Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit. Teil 2

03.09.2007.
Auch in einer weiteren Hinsicht besteht hier keine Parallele. Soweit ich weiß, plant kein größeres christliches Terrornetzwerk Anschläge auf muslimische Länder oder Einrichtungen. Ich denke, dafür gibt es zahlreiche Gründe. Einer davon liegt sicher in der Tatsache, dass nur sehr wenige Christen im Islam eine Bedrohung für ihre Lebensweise sehen. Warum dagegen so viele Muslime das Gefühl haben, die Christen befänden sich immer noch auf einem Kreuzzug gegen sie, ist eine komplizierte Frage. Ich neige hier zu der von manchen geäußerten Ansicht, ein wichtiges Element in diesem psychologischen Gemisch sei das Gefühl, der Islam, der dem Christentum einst voraus war, sei irgendwie ins Hintertreffen geraten - ein Gefühl, das zu einer unguten Mischung aus Ressentiment, Zorn, Neid und Bewunderung führt.

Doch Erklärungen für einen Gegenkosmopolitismus dieser Art anzubieten hilft uns noch nicht bei den theoretischen Problemen, die sich ergeben, wenn man an moralische Universalien glaubt. Wie lassen sich gutartige und bösartigen Formen des Universalismus grundsätzlich voneinander unterscheiden?


Konkurrierende Universalien

Ich habe von Toleranz gesprochen. Aber auch die Helden des radikalen Islam tolerieren viele Dinge. Es ist ihnen egal, ob Sie Kebab oder Frikadellen oder Kung-Pao-Huhn essen, sofern nur das Fleisch halal ist, und Ihr hidschab darf aus Seide, Leinen oder Viskose sein. Andererseits gibt es auch Grenzen für kosmopolitische Toleranz. Manchmal möchten wir anderswo eingreifen, weil das Geschehen dort unsere fundamentalen Prinzipien so tiefgreifend verletzt. Wir sind auch in der Lage, moralische Irrtümer zu erkennen. Und wenn sie schlimm genug sind, werden wir uns nicht auf Gespräche beschränken - Völkermord ist hier ein unumstrittenes Beispiel. Toleranz erfordert auch eine Vorstellung davon, was nicht mehr toleriert werden darf.

Wie ich schon zu Beginn gesagt habe, glauben auch wir Kosmo-politen an universelle Wahrheit, aber wir sind uns nicht so sicher, dass wir sie bereits besäßen. Nicht Skepsis hinsichtlich der Idee der Wahrheit schlechthin leitet uns hier, sondern eine realistische Einstellung hinsichtlich der Schwierigkeiten, Wahrheit zu finden. Eine Wahrheit, an der wir allerdings festhalten, besagt, dass jeder Mensch Pflichten gegenüber anderen Menschen hat. Jeder einzelne Mensch zählt: Das ist unser zentraler Gedanke. Und er setzt unserer Toleranz eine klare Grenze.

Wenn wir verdeutlichen wollen, wodurch der Kosmopolit sich grundsätzlich vom Gegenkosmopoliten unterscheidet, müssen wir über weit mehr reden als über Wahrheit und Toleranz. Zum Kosmopolitismus gehört zum Beispiel der Einsatz für den Pluralismus. Kosmopoliten glauben, dass es viele Werte gibt, nach denen zu leben sich lohnt, und dass man nicht nach all diesen Werten leben kann. Darum hoffen und erwarten wir, dass verschiedene Menschen und Gesellschaften verschiedenen Werten Gestalt verleihen. (Aber die Werte müssen es wert sein, dass Menschen danach leben.) Ein weiteres Merkmal des Kosmopolitismus ist der von Philosophen so genannte Fallibilismus - der Gedanke, dass unser Wissen unvollkommen und provisorisch ist und angesichts neuer Erkenntnisse revidiert werden muss.

Die neofundamentalistische Vorstellung einer neuen Ummah lässt zwar gleichfalls lokale Abwandlungen zu - aber nur in Fragen, auf die es nicht ankommt. Diese Gegenkosmopoliten glauben, wiederum wie viele christliche Fundamentalisten, dass es nur einen rechten Weg für das Leben aller Menschen gebe und dass die Unterschiede sich allenfalls auf Details beschränken dürften. Falls Sie sich Sorgen wegen einer Homogenisierung der Welt machen, sollten Sie diese Utopie fürchten und nicht die Welt, die der Kapitalismus hervorbringt. Doch Universalismen religiöser Prägung sind nicht die einzigen, die das kosmopolitische Credo in sein Gegenteil verkehren. Im Namen universeller Menschlichkeit können Sie ein Marxist im Stile Maos oder Pol Pots sein und jegliche Religion ausrotten wollen, aber ebenso gut auch ein Großinquisitor, der die Aufsicht bei einer Autodafe führt. Deren Spiegel ist nicht zersprungen, sondern ganz, und wir besitzen keinen Splitter davon. Diese Leute wollen alle Menschen auf ihrer Seite haben, damit wir alle ihren Blick auf den Spiegel und die daraus erwachsende Sicht teilen. "Ich bin für Sie ein vertrauenswürdiger Berater", sagte Osama bin Laden 2002 in einer "Botschaft an das amerikanische Volk". "Ich lade Sie ein zum Glück in dieser und der nächsten Welt, ich lade Sie ein, Ihrem sterilen, elenden, materialistischen Leben zu entfliehen, das keine Seele hat. Ich lade Sie ein zum Islam, der dazu aufruft, allein dem Weg Allahs zu folgen, der Seinesgleichen nicht hat, dem Weg, der Gerechtigkeit fordert und Unterdrückung und Verbrechen verbietet." Schließt euch uns an, sagt der Gegenkosmopolit, dann werden wir alle Schwestern und Brüder sein. Doch beide haben die Absicht, alle Unterschiede niederzutrampeln und bei Bedarf auch uns selbst niederzutrampeln, falls wir uns ihnen nicht anschließen. Ihr Wahlspruch könnte das zynische deutsche Sprichwort sein:

     Und willst du nicht mein Bruder sein,
     So schlag ich dir den Schädel ein.

Für den Gegenkosmopoliten führt also Universalismus letztlich zu Gleichförmigkeit. Der Kosmopolit ist vielleicht froh, wenn er andere gemäß der Goldenen Regel behandeln kann (sofern wir für den Augenblick einmal von den oben erörterten theoretischen Problemen der "Universalisierbarkeit" absehen). Aber es ist ihm keineswegs gleichgültig, ob diese anderen vielleicht gar nicht so behandelt werden wollen. Damit ist die Sache zwar nicht unbedingt erledigt, aber wir glauben, dass diese Haltung berücksichtigt werden muss. Unser Verständnis von Toleranz besagt, dass wir respektvoll mit Menschen umzugehen haben, die unsere Sicht der Welt nicht teilen. Wir Kosmopoliten glauben, dass wir selbst von jenen etwas lernen können, die anderer Ansicht sind als wir. Wir glauben, dass die Menschen ein Recht auf ihr eigenes Leben haben.

Aus einigen Verlautbarungen des radikalen Islam geht dagegen hervor, dass solch ein Gespräch mit Menschen anderen Glaubens gerade vermieden werden soll. So etwa aus einer Botschaft des Dr. Aymen-al-Zawahiri, eines langjährigen Vertrauten Osama bin Ladens, übersetzt nach einer Tonbandaufzeichnung vom 11. Februar 2005, die von seinen Bewunderern im Web verbreitet wird:

     Die Scharia, die Allah uns gegeben hat, ist die Scharia, die befolgt werden muss. In dieser Sache hat niemand das Recht auf ein Wanken und Schwanken. Es ist eine Sache, die man nur mit größtem Ernst behandeln darf, weil sie keine Scherze verträgt. Entweder du glaubst an Allah, dann hast du Seinem Gesetz zu folgen, oder du glaubst nicht an Ihn, dann hat es keinen Sinn, mit dir über Sein Gesetz zu diskutieren. Die schwankende Einstellung, die der westliche Säkularismus zu verbreiten trachtet, ist für einen rechten Geist mit Selbstachtung nicht akzeptabel. Denn wenn Allah der Herrscher ist, hat Er das Recht zu herrschen; das ist offensichtlich, da kann es kein Zögern geben ?
     Und darum gilt, wenn du nicht an Allah glaubst, hat es logischerweise keinen Sinn, mit dir über die Einzelheiten Seines Gesetzes zu debattieren.


Hinter der Furcht vor dem Gespräch steckt offensichtlich die Angst, der Austausch mit Andersdenkenden könnte den Gläubigen verwirren. Hier gibt es keine Neugier auf die Ansichten der "Ungläubigen". Wir verkörpern ausschließlich den Irrtum.

Aber natürlich haben viele Muslime - darunter auch viele Religionsgelehrte - über den Charakter der Scharia, des islamisch-religiösen Rechts, diskutiert. In den letzten zwei Jahrhunderten haben sich herausragende islamische Gelehrte ernsthaft mit Ideen auseinandergesetzt, die von außerhalb des Islam kamen. Im neunzehnten Jahrhundert versuchten Sayyid Ahmad Khan in Indien und Muhammad ?Abduh in Ägypten, muslimische Vorstellungen von Moderne zu entwickeln. Und in jüngerer Zeit entwickelten Mahmud Muhammad Taha im Sudan, Tariq Ramadan in Europa und Khaled Abou El-Fadl in den Vereinigten Staaten ihre Auffassungen im Dialog mit der nichtmuslimischen Welt. Diese muslimischen Denker sind sehr verschieden, aber sie alle stellten das fundamentalistische Verständnis der Scharia in Frage - und dies mit weit tieferer Gründung im Korpus der älteren muslimischen Gelehrsamkeit als al-Zawahiri.(4) Ahmed al-Tayeb, Präsident der Al-Azhar-Universität, der ältesten muslimischen Universität der Welt (und tatsächlich der ältesten Universität schlechthin), lud den Erzbischof von Canterbury dazu ein, von seiner Kanzel aus zu sprechen. Und er sagte: "Gott hat verschiedene Völker geschaffen. Hätte Er eine einzige Ummah schaffen wollen, hätte Er es getan, aber Er hat beschlossen, sie bis zum Tag der Auferstehung verschieden zu machen. Jeder Muslim muss diesen Grundsatz vollauf verstehen. Jede auf Konflikt basierende Beziehung ist nutzlos."(5) Soweit diese Männer irgendetwas für diskutierenswert halten, erklären al-Zawahiris Syllogismen sie rundweg zu "Ungläubigen".

Ich denke, für uns Nichtmuslime hat es keinen Sinn, sagen zu wollen, welches der wirkliche Islam und welcher nur ein Ersatz ist. Geradeso wie es albern wäre, wenn al-Zawahiri entscheiden wollte, ob Empfängnisverhütung oder die Todesstrafe mit dem Christentum vereinbar sind. Es ist die Sache derer, die unter dem Banner des Christentums oder des Islam segeln möchten, zu bestimmen (und zu erklären, falls sie dies wollen), was ihre Banner bedeuten. Das ist ihr Kampf. Aber unter den Menschen, die sich Muslime nennen, gibt es auch tolerantere Vertreter und hat es schon tolerantere Zeiten gegeben. Wir können die historische Tatsache beobachten, dass es Gesellschaften gegeben hat, die sich als muslimisch bezeichneten und die Toleranz übten (wozu auch die allererste Zeit unter der Führung des Propheten selbst gehörte). So ist es denn tröstlich, zumindest für einen Weltbürger, dass sich heute so viele muslimische Stimmen für religiöse Toleranz aussprechen und die Gründe dafür den Interpretationstraditionen des Islam entnehmen.


Eid al-Fitr bei den Safis


Ich bin nicht als Muslim erzogen worden, aber ich bin unter Muslimen aufgewachsen. Meine Gefühle gegenüber dem Islam beginnen daher mit Familienerinnerungen, und wie bei so vielen Kindheitserinnerungen spielen sie am Esstisch. Als ich noch ein Kind war, gingen wir oft zum Essen zu unseren muslimischen Vettern, und dieses Essen (wie auch ihre Gesellschaft) war stets etwas, auf das man sich freuen konnte. Doch ich freute mich vor allem auf Eid al-Fitr, ein Fest, das am letzten Tag des Ramadan nach Sonnenuntergang beginnt. Der Ramadan ist ein Monat, an dem jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet wird. Damit erinnern die Muslime an die Ursprünge des Koran, den der Prophet Mohammed nach ihrem Glauben von Gott erhielt, und zwar beginnend mit diesem neunten Monat im muslimischen Kalender. Von Morgens bis abends essen gläubige Muslime in dieser Zeit nichts. Viele gehen in die Moschee, um Lesungen des heiligen Koran zu hören. Am Abend dann beenden sie für diesen Tag das Fasten mit einem Essen im Kreise der Familie. Am letzten Tag des Fastenmonats beginnt das große Fest Eid al-Fitr, Höhepunkt und Ende der Fastenzeit.

Tante Grace, die Kousine meines Vaters, führte beim Kochen die Aufsicht. Sie war eigentlich Christin und keine Asante, sondern eine Fanti von der Küste. Aber sie hatte Onkel Aviv geheiratet, einen libanesischen Geschäftsmann, der sich vor vielen Jahren in Kumasi niedergelassen hatte, und sie hatte gelernt, libanesische Gerichte ebenso perfekt zuzubereiten wie traditionelle ghanaische. Es gab Hummus und Tabbouleh, Falafel und Baba Ghanoush, Kibbeh und Loubia, gefolgt von köstlich süßem Gebäck, frischem Obst und starkem, gesüßtem schwarzen Kaffee.

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(4) Zu Sayyid Ahmad Khan siehe den Aufsatz von Javed Majeed in Islam and Modernity: Muslim Intellectuells Respond, London 2000; zu Taha siehe den Aufsatz von Mohamed Mahmoud; im gesamten Buch finden sich Hinweise auf Muhammad 'Abduh. Siehe auch Tariq Ramadan, Western Muslims and the Future of Islam, New York 2003; Kahled Abou El-Fadl, The Place of Tolerance in Islam, Boston 2002
(5) Siehe das Interview von Rania Al Malky in Egypt Today 26, Nr. 2 (Februar 2005)

Teil 3

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