Vorgeblättert

Leseprobe zu Valeria Luiselli: Falsche Papiere. Teil 2

09.01.2014.
MIND THE GAP

Dieser Augenblick, dieses Schweigen, das wir mitten in einem Satz entstehen lassen: Ich stand in … Wie heißt das noch? Der Holzrahmen, viereckig, manchmal Ausgang, manchmal Eingang, threshold auf Englisch. Französisch seuil: What is the word?

Ein paar Blocks von meinem Haus entfernt steht die Ruine eines Gebäudes: ein Mausoleum für Fernseher, Koffer, Telefone, Bücher, Zeitungen, Puppen, Familien. Der alte Polizist, der den Besitz bewacht, versichert, das Haus sei mindestens fünf Stockwerke hoch gewesen, ein ganz modernes Gebäude, kurz vor dem Erdbeben 1985 errichtet. Jetzt misst der Schutthaufen höchstens sieben Meter, und oben drauf weht eine mexikanische Flagge, es gibt dort Katzen, politische Plakate, eine Vogelscheuche und zwei Hunde. Die heißen Ponchadura und López Obrador. Zwischen zwei dünnen Metallstangen verkündet ein Schild »Wir sind dabei«, doch das nächste Wort ist verwischt, vielleicht absichtlich.

Wir sind dabei, etwas zu verlieren. Fetzen toter Haut hinterlassen wir auf dem Gehsteig, tote Worte auf dem Tisch; wir vergessen Straßen und vergessen mit Tinte angestrichene Sätze. Die Städte sind, wie unsere Körper, wie die Sprache auch, in einem Prozess der Auflösung begriffen. Diese ständige Erdbebengefahr ist das Einzige, was uns bleibt: Nur ein solches Szenario - Schuttlandschaft auf Schutt - nötigt uns, nach den letzten Dingen zu suchen; nur so wird es notwendig, in der Sprache zu graben, und unerlässlich, das genaue Wort zu finden. In einer Landschaft wie dieser, schreibt George Steiner, »geht der Geist auf Wanderschaft, schlurft wie ein Bettler auf der Suche nach Worten, die noch nicht bis aufs Mark ausgesaugt sind, die trotz der Verlogenheit der Epoche noch etwas von ihrem geheimen Leben bewahren.«

Fühlt der Schreiber sich nicht in der eigenen Sprache zu Hause, verwandelt er die Schuppen in Treppen. Er steigt hoch zum Gipfel seiner Sprache, durchbohrt sie von Innen, geht wie ein Seiltänzer auf dem Dachfirst entlang.

GEFÄHRLICHER ÜBERGANG

Ein großer Schriftsteller »ist ein Zerstörer, der die Existenz steigert, sie bereichert, indem er sie unterminiert«, schreibt E.M. Cioran in Bezug auf Samuel Beckett. Dieser Zerstörer der Sprache, liegt krank auf dem Bett, in dem er ein paar Tage später sterben wird, und greift nach dem Federhalter, um das Weiß des Blatts zu durchbohren:

comment dire -
comment dire


woraufhin er, als drehe er das Blatt um und sehe durch einen Spalt die andere Seite durchschimmern, das Äußere seiner ihm immer fremden Sprache, schreibt er nun auf Englisch:

what is the word -
what is the word


Becket, meint Steiner, »ist ein Entwurzelter, der sich an unterschiedlichen Orten wie zu Hause fühlt.« Die Sprache, die Beckett, ein Selbstübersetzer, bewohnt, ist ein Zwischenraum zwischen dem einen und dem anderen Ort, einem Außen und einem Innen: der Rahmen einer Tür.

»Comment dire?« Vielleicht hat auch Gherasim Luca so etwas gedacht, als er sich von einer Brücke der Ile Saint-Louis in die Seine werfen wollte. Luca lebte seit dreißig, vierzig Jahren in Frankreich, ein ganzes Leben; egal. Verfolgt vom Terror, der im kurzen 20. Jahrhundert so viele aus ihren Ländern und Häusern vertrieb, gab der Dichter Rumänien und das Rumänische auf. Luca schrieb Stottergedichte, voller Lücken. Er bewohnte eine ausländische Sprache und brachte sie an die Grenzen ihrer Syntax, auf die andere Seite der Grammatik. Sein Gedicht »Passionément« beginnt wie folgt:

pas pas paspaspas pas
pasppas ppas pas paspas
le pas pas le faux pas le pas
paspaspas le pas le mau
le mauve le mauvais pas

Und fährt dann später fort:
je je t'aime
je t'aime Je t'ai je
t'aime aime aime je t'aime
passionné é aime je
t'aime passioném
je t'aime
passionément aimante je
t'aime je t'aime passionnément
je t'ai je t'aime passioné né
je t'aime passionné
je t'aime passionnément je t'ai aime
je t'aime passio passionnément


Er stand da, stützte sich aufs Brückengeländer. Zitterte der achtzigjährige Leib des Gherasim Luca, bevor er ins Wasser sprang? Stotterte er wie in jenem letzten Vers, der bei passio stolpert und dann fällt: passionnément? Das Gedicht beginnt mit einem faux pas, einem falschen Schritt, und alles, was folgt, ist ein Fallen - aber wohin? »Wenn eine Sprache - schreibt Deleuze - sich dermaßen anspannt, dass sie zu stammeln beginnt, zu murmeln oder zu stolpern … dann gerät die Sprache in ihrer Totalität an die Grenze, die ihr Äußeres markiert und sie zwingt, sich dem Schweigen zu stellen.« In Lucas Gedicht fällt die Sprache dem Schweigen zu. So muss man den letzten Vers als einen Schrei unter Wasser verstehen.

Gherasim Luca sprang am 9. Februar 1994 in die Seine. Der Pont Marie- ein lockeres Seil über dem Flussbett der Seine - war der letzte Halt dieses Stammlers. Nach dem finalen Sprung - what is the word? - nur das Schweigen. Seine Leiche wurde einen Monat später, schon fern der Ile Saint-Louis gefunden.

LADEZONE

Wittgenstein stellte sich die Sprache wie eine große Stadt vor, an der ständig weitergebaut wird. So wie die Städte hatte auch die Sprache moderne Viertel, Bereiche, die renoviert wurden, und alte Gebiete. Es gab da Brücken, Unterführungen, Wolkenkratzer, Boulevards und enge, stille Gassen. Wittgensteins Metapher hat etwas Verlockendes. Hier von Mexiko aus sieht aber alles etwas anders aus: Hier sind die Sprache und die Stadt das ständige Echo eines Bebens.
Ich höre die Arbeiter da draußen:
»Von hier bis dort wird alles aufgerissen.«
»Aber wo sollen wir dann mit dem Bauschutt hin?«
»Hier, schau her. Wir häufen einen kleinen Berg an, und dann sehen wir weiter.«


Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Antje Kunstmann.

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