Vorgeblättert

Leseprobe zu W. von Sternburg: Joseph Roth. Teil 3

23.02.2009.
In diesem Vortrag wiederholt Roth seine große Skepsis gegenüber der Moderne. "Der neuzeitliche Mensch hat gewissermaßen vergessen, daß er das sittliche Gesetz von Gott am Sinai bekommen hat. Er meint, es sei gleichsam sein geistiges Eigentum." Roths Feind ist der Fortschrittsglaube: "Wir sind zehntausend Meilen weiter, aber nicht einen Zentimeter höher gekommen durch irgendeine der Erfindungen ? Ebensowenig wie Sie imstande sind, aus der Tatsache, daß Ihnen der Zauberer im Variete eine soeben zersägte Jungfrau nach einer Weile wieder lebendig und ganz präsentiert, den Schluß ziehen können, daß der Zauberer mit übernatürlichen Mitteln arbeite - ebensowenig können Sie aus den Tatsachen des Radios, des Flugzeugs, des Fernsehens den Schluß ziehen, daß die menschliche Vernunft gewachsen sei." Roths sehr schlichtes moralisches Fazit: "Man kann das Radio erfunden haben, das Kino - und dennoch ein Schuft sein."

In den 30er-Jahren sieht nicht nur Roth all die Werte verraten, an die das aufgeklärte Europa seit zwei Jahrhunderten geglaubt hat. "Und es ist ein billiger Irrtum und ein noch billigerer Trost, wenn der und jener, im Angesicht der Greuel, die sich heute vor seinen Augen vollziehen, in den Ruf ausbricht: 'Das ist ein Rückfall ins Mittelalter!' Ich glaube, dieser Ruf ist eine schwere Beleidigung des Mittelalters." Selbst wenn Roths so bedingungslose Kritik am Fortschrittsglauben - auch eine Folge seines immer bitterer werdenden Kulturpessimismus - nicht mehr vor dialektischen Überspitzungen zurückscheut, er spricht in der Amsterdamer Buchhandlung die Schrecken der Zeit an: "Aber, siehe da! kaum hat Moses begonnen, den Sinai emporzusteigen, und schon haben sie ein Goldenes Kalb! Ach, die Menschen haben viel mehr symbolische Kälber, als es auf Erden wirklich gibt. Jetzt haben sie zum Beispiel das Nationalkalb und das Rassekalb, wieviel mehr Opfer haben diese beiden Kälber allein schon verschlungen als einst das Goldene! Es gibt, meine Damen und Herren, auch ein sogenanntes Klassenkampfkalb! Und auch dies verschlingt gar viele Opfer. Am gefährlichsten erscheint mir das Fortschrittskalb."

Es ist der Vortrag eines Redners, der den Glauben an den Menschen
verloren zu haben scheint. Roth selbst nennt ihn in einem Brief an Friderike Zweig einmal die "katholisch-konservative Sache ". Ludwig Marcuse wird dagegen im selben Jahr in einem offenen Brief Roths generelle Fortschrittskritik höflich, aber bestimmt zurückweisen: "Weil Du böse bist auf das Jahrhundert des Fortschritts, das auch Dich betrogen hat, lobst Du, was davor war. Das ist nur ein Kunstgriff, gewiß. Aber in welche Gesellschaft gerätst Du mit diesem Kunstgriff? Und wie schnell wird aus einem Trick mit Augenzwinkern ein Glaube!"


Eine Liebe in Ostende

Nach Ostende reist er im Juli 1936. Zweig hat ihn in den belgischen
Badeort eingeladen, in der Hoffnung, dass der Freund sich erholt,
weniger trinkt und besser arbeiten kann. Roth leidet unter geschwollenen Beinen, verbringt die Nächte hustend, "ich fürchte,
mein Herz arbeitet nicht mehr". Ostende soll helfen. Stefan Zweig ist dabei, und Egon Erwin Kisch lebt dort schon länger. Hermann Kesten reist an und sitzt Tag für Tag in den Strandcafes und schreibt an einem neuen historischen Roman: "Philipp II." Ernst Toller - auf dem Weg nach London - bleibt einige Tage. Dann taucht Irmgard Keun auf. Kesten erzählt: "In der Halle des Hotels Metropole fand ich ein hübsches junges Mädchen, blond und blauäugig, in einer weißen Bluse, das lieb lächelte und wie ein Fräulein aussah, mit dem man gleich tanzen gehen möchte. Aber wir saßen noch nicht am Tisch, bei einer Tasse Kaffee und einem Glas Wein, da sprach sie schon von Deutschland, mit blitzenden Augen und roten, witzigen Lippen. ? Irmgard Keun erzählte den ganzen Abend und die halbe Nacht, und wir tranken ein Glas Wein nach dem andern, beziehungsweise eine Tasse Kaffee nach der andern." Die 1905 in Berlin geborene Schriftstellerin hat vor Hitlers Machtantritt mit den Romanen "Gilgi - Eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" großen Erfolg gehabt. Nach dem 30. Januar 1933 bemüht auch sie sich, Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu werden. Ihr Antrag ist chancenlos, denn ihre Bücher werden im Sommer 1934 verboten. Nach Meinung der neuen Herren sind sie "Asphalt literatur mit antideutscher Tendenz" und "nicht die geeignete Lektüre für ein nationalsozialistisches Volk". Sie versucht, sich mit kleinen Geschichten für Zeitungen durchzuschlagen. "Im April 1935 fuhr ich nach Ostende. Ich verreiste nicht, ich wanderte aus, und ich war keineswegs sicher, daß ich noch einmal wiedersehen würde, was ich verließ." Ganz so geradlinig, wie es Irmgard Keun in ihren Erinnerungen schreibt, ist es nicht zugegangen, aber sie ist zweifellos eine Gegnerin des neuen Regimes. In dem Seeort lernt sie auch Kisch kennen. "Wir saßen am Strand und tranken Vin rose, einen Wein von der Farbe des Abendrotes ? und lasen einander aus unseren Manuskripten vor. Kisch arbeitete gerade an seinem schwungvollen Erlebnisbuch 'Landung in Australien' ? Später, als noch mehr Kollegen nach Ostende kamen, hatte jeder ein
bestimmtes Cafe, in dem er an einem stets gleichen Tisch eine Art
Dauer-Büro errichtete. Man besuchte einander in den Büros, und
besonders gern ließ Kesten sich besuchen, um sich mit heiterem
Schwung in ein literarisches Gespräch zu stürzen."

Irmgard Keun trifft dann Joseph Roth. "Wir fanden zusammen -
jeder für seinen Teil - aus Angst, allein zu sein, obwohl das gegenseitige Interesse bei der ersten Begegnung vorhanden war." Aus der Begegnung am Strand der belgischen Nordsee wird eine intensive 18-monatige Liaison. "Als ich Joseph Roth zum erstenmal in
Ostende sah, da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der
einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden
blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram." Auch die 31-jährige Schriftstellerin ist auf dem Weg zur Alkoholikerin. Alle Versuche Zweigs, den Freund in Belgien etwas vom Trinken wegzubringen, müssen nun erst recht scheitern.

Keun und Roth verbringen die Nächte in den Cafes von Ostende. Beide sind Gegner des Dritten Reiches, beide schreiben an neuen Romanmanuskripten, und beide befinden sich in permanenter Geldnot. "Roth und ich ? waren bald daran gewöhnt, uns immer auf irgendetwas zu verlassen, womit wir gar nicht rechnen konnten. Es kam dann auch immer wieder von irgendwoher Geld - vom Verlag, von einer Zeitung oder durch Auslandsübersetzungen. ? Peinliche Momente der Geldverlegenheit gab es dauernd." Roth unterstützt die schriftstellerische Arbeit der Geliebten, die an ihrem Emigrantenroman "Nach Mitternacht" schreibt. Er selbst sitzt im Cafe am Place d?armes und denkt sich die Geschichte des Eichmeisters Anselm Eibenschütz aus.

Es ist zeitweise eine turbulente Beziehung. Das alkoholisierte Paar streitet sich oft, es kommt zu manch peinlicher Szene. Als sie gemeinsam nach Wien reisen, kündigt Egon Erwin Kisch sie bei seinem Bruder mit einer bezeichnenden Warnung an: "Wenn Du sie kennenlernst werde ich mich sehr freuen, aber besauf Dich nicht dabei, die beiden saufen wie die Löcher." Später erzählt Irmgard Keun: "Roth war in jeder Hinsicht eifersüchtig. ? Durch den Alkohol verstärkte sich diese Tendenz noch bei ihm, so daß er mich zum
Schluß nicht mehr aus den Fingern ließ. Nicht einmal austreten konnte ich, ohne daß er unruhig wurde. Schlief ich ein, so hatte er seine Finger in meinen Haaren eingewühlt, auch noch, wenn ich aufwachte. Abschiede waren ihm unerträglich geworden, so daß ich ihm schwören mußte, ich würde ihn nie verlassen." In ihrem im April 1938 veröffentlichten Roman "D-Zug dritter Klasse" schildert Keun eine Szene, bei der sie vielleicht an die Tage mit Roth gedacht hat: "Karl Bornwasser quälte sie mit Mißtrauen und einer Eifersucht, die bis in ihre Kindheit drang. Nacht für Nacht verwickelte er sie in komplizierte Gespräche, wies ihr Widersprüche nach und Lügen. Sie weinte, weil sie bei ihm war, und sie weinte, wenn er drohte, fortzugehen."

Keuns Skizze von Roth aus den gemeinsamen Jahren trifft sicher den Kern seiner Psyche: "Er war gequält und wollte sich selbst loswerden
und unter allen Umständen etwas sein, was er nicht war. Bis zur Erschöpfung spielte er zuweilen die Rolle eines von ihm erfundenen
Menschen, der Eigenschaften und Empfindungen in sich barg, die er selbst nicht hatte. Es gelang ihm nicht, an seine Rolle zu glauben, doch er empfand flüchtige Genugtuung und Trost, wenn er andere daran glauben machen konnte. Seine eigene Persönlichkeit war viel zu stark, um nicht immer wieder das erfundene Schattenwesen zu durchtränken, und so empfand er sich manchmal als ein seltsam wandelndes Gemisch von Dichtung und Wahrheit, das ihn selbst zu einem etwas erschrockenen Lachen reizte."

Im Winter 1936 reist Roth auf Einladung des dortigen P.E.N. nach
Polen. Es wird seine letzte Reise in die Heimat sein. Irmgard Keun
ist dabei. Die Fahrt geht nach einem kurzen Aufenthalt in Wien nach Lemberg, Warschau, Wilna und in zahlreiche kleinere Städte. Roth wird dort meist auf Polnisch seinen Amsterdamer Vortrag halten, jetzt unter dem Titel "Glaube und Fortschritt". Klagelieder: "Seit Monaten friste ich mein armseliges Leben durch Vorträge in winzigen Ortschaften, ein miserables Leben. Ich weiß überhaupt noch nicht, wie ich wieder nach Westeuropa zurückkomme. Ich leide entsetzlich. ? Ich fahre von einem kleinen Ort zum andern, ein Wanderzirkus, jeden zweiten Abend im Smoking, es ist schrecklich, jeden zweiten Abend den gleichen Vortrag. Der Penclub hat mir das verschafft, sonst wäre ich längst tot."

In Lemberg besuchen sie seine Verwandtschaft und die Freundin
Helene von Szajnocha-Schenk. "Dies hier ist eine alte bürgerliche
jüdische Familie", schreibt Irmgard Keun am Weihnachtsabend 1936 an den Freund Arnold Strauss. "Roth gehört zu ihnen, ich bin fremd und eine 'Goyte' (Ich weiß nicht, wie man das schreibt.) Das Haus ist alt und düster, und alles ist in eine Atmosphäre von Schwermut getaucht. Es leben dort Paula, die bekannte Cousine, ihre ältere Schwester, die vor einem Jahr ihren Mann verlor ? Roth und ich haben uns gestern dieses Lemberger Nachtleben ? angesehen, es ist unbeschreiblich trostlos und leichenhaft. ? Weiter lebt in dem Haus noch die alte verwitwete Mutter (eine Tante Roths - WvS), eine brave alte Jüdin. Alle sind richtige Juden, die auch noch die Riten einhalten. ? Wenn polnisch gesprochen wird, sitze ich wie blöde dabei."

Im gleichen Brief folgt der erschütternde Krankenbericht über einen 42-jährigen Alkoholiker: "Roth hat immer schreckliche Leberschmerzen, ich gebe mir wahnsinnige Mühe, daß er wenigstens Wein statt Schnaps trinkt. Aber gerade so ein Leberleiden macht einen Menschen, der von Natur herzensgut ist, so bösartig und gereizt, daß der Umgang mit ihm recht schwer ist. Ich habe aber - unberufen - einen großen medizinischen Erfolg zu verzeichnen. Seit 6 Jahren mußte Roth jeden Morgen, wenn er aufwachte, eine Stunde lang würgen und greulich brechen, ob er was im Magen hatte oder nicht. Von dieser Anstrengung bekam er gräßliche Herzschmerzen - und man dachte jeden Morgen, jeden Vormittag, er würde sterben. ? Ich glaube, er hat auch eine Angina pectoris. Schreib mir doch bitte das Mittel ? Dieser Mann hat soviel für mich getan, daß ich froh bin, wenn ich ihm etwas helfen kann, obwohl er oft schrecklich boshaft und verletzend wird und in seinen Launen und Stimmungen zermürbend wechselvoll ist. ? Er fängt jetzt auch erst nachmittags an zu trinken. Leider Schnaps. Er ist so mager wie ein verhungertes Kind, nur die Milz ist schrecklich geschwollen. Ich weiß nicht, ob da noch was zu retten ist."

Im Januar 1938 trennen sich Joseph Roth und Irmgard Keun. Aus Keuns Sicht: "In Paris verließ ich ihn mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung und ging mit einem französischen Marineoffizier nach Nizza. Ich hatte das Gefühl, einer unerträglichen Belastung entronnen zu sein." Roth äußert sich in seinen Briefen dazu nicht. In seinem Roman "Das falsche Gewicht" verfällt der Eichmeister Eibenschütz der schönen, verführerischen Zigeunerin Euphemia Nikitsch. Er schreibt in Ostende an dieser Geschichte. Irmgard Keun wird 1940 auf verschlungenen Pfaden nach Deutschland zurückkehren. Als Autorin bleibt sie lange vergessen. Erst am Ende ihres Lebens, in den späten 70er-Jahren, wird ihr Werk wiederentdeckt.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witch

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