Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Silvia Bovenschen: Älter werden. Teil 1

17.08.2006.
Anfangen Aufhören
Wann habe ich angefangen, bei der Ansicht älterer Filme zu registrieren, welche der Schauspieler schon gestorben sind?
Wann habe ich angefangen, bewußt im Fernsehen alte deutsche Filme aus den fünfziger oder frühen sechziger Jahren anzusehen, Filme, die mich inhaltlich und ästhetisch überhaupt nicht interessieren, nur in der Hoffnung, noch einmal den stillen Frieden kriegsverschonter Straßen in den sogenannten besseren Wohngegenden der Städte zu sehen: selten mal ein Auto, zuweilen ein Motorrad mit Beiwagen, baumgesäumte, stille Straßen in Schwarzweiß, holpriges Pflaster, freilaufende Hunde ... Ich sehe die Stille eines Sommertages. War ich als Kind glücklich, als ich das sah, oder will ich mich jetzt darin als glückliches Kind sehen?

Wann habe ich angefangen, die Menschen auf der Straße einzuteilen in diese, die leben wollen, und in jene, die leben müssen?

Als Heiner Müller in einem Interview kundgab, daß der Zeitpunkt erreicht sei, da die Zahl der gegenwärtig Lebenden größer sei als die der Toten aller Vergangenheit, habe ich überlegt, wann der Zeitpunkt erreicht sein wird, da die Zahl der in mir präsenten Toten, die ich einmal mochte, gar liebte, größer sein wird als die der mir nahestehenden Lebenden.

Jahreszeiten
Einst, als Kind, nahm ich die Jahreszeiten, wie sie kamen - den Wechsel des Wetters, von Helligkeit und Dunkelheit, Wärme und Kälte, Schulzeit und Ferienzeit. Es lohnte nicht, über diese Ablösungen nachzudenken, das Jeweilige dauerte zu lang, unendlich lang. Im Winter konnte ich mir nicht einmal mehr sehnend vorstellen, daß es dereinst wieder Sommer werden würde.
Wann habe ich angefangen, die Jahreszeiten ernst zu nehmen? Im Herbst den Anfang eines Sterbens zu sehen? Mich vor dem Winter zu fürchten, wirklich zu fürchten?

Altern des Lachens
Wenn ich jetzt Filme sehe, die ich in meiner Jugend schon einmal sah, schäme ich mich nicht bei der Erinnerung, daß mich einst diese Schnulze (wann wurde dieses Wort aufgegeben?) zum Weinen brachte, wohl aber bei der, daß ich einmal bei jener Klamotte herzlich lachte.


*

Dicke Pferde
Sie verschwanden so langsam, so schleichend aus dem Straßenbild, daß mir ihr Verschwinden erst viel später auffiel, als es sie lange schon nicht mehr gab: die Gezeichneten, die Versehrten, die Krüppel, wie man damals noch sagte. Männer an Krücken, ein leeres Hosenbein hochgebunden, ein inhaltsloser Jackenärmel schlaff herunterhängend, die starre hölzerne Hand im schwarzen Handschuh, schlecht geflickte Gesichter. Das waren die Kriegsverletzten. Blinde, Kaputtgeschossene, von Bränden Gezeichnete.
Aber auch jene Entstellungen durch das, was humorvolle Leute gerne als "Laune der Natur" bezeichnen, sah man zur Zeit meiner Kindheit in großer Zahl: allenthalben schielende Augen, Klumpfüße, Buckel, Kröpfe, Menschen mit wulstigen Diphterienarben, mit großen Geschwülsten - und dann gab es noch die Armen, die den Arzt nicht zahlen konnten, Menschen mit offenen Wunden und zahnlosen Mündern.
Sie alle verschwanden mit der Zeit, mit zunehmender Prosperität und ärztlicher Kunstfertigkeit, so wie die dicken Pferde, die die Wagen, hochbeladen mit Blockeis, Bier oder Kohlen, durch die holprigen Straßen zogen. Sie hießen meistens Liese oder Lotte, und nette Kutscher setzten ihnen im Sommer, um sie vor der Sonne zu schützen, Strohhüte auf, in die Löcher für die Ohren geschnitten worden waren. Ich hatte mein Gehör gut trainiert und erkannte das Geklapper der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster schon, wenn die Gefährte in unsere Straße einbogen. Dann rannte ich zur Speisekammer und entnahm einem Gefäß, das meine Mutter für diesen Zweck bereitstellte, kleingeschnittene Möhren und hielt sie den Gäulen auf straff ausgestreckter Hand vor die Mäuler. Manchmal hatte ich den Mut, den Kutschern zu sagen, daß sie ihnen die Schweife nicht kopieren sollten, weil dies die Waffe der Pferde gegen die Fliegen sei. Bestenfalls, wenn sie nicht über die altkluge Göre fluchten, lachten sie mich aus.
Das war mir schmerzhaft aufgefallen, daß die Pferdewagen allmählich den zunächst meist dreirädrigen motorisierten Lieferautos weichen mußten.
Das Verschwinden der Versehrten - das Ausmaß der seit meiner Kindheit möglich gewordenen Reparatureingriffe - trat mir erst kürzlich deutlich ins Bewußtsein, als eine Schriftstellerin - auch nicht mehr die Jüngste -, sich in die Gentechnologiedebatte einmischend, behauptete, daß es doch die schadhaften Unvollkommenheiten seien, die Defekte, die das Humanum auszeichneten. Erst im Leid komme der Mensch zu sich. Ja, was denkt sie sich denn da, in ihrer Sorge um das Genügen des Leids? Für den Schmerz war seit Hiob noch immer gesorgt. Geht Pest, kommt Aids. Was immer auf den biotechnologischen Baustellen der Menschheitsumgestaltung zu unserem Schaden oder unserem Nutzen erdacht und gemacht werden kann, fürs Leid wird es immer genügend Schlupflöcher geben.

Zu den wenigen Überzeugungen, die mir im Lauf der Zeit nicht verlorengingen, gehört, daß es, bei allen Anstrengungen zur Verbesserung von allem, zur Vermehrung des Guten, immer nur um die Verminderung des Leids gehen kann. Die Zeichen weisen in eine andere Richtung.

Was die zahnlosen Münder betrifft: Man sieht sie schon wieder in den ärmeren Stadtvierteln Berlins. Die Gesundheitsreform (ein denkwürdiges Wort) hat dafür gesorgt.
Und sie wird für noch mehr sorgen.


*

Amerika, Amerika
"Repräsentative Altbauwohnung in zentraler Lage. Großzügig saniert. Flügeltüren, Parkett, Stuckdecken ..." - Das wird teuer. Wer dieses Inserat liest in einer westdeutschen Großstadt und noch keine Wohnung hat, wer hier einen Anruf in Erwägung zieht, der hat Geld fürs Schöne Wohnen.
Ob der junge erfolgreiche Bankangestellte, verheiratet mit einer jungen erfolgreichen Börsenmaklerin, wenn er seinen Mies-van-der-Rohe-Sessel auf dem zu glänzend versiegelten Parkett placiert, ahnt, wie diese Häuser nach dem Krieg ausgesehen haben?
Dunkel waren sie. Braunverfärbte Tapeten, graues, verrußtes Gemäuer, Hinweisschilder auf den Luftschutzkeller, rumpelnde, unzuverlässige Boiler. Gesprungenes Porzellan, Klos und Waschbecken mit alten verdächtigen Rändern. Viel schadhafte weiße Emaille. Es roch ein wenig nach Kohle, zuweilen nach Urin und Kohl. Durchgetretene Dielen, kaputtes Parkett, selbst in einst hochherrschaftlichen Häusern des Frankfurter Westends. Da gab es nichts zu romantisieren. Da war Sanierung angebracht.
Fünfzig Jahre Wohlstand haben diese Spuren beseitigt. Allerdings nicht immer nur zum Wohle der Häuser, in denen später auch der Billigmarmor und die Rauhfasertapete Einzug hielten.
Ich überlege, wie schnell im Falle eines voranschreitenden wirtschaftlichen und (damit einhergehend) zivilisatorischen Niedergangs ein ähnlicher oder noch schlimmerer Zustand wieder eintreten könnte. Sehr viel schneller, als man denkt, denke ich. Schnellverslumung. Die Zivilisationskruste ist dünn. Die Materialien sind nicht unbedingt besser geworden.

Als junge Frau las ich einen Roman von Joseph Roth, in dem eine Figur vorkam, die immer, wenn sie etwas richtig gut fand, ausrief: "Amerika, Amerika." Ich erinnere mich, daß ich lachen mußte, weil ich mich erinnerte, daß mich im Alter von zehn Jahren und einige Jahre anhaltend eine ähnliche proamerikanische Emphase ergriffen hatte. Ich kann das deshalb so genau datieren, weil dies der Zeitpunkt war, zu dem wir nach Frankfurt am Main zogen, zu meiner Freude in eine große helle Neubauwohnung (der Altbau-Kult kam erst später über das Land), neben dem IG-Farben-Hochhaus, dem Hauptsitz der amerikanischen Militärverwaltung. Am Rande der damals noch uneingezäunten Grünflächen vor dem Gebäude parkten die Amerikaner ihre Autos: große, blitzende Gefährte, manche gar zweifarbig, mit viel Chrom, ausladenden Heckfl ügeln und imposanten Kühlerornamenten. Das gefi el mir. Ich fuhr die Reihen mit meinem Fahrrad ab und konnte bald die Fabrikate auseinanderhalten. "Warum fährst du keinen Thunderbird in Weiß-Türkis", fragte ich meinen Vater, der diese Markenbezeichnung wahrscheinlich erstmalig hörte und für den jede Lackierung jenseits von dunkelgrau oder dunkelblau indiskutabel war. Er verdrehte die Augen zum Himmel.
Im Gegensatz zu ihm war ich ein wenig vorbereitet auf diese kulturelle Fermentierung aus der Neuen Welt. Hatte mir doch jemand schon Jahre zuvor ein amerikanisches Mickey- Mouse-Heft in die Hand gedrückt, das ich zwar nicht lesen konnte, dessen bunte Bildwelt mich aber sofort hochgradig faszinierte. Dort lebten alle vergleichsweise lustig und sorgenfrei in frischgestrichenen sauberen weißen Häusern mit roten Dächern und einem quietschgrünen Rasen im Vorgarten. Einer badete sogar im Geld. Überdies war immer schönes Wetter. Amerika, Amerika.

Teil 2