Vorgeblättert

Leseprobe zu Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Teil 3

04.03.2013.
III
Nach seinem Tod, will mir scheinen, wird im Haus am Ufer des Zürichsees geschwiegen, als ob es Philip S. nie gegeben hätte. Die Nachricht von der Schießerei in Köln dringt im Morgengrauen an die Öffentlichkeit. Die Polizei weiß noch nicht mit Sicherheit, wer der Tote ist. Die Papiere sind gefälscht. Trotzdem gibt es einen Verdacht. Die Mutter macht sich auf den Weg, um Klarheit zu erlangen. Sie holt ihren Sohn nach Hause zurück. Heute würde ich gerne wissen, ob sie auch seinen Gürtel, den Kälbergurt mitgenommen hat, aber ich habe nie gewagt, danach zu fragen. Frühere Weggefährten, die ihm das letzte Geleit geben wollen, werden abgewiesen. Jetzt gehöre er wieder zur Familie, sagen die Eltern und halten seine Beerdigung geheim. Eingeschlossen in ihre Verstörung, stellen sie keine Fragen, wollen sie nichts wissen über die acht Jahre Leben zwischen seinem Weggehen und seinem Ende, sie wenden sich nicht an die Freunde, auch nicht an mich. Und sie beschließen, keine Antwort zu geben auf Fragen nach den Jahren davor. An Vergangenes solle man nicht rühren. So müssen sie die einzige Wahrheit über das Geschehene dem Polizeibericht entnehmen und den Zeitungen, die ihren Sohn einen Mörder nennen.
     Der Tod löscht das Trennende, heißt es in der Todesanzeige, aber danach scheint es in der Familie niemanden zu geben, der zu ihm steht. Auch der ältere Bruder nicht, in dessen Zügen sich vielleicht der jüngere wiederfinden ließe, wenn er länger als achtundzwanzig Jahre gelebt hätte. Aber der Ältere ist auf der Hut vor dem Toten, der als Terrorist gilt. Für den erfolgreichen Rennfahrer und Rennwagenkonstrukteur ist es eine gefährliche Nähe beim riskanten Geschäft mit der Hochgeschwindigkeit. Der ältere Bruder ist ein Mann, der Vertrauen und Zuverlässigkeit ausstrahlt. Wenn er in Interviews auf die Stationen seiner Karriere in Suzuka, Monza, Le Mans, Mexiko City, Bahrein, Shanghai oder sonst wo angesprochen wird, ist manchmal von seinem Vater die Rede, auch von seiner Frau und seinen Söhnen oder von dem letzten Bruder, dem Jüngsten. Wenn das Wort Familie fällt, merkt man nicht, dass da einer fehlt in der Reihe. Als ob es eine Absprache mit den Journalisten gegeben hätte, stößt das Gespräch nicht an die Leerstelle. Es stockt nicht bei der Jahreszahl 1975, als der Aufstieg des Ältesten in die Weltklasse beginnt, während der andere, abgestiegen in eine undurchschaubare Existenz, auf einem Kölner Parkplatz in seinen Tod rennt. Das Schweigen ist mächtig. Unbefleckt von den Schatten der Vergangenheit, jagen die Rennwagen über die Pisten der Welt. Auf der Karosserie der Name der Familie. Er steht für Tempo, Präzision, Kraft und Sicherheit. Auf den Toten fällt dennoch ein Abglanz von Grand Prix und Formel I. Manche Weggefährten von Philip S. glauben, einen Silberpfeil entdeckt zu haben, aber es ist doch nur ein kleiner englischer Sportwagen, der in seinem letzten Film sehr langsam über den Kies einer Auffahrt rollt.

Er hatte Affären gehabt, mit Frauen, die jünger waren, und mit Frauen, die Jahre älter waren als er. Aber er hatte noch nie Tag für Tag mit einer Frau und einem Kind zusammengelebt. Jetzt macht er sich klein im Kinderbett und singt meinem Sohn leise schweizerische Einschlaflieder, die ihm einst Klari vorgesungen hatte. Er hebt ihn zum Fenster, und sie schauen den Zügen nach, die gegenüber zwischen den Bäumen auftauchen und verschwinden. Ganze Tage verbringt er mit ihm im Zoo, und abends isst er die Reste seiner kalten Nudeln, die auf dem Teller angetrocknet sind. Wenn er neben ihm geht, ihn an der kleinen Hand hält, berührt sein langer schwarzer Mantel den Bürgersteig. Mit zwanzig Jahren versucht er, für ein Kind da zu sein, das nicht das seine ist. Und er hält einen Schmerz aus, den nicht er mir zugefügt hat. Seine Liebe ist eine auf den ersten Blick. Aber er stürzt sich nicht in Erfahrungen; er entscheidet sich für sie. Von allem Neuen lässt er sich nicht überwältigen, sondern eignet es sich an. Er will auch wissen, wie es ist, das Leben mit Frau und Kind. Seine Liebe ist nicht blind. Sein Begehren verwirrt ihn nicht. Es ist der kleine Tod, sagt er.

Den maßgeschneiderten Mantel, den Anzug und die Hemden hängt er in die Kammer, auf eine Stange neben meine getrödelten Kleider. Die Hemden bringt er abwechselnd in die Wäscherei. Die Kamera legt er in den Glasschrank, die filmtheoretischen Schriften neben die lindgrüne Hermes-Reiseschreibmaschine auf meinen ovalen Tisch. Er braucht wenig Schlaf. Wenn das Dröhnen der S-Bahnzüge gegen Mitternacht abnimmt und schließlich ganz verstummt, rückt er einen Stuhl an den Tisch und entwirft Szenen für einen Film, den er im kommenden Winter drehen wird.
     Den Drehort hatte er durch Zufall entdeckt, als er einmal weiter als sonst die breite Ausfallstraße entlangfuhr und irgendwann nach links abbog. Die Havel lag zu seiner Rechten, das Ufer voller Unterholz, aus dem dann und wann Schwäne aufflogen. Am Ende der Havelchaussee bog er noch einmal ab und landete schließlich auf einer kleinen Halbinsel. Dort, wo die einzige Straße in einer Kurve ansteigt, sah er das riesige graue Haus aus der Gründerzeit zwischen hohen kahlen Bäumen, die Äste schwarz von Krähen. Heute sind alle Spuren verschwunden. Wo einmal das Haus stand, weist ein elektrisch gesteuertes namenloses Tor auf einen flachen Neubau aus gelblichem Klinker. Nur ein kurzer Film erzählt in strengen Schwarzweißbildern von einem unheimlichen Gemäuer, dessen Bewohner einst die Nachbarn von Josef Goebbels waren.

IV
Der Film ist grau wie Berlin im Winter, die Bilder fahl wie das Schilf an den Ufern der Havel. Er ist sparsam und aufwendig zugleich. Im Winter 1968, als andere Studenten das Leben von Obdachlosen, den Vietnamkrieg oder die Herstellung eines Molotow-Cocktails dokumentieren, dreht er den Einsamen Wanderer, einen Film, der ihn überleben wird und den niemand versteht. Diese fünfunddreißig Minuten Film bleiben die einzige Spur, die direkt zu ihm führt, zu Philip S., dessen Name in Frakturbuchstaben auf dem Vorspann zu lesen ist wie die Inschrift auf einem Gedenkstein.
     Die frühen Morgenstunden auf der Blankenfelder Chaussee. In den Gräben und Pfützen schmutzige Schneereste. Unter einem kalten grauen Himmel zieht sich eine Reihe nackter Bäume unregelmäßig zu beiden Seiten der Straße entlang. Die Kälte hat nicht erst in diesem Winter Löcher in den Asphalt gerissen. Der Belag wird schon lange nicht mehr ausgebessert. Es lohnt sich nicht. Die Chaussee endet an der Berliner Mauer. Philip S. ist lange herumgefahren an den Rändern der Stadt, um einen Ort von solcher Verlassenheit zu finden. Langsam bilden sich die Konturen eines Wanderers ab, der den langen schwarzen Mantel trägt. Bei jedem Schritt blitzt das glänzende Futter auf. Um die Taille der Gürtel, der Kälbergurt. Der Wanderer läuft in der Mitte der Straße Richtung Osten, wo es am Horizont allmählich Tag wird. Die Kamera fährt ihm nicht nach. Sie verharrt auf der Stelle und folgt ihm mit einer einzigen Einstellung über den nassen Asphalt in eine neblige Ferne. Das erste Stück Wegs wird begleitet vom Beginn des langsamen Satzes aus Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen". Die das Thema des Todes umspielende erste Variation bestimmt die Atmosphäre des gesamten Films.
     Die Musik setzt mit dem Vorspann ein, drängt unmerklich in den Vordergrund und bricht abrupt ab, so dass nur noch die Schritte auf dem Asphalt und fernes Hundegebell vernehmbar sind, ein Dorf ankündigend. Aber im Winter 1968 gibt es kein Dorf am Ende der Chaussee. Und dann hört man auch die Schritte nicht mehr. Nichts bewegt sich in der Natur, kein Ast im Wind, kein Vogel, der auffliegt, nur die tänzelnde dunkle Gestalt mit einem Bündel am Stock, das auf der Schulter hin- und herschwankt wie eine Sense. Als der Wanderer schließlich mit seinem Bündel das graue Haus erreicht, streift er sich lange die Füße ab auf einer Stufe, an der kein Fußabtreter zu sehen ist. Aber es ist kein So-tun-als-ob, er täuscht nichts vor. Wenn er auf der Stelle tritt, versucht er Boden unter den Füßen zu gewinnen. Er hat Angst. Man hört es an seiner Stimme, als er um Einlass bittet. Dann schiebt sich ein Text ins Bild. Drei einfache Sätze wie der Beginn eines Märchens mit einem Versprechen, das nie eingelöst wird.

Philip S. hat keine Geschichte erzählt. Bruchstücke interessieren ihn mehr als eine Story. Das Fragment entspricht seinem Lebensrhythmus. Kein Ganzes, kein Fluss. Statt eines genauen Drehbuchs hat er Bilder vor Augen, an deren Details er feilt, bis sie für ihn stimmen. Keiner weiß, was für ein Film gedreht wird. Auch für Philip S. ist der Ausgang ungewiss. Als Regisseur ist er Fragender und Zuhörer zugleich. Die meisten Dialoge entstehen erst in langen Gesprächen, während sich die Darsteller in der modrigen Kälte ungeheizter Räume an dem Tee wärmen, den ich ihnen bringe. Die Kälte steigt in die Gesichter, in die Bewegungen.
     Die Darsteller wissen nicht, was sie darstellen sollen. Es erschließt sich ihnen nicht, weder aus einer vorangegangenen noch aus der folgenden Sequenz. Sie füllen keine Rollen aus, denen sie sich annähern könnten. Mit jeder Szene geraten sie in eine neue Fremdheit. Und sie warten Stunde um Stunde, wenn Philip S. mit dem Darsteller des Wanderers in dessen Kindheit eintaucht und sich Szenen und Dialoge entwickeln, die an lang zurückliegende Erinnerungen rühren. Gebete, mit denen er, das adoptierte Kind, aufgewachsen in einem fremden Land, die Angst besiegte, fallen dem Darsteller wieder ein, Liedstrophen und Verse, wenn er in den Sog des grauen Hauses, in das bedrohliche Verwirrspiel seiner Bewohner gerät. Da hört er Schritte, die er eigentlich gar nicht hören kann. Er richtet ein Teleskop auf Geschehnisse, die sich noch gar nicht ereignet haben. Das Unheimliche steigt auf, weil nichts stimmt. Es steigt auf aus dem Vertrauten, das nicht vertraut bleibt.
     Das Bedrohliche nimmt keine Gestalt an, es bleibt nur eine Ahnung, anwesend in allen Figuren, von denen keine ist, was sie zu sein vorgibt. So bleibt ein Blinder kein Blinder. Ein Knabe ist zugleich eine Frau. Der Wanderer könnte alles sein, Verschollener, Zurückkehrender, verlorener Sohn, Eindringling, einer der Unheil bringt. Eine schöne Hausherrin wird zum Vampir. Dann wieder ist sie ein armes Mädchen, und am Ende holt sie der Tod. Der Hausherr ist zunächst Freund des Wanderers und summt ihm gegen das Rauschen der Bäume eine Passage aus dem zweiten Satz des B-Dur-Streichsextetts von Brahms vor. Dann ist er selbst Besucher und steigt aus einem kleinen englischen Sportwagen, um sich im Inneren des Hauses auf einer breiten Treppe einsamen Exzessen hinzugeben, indem er wie rasend mit einer Peitsche auf die Schnauze eines Porzellanhundes einschlägt. Er hatte es als Spiel begonnen, die Peitsche locker in der Hand wie einen Dirigentenstab. Was dann aber wie eine Geißelung aus ihm herausbricht, weiß nur er selbst. Niemand stoppt ihn, nicht der Regisseur, nicht der Kameramann, der weiter dreht. Je mehr der Darsteller außer sich gerät, umso größer und länger holt die Kamera die Hundeschnauze in den Vordergrund, verstörend, nackt und bleich.
     Nur der Wanderer kehrt in dem Spiel nicht eingelöster Erwartungen zu dem zurück, was ihm zu Beginn aufgetragen schien - Bote aus dem Schattenreich zu sein. Wenn er am Ende als Fährmann des Todes den Nachen durchs Gehölz das mythische Wasser hinabstößt, trägt er unter dem weiten Umhang noch immer den Gürtel, den Kälbergurt, den Philip S. nach den Dreharbeiten wieder selbst anlegen wird, bis er ihm sieben Jahre später endgültig vom Leib genommen wird.
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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
(Copyright Suhrkamp Verlag)


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