dem Haus auf einer niedrigen Vorgartenmauer und schaue auf dunkelrote geöffnete Fen­sterläden. Nur ein einziges Mal bin ich mit ihm die Treppe zu der Jugendstilvilla hinaufgestiegen. Der Besuch endete in der Eingangshalle. Jetzt sind Architekten eingezogen und zeigen die restaurierten Räume im Netz. In einem virtuellen Rundgang kann ich sehen, wie schön das Haus von innen ist, die runde Eingangshalle größer und weiter als in meiner Erinnerung. Mehrere im Halbkreis angeordnete Türen stehen offen und lassen mich in Räume schauen, die ich nie betreten habe. Ich weiß nichts von seiner Kindheit. Ich muss es mir vorstellen, wie er hier gelebt hat. Eine geschwungene Treppe führt in die oberen Stockwerke und zu seinem Zimmer. Von dort konnte er seinen täglichen Schulweg überblicken: das Seeufer entlang bis fast ins Zentrum, am Bellevueplatz links über die Quaibrücke auf die andere Seeseite. Er sei den langen Weg immer zu Fuß gegangen, hatte er einmal gesagt. Selbst im Winter kein Billett für die Tram, kein Fahrrad, keine Verwöhnung, keine Ausnahme von den puritanischen Regeln, die den Reichtum geschaffen haben. In seinem Elternhaus, auch das hatte er einmal gesagt, wurden keine Bücher gelesen, keine Bilder betrachtet, wurde keine Musik gehört. Es habe Gerechtigkeit geherrscht, aber Wünsche, Kinderwünsche seien nicht erfüllt worden. Stattdessen habe es Anschaffungen gegeben, wenn sie notwendig waren und etwas einbrachten.
Lustlos besucht er den Handelsschulzweig in der Kantonsschule im Stadtteil Enge. Er hatte sich dem Willen des Vaters gebeugt, der wenigstens den zweiten Sohn zum Nachfolger für das Unternehmen heranziehen wollte, wenn schon der erste ausgebrochen war, um Rennfahrer zu werden. Warenlehre, Bilanzkunde, Wirtschaftsgeografie und Handelskorrespondenz aber sind nicht die Sache von Philip S. Ein Jahr vor dem Abitur verlässt er die Schule mit einem durchschnittlichen Zeugnis. Nur in Deutsch erreicht er die beste Note. Er taucht ein in eine Welt der Worte und Bilder. Er zieht an den Waffenplatz. An klaren Tagen kann er von dort über den See bis zu seinem Elternhaus schauen. Aber es ist nicht mehr sein Zuhause, nur noch ein Blick zurück. Aus seinem Zimmer im oberen Stock hat er nichts mitgenommen, außer seiner Kamera.

Er ist neunzehn Jahre alt. Für eine Modezeitschrift arbeitet er als freier Fotograf, gleichzeitig nimmt er dort eine Halbtagsstelle als Grafiker an, und man bescheinigt ihm professionelle Fähigkeiten. Von seinem ersten Geld kleidet er sich ein. Kleidung ist für ihn mehr als etwas zum Anziehen; er bringt darin sein Anderssein zum Ausdruck, ein Bild von sich selbst, das er in Sorgfalt und Eile entwirft: seine Form des Aufbegehrens gegen die Eltern. Er lässt sich anfertigen, was nicht nützlich ist, was er nicht braucht und was er sich eigentlich nicht leisten kann - drei Hemden mit Monogramm, einen Anzug, Schuhe aus Pferdeleder und den langen schwarzen Mantel aus feinem Tuch. So hat er sich in der Erinnerung derjenigen festgesetzt, die ihn gekannt haben. Mal soll der Mantel einen Pelzkragen gehabt haben wie der von Oscar Wilde, dann wieder soll er aus Samt gewesen sein oder mit Seide gefüttert und vom besten Schneider Zürichs gefertigt, für einen Monatslohn.
Er dreht seinen ersten Film. Das Drehbuch hatte er mit einem Freund in den letzten Schulferien geschrieben. Der Film läuft im Winter 1967 auf dem Festival von Solothurn. Er umkreise den offenen und leeren Zustand seiner Generation zwischen Arrangement und Opposition, heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung. Später hat er den Film irgendwo liegen lassen, auf einem Dachboden, in einem Keller, niemand weiß, wo. Im Frühjahr wird er zwanzig und hat sich für ein Leben als Künstler entschieden. Er bezeichnet sich jetzt als freien Filmschaffenden; auf seinem Briefkopf nimmt er die Wörter "Film" und "Experiment" unter die Lupe, in einem kreisrunden Ausschnitt wiederholen sie sich, vielfach vergrößert.

Mit einem Maler, der ebenfalls einen langen schwarzen Mantel trug, teilte er sich ein Atelier in Zollikon. Er, sagt der Maler, sei damals sein bester Freund gewesen. Philip S. habe ihn bestärkt, als freier Künstler zu leben, aufopfernd sei er gewesen; von dem, was er bei der Modezeitschrift verdiente, habe er ihn über Wasser gehalten und den Zins für das Atelier bezahlt. Die Eltern hätten ihm nichts gegeben. Er hätte es auch nicht gewollt. Alles in ihm habe sich aufgelehnt gegen sein Elternhaus, diese eiskalte Fe­stung. Ein empfindsamer Mensch sei er gewesen und ein guter Fotograf. Philip S., sagt der Maler, habe ein Foto für das Plakat seiner ersten Ausstellung gestaltet. Drei Tage habe er in der Dunkelkammer gesteckt, bis er damit zufrieden war. Die Vorbilder, die er hatte, überholte er innerhalb kürzester Zeit. Dann ging er nach Berlin, und sie lebten sich auseinander. Aber er habe ihn sehr lieb gehabt, sagt der Maler Jahre später einer Züricher Zeitschrift.

Philip S. bewirbt sich an der Berliner Filmakademie, die ein Jahr zuvor gegründet worden war. Er wird als Cineast mit hohem Anspruch eingestuft. In seiner Bewerbungsmappe liegen neben Plakaten acht auf Aluminium aufgezogene Siebdrucke seines Freundes, des Malers. Die Bilder, ein Pop-art-Comic über eine Mädchengestalt, stellen ein visuelles Exposé für einen Film dar, den er plant, aber verwirft, als er nach Berlin kommt und ihn die Atmosphäre der immer noch verfallenen Stadt zu einem anderen Film anregt. Die Arbeiten seines Freundes legt er einzeln, jedes sorgfältig in Seidenpapier gewickelt, in eine Kartonschachtel.
Im Frühjahr 1967 kommt er für eine Woche nach Berlin zur Aufnahmeprüfung. Er schreibt eine mehrere Seiten lange Analyse einer knappen Spielfilmsequenz. Minutiös, Einstellung für Einstellung, rekonstruiert er die Handbewegungen zweier Ausbrecher, die ein Loch in eine Wand schlagen. Nach einem von ihm bewunderten Schriftsteller oder Komponisten befragt, nennt er in einem Atemzug
Georg Büchner, Alain Robbe-Grillet, Beethoven, Strawin­sky und die Rolling Stones. Er erwähnt weder Schubert noch Brahms, deren Musik er kurz darauf in einem Film einsetzen wird. Unter den bildenden Künstlern beeindruckt ihn vor allem Andy Warhol und von den Regisseuren Jean-Luc Godard, dessen Film Pierrot le fou ein Meilenstein sei. Godard erzähle, schreibt er, von der Wahrheit, vom Leben und vom Tod. "Pour être sur de vivre, il faut être sur de mourir."

Zu Semesterbeginn, Anfang September, bringt er seine wenigen Sachen in einem kleinen roten Citroën nach Berlin. Er kommt an wie ein Mensch ohne Hinterland. Er, der Mann der Bilder, besitzt kein Foto aus seiner Vergangenheit, keines, das ihn als Kind oder als Jugendlichen zeigt. Seine Familie, sein Elternhaus, seine Geschichte − von allem hat er sich getrennt, selbst von dem Namen, den die Eltern ihm gegeben haben. Auch seine Freunde lässt er zurück. Nichts davon spielt mehr eine Rolle in den acht Jahren, die er noch leben wird. Selbst seine Sprache bleibt dort, wo er geboren wurde. Bald wird er nur noch Hochdeutsch sprechen mit einem leichten Akzent. Selten unterlaufen ihm noch jene ungewöhnlichen Betonungen von Anfangssilben, an denen sich zeigt, woher er kommt. Wenn er in den folgenden Jahren doch hin und wieder in seiner Heimatstadt auftaucht, erscheint er wie ein Fremder oder ein Durchreisender, der
lange nicht mehr da gewesen ist.

zu Teil 3