Vorgeblättert

Leseprobe zu Vera Lourié: Briefe an Dich. Teil 1

03.02.2014.
Liebste,
das Wetter ist kühl, regnerisch, keine Sonne. Die schreckliche Stille in der Wohnung. Du würdest es sicher wunderschön finden! Aber die letzten Tage habe ich sogar Angst, bis zum Bäcker allein zu gehen, und dieser Zwang, zu Hause zu bleiben, geht auf die Nerven. Schluss mit dem Jammern, es wird Dich nur ärgern.
     Heute will ich weit zurückwandern in das Jahr 1917.
     Als im Februar 1917 die erste, die bürgerliche Revolution ausbrach, war die gesamte russische Intelligenz hell begeistert. Alles rannte mit kleinen roten Fähnchen durch die Straßen. Fast alle gebildeten Bürger waren gegen die absolute, autoritäre Monarchie eingestellt und hatten demokratische Ideale. Stell Dir vor, meine Mutter besaß ein Fotoalbum, in dem sich Bilder von berühmten Revolutionären und Terroristen befanden. Sie hatte Fotos von Vera Figner und dem Terroristen Kaljajew, der die Bombe auf den Großfürsten Sergej geworfen hatte und dann natürlich hingerichtet wurde. Die Witwe des Großfürsten, Elisabeth, die Schwester der Zarin, besuchte Kaljajew in seiner Todeszelle und schenkte ihm ein Kreuz, dann ging sie in ein Kloster. Die russischen Terroristen wurden selbst in bürgerlichen Kreisen als Helden verehrt. Sie gingen in einen sicheren Tod und waren dennoch sorgsam bemüht, bei ihren Anschlägen keine Unschuldigen zu treffen. Niemals wurden Attentate verübt, wenn Kinder gefährdet waren. Es ging ihnen nur darum, diejenigen zu töten, die den Menschen das Leben verdarben, die viel auf dem Kerbholz hatten.(13)
     Kleine Pause, eine Tasse Tee und es geht weiter.
     Während und nach der Februarrevolution hatte sich das Leben des Bürgertums nur unwesentlich verändert. Aber als die Bolschewiki im Oktober die Provisorische Regierung von Alexander Kerenskij stürzten, ging es auch den bürgerlichen Familien von Tag zu Tag schlechter. Auch wir hatten nun unter der Lebensmittelknappheit zu leiden. Es wurde für uns sogar schwierig, Holz für unsere Öfen zu besorgen. In den Schlafzimmern standen kleine, provisorische und transportable Öfen, die geheizt wurden, aber in den anderen Zimmern war es kalt. Im Winter waren Fenster und Fensterbretter vereist. Auf dem Hof zerhackte und zersägte ich mit Soldaten, die sich dazu bereit fanden, feuchtes Holz.
     Geld besaß in dieser Zeit überhaupt keinen Wert. Lebensmittel wie Mehl, Kartoffeln und Zucker waren nur auf dem Lande im Tausch gegen Sachwerte zu bekommen. Mein Vater war vor der Revolution Chef eines Militärsanatoriums. In den Wirren der Revolution wurde das Sanatorium geschlossen, und ein großer Teil der Krankenhauswäsche und andere Dinge landeten bei uns zu Hause. Diese Dinge waren auf dem Land sehr wertvoll, und wir konnten sie gegen Lebensmittel eintauschen.
     Nachdem meine Großmutter mütterlicherseits gestorben war, floh mein reicher Großvater mit seinem jüngsten Bruder Peter mit einem Schlitten durch Finnland nach Deutschland. Ihre Juwelen hatte er in seinen Mantel eingenäht.
     Da in Petrograd große Wohnungsnot herrschte, verordneten die Revolutionsorgane Einquartierungen. Um keine fremden Leute in unser Haus aufnehmen zu müssen, versuchten wir die frei gewordenen Zimmer mit Leuten zu besetzen, die wir kannten.
     Also zog das frühere Dienstmädchen meiner Großmutter und ihr Geliebter, ein Soldat, der im Krieg einen Arm verloren hatte, bei uns ein, was sich als recht nützlich erwies, da der Kriegsveteran ein "Hamsterer" war. Er fuhr mit Wäsche, Stores und Gardinen aufs Land und brachte im Tausch Lebensmittel nach Petrograd zurück.
     Für uns in der zweiten Etage gab es kein fließendes Wasser mehr. Wir musste es von unten heraufschleppen, was gewöhnlich ich erledigte, da ich sechzig Kilo wog und sehr kräftig war.
     Vor der Oktoberrevolution hatte unser großes Haus in der Morskaja Uliza zwei Eingänge, einen herrschaftlichen vorn zur Morskaja hinaus, und einen für die Dienstboten an der Hinterseite des Hauses. Am vorderen Eingang stand ein uniformierter Portier. Nach der Oktoberrevolution gab es keine "Herren" mehr. Also wurde der herrschaftliche Eingang von den Revolutionären zugemauert, und wir alle mussten durch den Dienstboteneingang gehen.
     Aber so weit bin ich ja noch gar nicht. Wir zogen in das Haus in der Morskaja ein … Zwei nebeneinanderliegende Wohnungen wurden zu einer Wohnung umgebaut. Wir hatten circa 11 Zimmer. Als Dienstpersonal hatten wir: zwei Dienstmädchen, das erste Mädchen musste auch am Tisch servieren und war verpflichtet, ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze und Haube zu tragen. Wir hatten einmal eine sehr nette Finnin als erstes Dienstmädchen. Sie weigerte sich, die Haube zu tragen. Das war ein genügender Grund für meinen Vater, ihr zu kündigen.
     Neben dem ersten gab es ein zweites Dienstmädchen. Es hatte hauptsächlich die "Barynja" - die Hausherrin zu bedienen, beim Ankleiden helfen, ins Theater begleiten, dort die Überschuhe aus- und anziehen und so weiter. Dann kam die Köchin. Meine Eltern wollten keinen Koch halten und engagierten eine Köchin, welche perfekt war und "Köchin als Koch" genannt wurde. Als Test ihrer Kochtalente musste sie Bouletten zubereiten. Die Köchin lebte wie Gott in Frankreich, sie holte ein und bekam Prozente von den Kaufleuten, außerdem stahl sie wie ein Rabe und konnte dadurch mit herrschaftlichen Lebensmitteln ihre ganze Sippe ernähren. Die Köchin hatte eine Küchengehilfin, zum Geschirrwaschen, Gemüseputzen, Kartoffelnschälen, die Küche sauber halten. Dann kam eine Waschfrau. Der Kutscher und die Waschfrau wohnten nicht in unserer Wohnung. Der Kutscher hatte in seiner Wohnung ein Telefon, damit mein Vater ihn immer erreichen konnte. Die Dienstboten bekamen miserable Gehälter, so circa 15 Rubel im Monat. Ich hatte zuerst eine Kinderfrau und dann eine Erzieherin.
     Meine Mutter war vom Theater sehr begeistert und ging häufig in das Alexandrinka-Theater, um sich die Premieren anzusehen. Eines Tages, im Oktober 1917, fand dort die Generalprobe der "Maskerade" von Michail Lermontow statt. Da sie offenbar für die Premiere keine Karten mehr bekommen hatte, wollte sie sich wenigstens die Generalprobe ansehen. Nachmittags fuhr sie mit ihrer Equipage los, doch sie erreichte das Theater nicht. In den Straßen wurde geschossen, und es gelang dem Kutscher nur mit Mühe und Not, die von der Knallerei erschreckten Pferde zu beruhigen und meine Mutter heil nach Hause zu bringen. Die Oktoberrevolution war ausgebrochen.
     Auf der anderen Straßenseite der Morskaja, nicht weit von unserer Wohnung entfernt, wohnte die Familie Nabokov. Wir kannten die Nabokovs nicht näher, ich wusste nur, dass der Vater der "Partei der Konstitutionellen Demokratie", deren Mitglieder "Kadetten"(14) genannt wurden, angehörte. Es war eine liberale, demokratische, bürgerliche Partei. Oft sah ich seine zwei Söhne, die auf englische Art mit Knickerbockern und gestreiften Tweedanzügen gekleidet waren, mit ihrem Erzieher spazieren gehen. Einer der beiden wurde später der Schriftsteller Sirin,(15) der mit seinem umstrittenen Roman Lolita Aufsehen erregte. Sein Vater kam später in Berlin auf dramatische Weise ums Leben. Der Führer der Partei, Miljukow, trat bei einer politischen Veranstaltung in der Philharmonie in der Köthener Straße als Redner auf. Ein "Schwarzhunderter",(16) also ein russischer Nazi, wollte ihn ermorden, aber Nabokov warf sich schützend vor Miljukow und wurde selbst tödlich von den Schüssen getroffen.
     Im Jahre 1920, nach Abschluss des Gymnasiums, besuchte ich für einen Tag das Pädagogische Institut, wo es mir überhaupt nicht gefiel. Netotschka, die Tochter einer Freundin meiner Mutter, die einige Jahre älter war als ich, erzählte mir vom neu eingerichteten Haus der Künste an der Ecke Newskij Prospekt/Uliza Mojka. Maxim Gorkij hatte es gegründet. Es befand sich in einem früheren fürstlichen Palast. Dort fanden verschiedene Seminare statt: über die Kunst des Dichtens, über Schriftstellerei, über das Theater und viele andere mehr. Außerdem wurden Kammerkonzerte, Tanzabende und literarische Vorträge organisiert. Es gab ein Buffet mit belegten Broten und Kuchen, einen Friseur und eine Maniküre, ein unerhörter Luxus in jener Zeit. Außerdem befanden sich dort einige Apartments für bekannte Künstler. Die Schriftstellerin Marietta Schaginjan und der Dichter Michail Losinskij wohnten dort, und auch Nikolaj Gumiljow, der damals schon von der wohl bedeutendsten russischen Dichterin, Anna Achmatowa, geschieden war. Er war mittlerweile mit der sehr jungen und sehr nichtssagenden Schauspielerin Anja Engelhardt, der Stieftochter des Dichters Balmont, verheiratet.
     Eines Abends fand im Haus der Künste, das nicht weit von unserer Wohnung entfernt war, ein Gesellschaftsabend statt, auf dem getanzt wurde. Gumiljow stand in einer Ecke des Saales und unterhielt sich mit dem Dichter Ossip Mandelstam.
     Mandelstam war klein und erinnerte mit seinem nach oben geworfenen Kopf an einen aufgeregten Hahn. Gemeinsam mit Gumiljow, Achmatowa und Iwanow war er einer der Mitbegründer des Akmeismus, einer literarischen Richtung, die sich im Anschluss an den Symbolismus entwickelte und einen gewissen literarischen Gegenpol darstellte. Mandelstam wurde später, wie auch Isaak Babel, in sowjetischen Lagern ermordet.
     Gumiljow machte auf mich einen sehr ruhigen Eindruck. Er war nicht eigentlich hübsch, hatte einen ovalen Kopf, ein schmales Gesicht und graue Augen. Aber Gumiljow besaß großen Charme und war eine Persönlichkeit. Ohne ihm bekannt zu sein, ging ich in meinem Übermut auf ihn zu und fragte: "Nikolaj Stepanowitsch, wollen wir tanzen?" Es wurde gerade Walzer gespielt, und er antwortete: "Ich tanze nicht, aber einer jungen Dame mag ich keinen Korb geben." Also gingen wir zur Tanzfläche und bewegten uns dort eher in Schrittform, als dass wir wirklich tanzten. Gumiljow konnte nämlich wirklich nicht tanzen.
     Ich belegte zwei Seminare im Haus der Künste. Eines wurde von dem Regisseur Nikolaj Jewrejnow geleitet, der viele Stücke geschrieben hat, unter anderem auch "Die Hauptsache", das in viele Sprachen übersetzt wurde. Darin geht es um ein Büro zur Verschönerung des Lebens unglücklicher Menschen. Einem sehr hässlichen und einsamen Mädchen wird ein gutaussehender Mann vermittelt, der ihr den Hof macht und die Illusion des Glücks hervorruft. Jewrejnow vertrat die Theorie, das Menschenleben sei ein Theaterstück, und Gott der Regisseur. Er hielt Vorträge über Dramaturgie und verschiedene Theaterthemen. Ich war in ihn verliebt und widmete ihm ein Gedicht, das mit den Worten begann: "Wer sind Sie? Ein Gott oder ein Harlekin?" und mit den Worten schloss: "Heute ein Gott und morgen ein Drogensüchtiger, ein Abendgast der Apotheken."
     Jewrejnow war sehr kurzsichtig und musste auf der Straße mit einem Stock gehen. Oft wurde er von Nora Sacher, einer seiner Verehrerinnen, begleitet. Später heiratete er die Schauspielerin Anna Kaschina.
     Das zweite Seminar, an dem ich teilnahm, wurde von Nikolaj Gumiljow gehalten und behandelte "Die Kunst des Dichtens".
     Gumiljow vertrat die Auffassung, es sei möglich, aus jedem Menschen einen Dichter zu machen. Ich stimme auch heute noch in diesem Punkt nicht mit ihm überein, denn ich halte eine gewisse Begabung für unerlässlich. Dieses Talent kann man dann natürlich günstig beeinflussen. Die Seminarteilnehmer schrieben Gedichte, die sie vortrugen. Anschließend übten die anderen Studenten Kritik, und zum Schluss äußerte sich Gumiljow selbst dazu.
     Jahrzehntelang waren die Werke Gumiljows in der Sowjetunion verboten, denn Gumiljow war ein erklärter Gegner des Sowjet-Regimes, ein Monarchist. Als er eines Tages einen Vortrag beenden wollte und das Publikum noch einmal mit "Meine Herren" anredete, sprang ein Bolschewik auf und rief: "Es gibt keine Herren mehr, sondern nur noch Genossen!" Gumiljow sah ihn voller Verachtung an und erwiderte: "Von einem solchen Dekret ist mir nichts bekannt."
     Es war eine schöne Zeit. Aus der Tiefe meines Inneren heraus wird es vor meinen Augen wieder lebendig, wie wir, im kalten russischen Winter, an einem langen Tisch saßen, die Tür sich öffnete und Gumiljow eintrat. Er trug stets einen Pelzmantel und eine Pelzmütze. Langsam zog er den Mantel aus, nahm die Mütze ab und setzte sich an das Kopfende des Tisches. Dann holte er sein mit Schildpatt verziertes Zigarettenetui heraus, entnahm ihm eine Zigarette, zündete sie an, und der Unterricht begann.
Langsam werde ich müde, deshalb schließe ich diesen Brief.
In Liebe
Deine Vera

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(13) In Albert Camus' Drama Die Gerechten wird das Attentat thematisiert.
(14) Nach den Anfangsbuchstaben KD, kadety, woraus deutsch "Kadetten" wurde.
(15) Frühes Pseudonym des Schriftstellers Vladimir Nabokov.
(16) Schwarze Hundertschaften (tschernyje sotni) wurden während der Revolution von 1905 rechtsradikale, gegenrevolutionäre Terrorgruppen, die meist von der 'Union des Russischen Volkes' organisiert waren, von ihren Gegnern genannt. Auf das Konto der Schwarzen Hundertschaften gingen zahlreiche Morde an oppositionellen Politikern und eine Reihe von Judenpogromen von 1905-1907.« Zit. nach Lexikon der Russischen Geschichte. Von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, hrsg. von Hans-Joachim Torke. München: C. H. Beck 1985.


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