Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Teil 2

19.03.2007.
(Seite 326 ff)

IX. Cilly Ostermeier

Wie kann man leben mit dieser dunklen verschlossenen Höhle, mit einem Vakuum hinter sich, ohne eine eigene Geschichte? Es muß etwas darüber zuwachsen, eine andere, eine neue Geschichte, eineGeschichte,mit der man weiterleben kann. Es wird die Geschichte von Cilly Ostermeier.

Es dauert Jahre, und es bedarf energischen Zuspruchs. Um 1959 herum entsteht ein engerer Kontakt zwischen Marieluise Fleißer und dem Südwestfunk in Baden-Baden, engagierte Literaturredakteure und begeisterte Leser bemühen sich dort um Publikationsmöglichkeiten für die viel zuwenig bekannte Autorin und empfehlen sie weiter an den Hanser Verlag in München. Der zuständige Lektor Dr. Peter Frank besucht die Schriftstellerin in Ingolstadt. Das Ergebnis der Begegnung erhält sie schriftlich am 15. Mai 1959: "Wir würden uns aufrichtig freuen, Sie als Autorin des Verlages gewinnen zu können." Man muß es sich vorstellen: Im Dezember 1959 hört Frank trotz längeren Kontaktes mit Fleißer mit großem Staunen zum ersten Mal, daß es da in den zwanziger Jahren noch ein Theaterstück, ein völlig unbekanntes gab, Fegefeuer in Ingolstadt. So gründlich war die Fleißer der Vorkriegszeit mittlerweile vergessen. Es wird ein langwieriges, intensives, gelegentlich zähes Ringen um alte und neue Texte, um nicht gelingende Überarbeitungen. Im ersten Eifer plant man eine größere Auswahlausgabe der früheren Arbeiten, dann will man sich vorerst auf die Erzählungen konzentrieren, lieber auf neue als auf die alten Orangen-Geschichten. Der Briefwechsel zwischen Marieluise Fleißer und dem Cheflektor Herbert G. Göpfert ist Zeugnis der Hebammenkunst eines sensiblen Lektors. "Beim Lesen dieser neuen Geschichte [Das Pferd und die Jungfer] dachte ich immer wieder, man müsse Sie animieren, so sehr man könne. Lassen Sie sich nur von dem alltäglichen Kleinkram nicht völlig auffressen. Sie sind eine Schriftstellerin von so eigener kräftiger Begabung und unter den schreibenden Frauen, wie mir scheint, schon vollends singulär, daß Sie wirklich alle Zeit und Kraft, die Sie nur erübrigen können, aufs Schreiben legen sollten."

Doch er muß auch verwerfen, zum Beispiel den neuen Anlauf für den Hetzelein-, den Lawine-Stoff, diesmal soll die Erzählung Freiwild heißen. Göpfert muß ihr ohne Umschweife sagen, daß sie nicht gelungen ist, vor allem die plötzliche Einführung eines politischen Motivs, der "politischen Unerwünschtheit ", habe der Geschichte nicht gutgetan. Fleißer macht es dem Lektor nicht leicht. Im Juni 1962: "Der Band Erzählungen lastet wie ein Alpdruck auf mir, da geht nichts vorwärts. [. . .] Eines ist mir völlig klar, die Schwierigkeiten kommen aus meinem Gemüt." Und dann nach langem Briefwechsel, nach Zuspruch über Zuspruch, aus heiterem Himmel am 6. Mai 1963, ein halbes Jahr vor dem geplanten Erscheinungstermin, die Post aus Ingolstadt: "Nach gründlichem Überdenken kann ich mich nun doch nicht so schnell entschließen. [. . .] Ich halte es für fair, wenn ich mich umhöre, ob ich nicht doch einen günstigeren Vertrag bekommen kann. [. . .] Ich empfinde die Bedingungen als in keinem Verhältnis zur Güte meiner Prosa stehend, vielleicht werden sie lachen." Zum Lachen gab es nun wirklich keinen Anlaß. Auf Göpferts Bestürzung und Nachfrage hin kommt Verblüffendes, aber vielleicht ist es auch Branchenübliches, die Behauptung nämlich von viel besseren Möglichkeiten: "Natürlich gibt es einen Verlag, der ein starkes Interesse an einem fertigen Roman von mir bekundet, ich könnte in diesem Fall auch mit ziemlicher Sicherheit mit Uebersetzungen rechnen [. . .]." Und dann die schöne Formulierung, die wohl der Entlastung dienen soll: "Ich bin eine etwas unterschwellige Person. "497 Von einem Roman kann in Wahrheit gar keine Rede sein, der geplante Erzählungsband ist ja noch nicht einmal komplett, und von einer anderen aktuellen Verlagsverbindung gibt es im Archiv keine Spur. Die Einwände zerbröckeln rasch, während die schon publizierten Erzählungen (Des Staates gute Bürgerin, Er hätte besser alles verschlafen, Das Pferd und die Jungfer) in Druck gehen, schreibt die Autorin in großer Eile die einzige noch nicht veröffentlichte Erzählung zu Ende, Avantgarde. Sie gibt dem Band den Titel, und sie wird Marieluise Fleißers Bild im literarischen Leben in ein neues Licht tauchen, sie erhält so etwas wie eine neue Identität.

Avantgarde erzählt die Geschichte von Cilly Ostermeier, der Studentin aus der Provinz, die an das Genie gerät, die derWeltstadt nicht gewachsen ist, da lauert "Abgrund neben Abgrund". In Cilly Ostermeier erfindet Fleißer eine junge Dichterin, die im Berlin der zwanziger Jahre an den "Frösten der Freiheit" zu erfrieren droht, eine Künstlerin, die sich anmaßt, in die Avantgarde vorzustoßen, und der das verheerend schlecht bekommt, eine Dichterin, die ihr Talent vom Genie in eine Richtung verbiegen läßt, die diesem nützlich, aber nicht die ihre ist, eine Frau, die sein willenloses Spielzeug wird, bis sie - fast - kaputtgeht. Cilly rettet sich gerade noch: "Und vielleicht war dies das Geheimnis, man mußte neben ihm ein Zugvogel werden, daß man nicht an ihm zerbrach." Rettet sich vom Genie zum Nickl, vom Regen in die Traufe, in die andere Art von Gewalt. "Eine Grausamkeit war in ihr gegen sich selbst, sie war ein wenig verrückt. [. . .] Sie war schon eigensinnig, die Cilly. Es war ein grotesker Drang, hing zusammen mit Kunst, das wußte sie selbst nicht. Etwas in ihr war zu lang auf der Spitze gestanden, hatte sich dann überschlagen." Da kommt der Ruf aus der fernen Großstadt, das "begrabene Stück" soll auf den Spielplan. Eine heilsame Distanz vom Nickl, Nachdenken über den Mann, der ihr den einzigenWeg abschnitt, denWeg zur Kunst. "Sie mußte mit dem Juden über ihn sprechen." Aber "Das Herz gab ihn nicht her". Und dann die Katastrophe, die verlangten, überstürzten Eingriffe in den Text, der Skandal bei der Premiere, der Skandal in der Presse, der Protest aus Ingolstadt, "das läutete ihr die Schande ein über alle Städte hinweg und nahm ihr den Ruf". Der Dichter, "ein Dompteur", läßt sie eiskalt im Stich." Der Vater schrieb und verbot ihr sein Haus, den Brief las sie als ersten. 'Du darfst nicht herkommen', schrieb selbst derNickl, 'die arbeiten dich auf und mich.'" Sie kann nicht mehr zurück zum Nickl, sie gibt ihm den Abschied. Und verrechnet sich mit dem Mann, "von der Liebe geschlagen". Er nimmt den Zug in die Großstadt zu seiner Cilly. "In einer einzigen Nacht würde er ihr den Abschied austreiben oder sich rächen und noch die Rache würde ein Liebesakt sein." Wieder Fleißers Verklammerung von Sexualität und Gewalt. "Sie ließ ihm die Brust ungeschützt, lag unter ihm als das Lamm", kommt lebend davon, kämpft mit sich und trennt sich am Ende doch, um alsbald die Freiheit an einen anderen Mann zu verschenken, denn "eine Wirklichkeit mußte sie haben, [. . .]. Ohne einen festen Mann konnte sie anscheinend gar nicht mehr sein. Und doch war es verheerend für eine Frau, wenn sie schreibt, sie durfte das gar nicht wirklich wollen. [. . .] Sie mußte eben hoffen, daß sie es überstand. Ja, das mußte sie hoffen."

Die vielen Zitate stehen hier nicht von ungefähr. Nur in den originalen Worten wird das Funkeln dieses Textes sichtbar, die Brillanz der Formulierungen, mit denen Fleißer zu einer ganz neuen Sprache gefunden hat, zur Sprache für die Enteignung weiblicher Künstlerschaft und Intellektualität. Um es zuzuspitzen: Die Erzählung Avantgarde avanciert zum Zitatenschatz feministischer Geisteswissenschaften. Die Autorin wird sich vergeblich dagegen wehren: "Ich schreibe keine 'Frauenbücher'! Ich bin keineswegs sicher, dass Frauen mehr Organ dafür haben, im Gegenteil." Nach ihrem Tod ist keine Gegenrede mehr möglich. Einer der Kulttexte der neuen Frauenbewegung heißt Avantgarde.

Das Echo in ca. 50 Besprechungen ist dissonant. Doch allermeist zeigen sich die Rezensenten beeindruckt vomneuen kraftvollen Ton, mit dem Marieluise Fleißer als eigenständige Autorin auf die literarische Bühne zurückkehrt. Schon an den ersten Rezensionen zeigt sich, daß dieDistanz durch die grammatische dritte Person die eins zu eins autobiographische Lesart nicht verhindert. "Deutlich wird das Bild einer Schriftstellerin", schreibt Heinz Piontek, "die ihren eigenen Pfad einschlagen mußte, um ihr innerstes Wesen zu bewahren: die sich vom großen Vorbild losriß imletztenMoment." Der erste Rezensent, noch vor Piontek, Curt Hohoff mit seinem Preislied in der Süddeutschen Zeitung, weist den Weg, wie man Avantgarde zu lesen habe: "Hinter der Liebesgeschichte steckt eine Literaturgeschichte, und beide Geschichten bilden eine Schlüsselgeschichte." "Schlüsselgeschichte", das wird das Schlüsselwort im Verständnis dieser Erzählung. Kein Dementi half mehr, selbst ein so deutliches wie noch 1966: "Es ist natürlich Blödsinn, wenn man es als Schlüsselgeschichte nimmt."

Scharf und die Autorin tief verletzend geht Elisabeth Endres in DIE ZEIT mit Avantgarde ins Gericht (die anderen Geschichten streift sie nur). Sie mißtraut der Erzählung von der passiven Rolle der jungen Dichterin im Umfeld Brechts, die "das alles gar nicht gewollt" habe. "Und für Marieluise Fleißer war die Zeit gekommen, zu sagen, was sie gelitten hatte." Sie verübelt ihr das namenlose Etikett "der Jude" für Feuchtwanger als schlimme geschmackliche Entgleisung, die ganze Geschichte als "berechnende Anklage gegen den Menschen Brecht". Und wie man das Kind mit dem Bade ausschüttet, verreißt sie, ohne ihr sonst bewiesenes Gespür für die kunstvolle Eigenwilligkeit, den Satzbau, die Sprache, die angeblich "treuherzige Naivität" gleich mit. (Elisabeth Endres hat später ihr Urteil über Avantgarde und über Marieluise Fleißer zurückgenommen, als Laudatorin Irmgard Keuns, der ersten Trägerin des Marieluise Fleißer-Preises der Stadt Ingolstadt, im November 1981: "Es hat lange gedauert, bis wir erkannten, wer Marieluise Fleißer ist. Ich habe selbst eine dumme Kritik über diese Frau geschrieben, weil ich sie in einer Zeit rezipierte, in der ich jede Kritik an Bert Brecht für eine Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln hielt. Das war töricht." Endres' Rücknahme der Kritik zeigt aber auch, wie diese Brecht-Lesart der Erzählung sich schier unumstößlich durchgesetzt hat.)

Wie ein Schlag ins Gesicht trifft Fleißer eine andere Rezension. Sie kommt mit wohlvertrauter Bosheit aus der tiefen dunklen Höhle, die sie fest verschlossen wähnte, von Hellmut Draws-Tychsen.

Es gibt ihn noch. Gut gegangen ist es ihm nicht seit der Trennung von Fleißer 1935, trotz seiner stets beteuerten unangefochten völkisch-nationalen Gesinnung. 257 Seiten umfaßt seine Akte der Reichsschrifttumskammer. Sie zeugt vom Aberwitz der politischen Zensurpolitik im Propagandaministerium, von Denunziantentum und einer pervertierten Bürokratie. Sein 1937 erschienenes Buch Westpreußische Originale entfesselte Aktivitäten der Gestapo, der zivilen Gerichte, beschäftigte Hanns Johst und als Gutachter Oskar Loerke. Zu einem Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer kam es zunächst nicht. Die internen Aktenvermerke schwanken zwischen "harmlosem Idioten" und "gefährlichem Pathologen". (Da meint ein über Fremdwörter strauchelnder Kulturfunktionär wohl einen Kranken.) Draws ist ständig auf Reisen, 1939 sucht die Polizei in unzähligen Schreiben nach seiner Adresse, es wird gefährlich für ihn. Er soll in Ungarn (wo er sich einmal wieder verlobt hatte) wegen Schmähung der ungarischen Nation" bestraft worden sein, erhält in Deutschland Paßsperre. Aus den letzten Dokumenten der Akte vom Herbst 1943 wird deutlich: Da wird einer von der Polizei quer durch Deutschland, zwischen Berlin, Königsberg, München, Waldenburg/Württemberg, gejagt. Das letzte Dokument stammt vom 23. Oktober 1943. Das Archiv Walter Hammer, eine Dokumentation zum KZ Sachsenhausen, archiviert im Münchner Institut für Zeitgeschichte, erzählt die Fortsetzung in einem Brief von Hellmut Draws-Tychsen an Walter Hammer vom 22. Oktober 1951: "Ich war von Dezember 42 bis Januar 45 in Sachsenhausen und kam danach nach Mauthausen, wo ich am 6. Mai 45 von amerikanischen Panzertruppen befreit wurde. In Sachsenhausen hatte ich die Nummer 53821. Nach meiner Befreiung ging ich an meine frühere Arbeitsstätte, staatliches Museum für Völkerkunde und Universität Wien, zurück."Wie aus einem Schriftwechsel im Archiv der Universität hervorgeht, hat er dort allerdings - entgegen seinen eigenen Erzählungen - lediglich dreimal jeweils ein paar Wochen hospitiert, "für eine Anstellung in Österreich ist er niemals in Aussicht genommen gewesen". Bald taucht er in dieser Dokumentation als Prof. Dr. Hellmut Draws-Tychsen, Zürich (Schweiz),Universität, Ethnologisches Institut auf (allerdings nirgends im Archiv der Zürcher
Universität); auch unter der Anschrift Pappenheim/Mittelfranken,
Altes Schloß.

In der Zeitschrift Die Fähre, Heft 2, 1947 sind neuerlich Gedanken
aus seiner Feder zu lesen:

"Vom Wesen des Weibes
Niemals gab es eine andere Abrechnung zwischen Mann und Weib als den Kuß oder das Achselzucken.Warum durchHaß strafen und durch Verachtung töten? DasWeib ist ein gotterschaffenes Kunstwerk, vollkommen oder unvollkommen, das wir bewundern oder auch belächeln können. Blumen, Hermaphroditen zwischen dinglicher und lebender Schöpfung, hassen oder verachten wir ebenfalls nicht. Das Weib ist gleichsam eine Blume, vegetativ und ohne greifbare Erkenntnis seiner inneren Gesetze."

Leseprobe Teil 3

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