Vorgeblättert

Monika Geier: Stein sei ewig. Teil 2

03.11.2003.
Teil 2 

Willenbacher ließ die Zeitung sinken. Er war erschüttert.
"So, und hier ist die andere." 
Den Lautringern war das Ereignis wenigstens den Titel der Lokalseite wert gewesen. Rätselhafte Kunstdiebe!, behauptete er. Auf dem zugehörigen Foto war ein älterer Herr abgebildet, der mit erhobenen Händen neben einer leeren Plakatvitrine stand und strahlte. Einer der Diebe wahrscheinlich. Der Artikel darunter war launig abgefasst. Künstler, denen gleich mehrere Arbeiten gestohlen worden waren, kamen zu Wort und feierten sich stolz. Fast, zu diesem boshaften Schluss kam jedenfalls der Autor der Zeilen, könnte man glauben, bei der ganzen Angelegenheit handele es sich um eine heimliche Fortsetzung der Aktion, eine Art Event, das nachträglich die einfachen Dimensionen der Plakatvitrinen sprengte. Oder um einen klugen Marketinggag. 
"Aber das ist doch ein Fall für die örtlichen Dienststellen", sagte Bettina ärgerlicher, als wahrscheinlich gut für sie war. "Was sollen wir vom K 11 dort? Etwa mit der Spurensicherung antanzen und zwölf Plakatvitrinen einstäuben lassen?"
"Das halte ich für übertrieben", erwiderte Härting trocken. 
Bettina atmete durch. Dies Gespräch konnte nur ein Missverständnis sein. "Wir sollen also offiziell als K 11-er nach Lautringen fahren, um dort den Diebstahl von zwölf Plakaten zu untersuchen? Als Kapitalverbrechen? Ist das angemessen?"
"Es handelt sich hierbei um ein Politikum." Härtings schmaler Mund hob sich zu einem winzigen Lächeln.
Das "Politikum" schien zumindest Willenbacher wieder etwas aufzurichten. Was so ein bisschen Latein doch ausmachte, dachte Bettina. 
"Die Frage nach der Angemessenheit ist im Übrigen nicht Ihre Sache, Frau Boll. Und wo wir gerade dabei sind: Sie haben im vergangenen Monat mehrere Einsätze vorzeitig abgebrochen, um pünktlich Feierabend zu machen, obwohl wir hier, wie Sie ganz richtig sagten, Kapitalverbrechen bearbeiten." Härting blinzelte unfreundlich. "Wollen Sie das auch tun, wenn Sie dem Täter Auge in Auge gegenüberstehen?"
Bettina ärgerte sich. "Ich bin nie ohne Ihre Erlaubnis gegangen. Ich muss nun mal die Kinder von der Tagesmutter abholen. Das war so ausgemacht, oder nicht?! - Und ich habe Ihnen versichert, dass ich nie einen wichtigen Einsatz abbrechen würde."
"Schön", sagte Härting kühl, "das trifft sich wirklich gut, denn das hier ist ein wichtiger Einsatz. Sie beide werden Ihre Aufgaben in der Soko 'Künstler' bis auf weiteres niederlegen. Bis morgen Nachmittag erwarte ich Ihre überfälligen Berichte. Morgen Abend", er blickte Bettina an, "haben Sie dann einen Termin mit den Geschädigten. Mit dieser Künstlergemeinschaft. In deren Vereinslokal." Er reichte ihr drei zusammengeheftete Blätter. Die Anzeige, eine schlechte Kopie des Lautringer Stadtplans mit zwölf roten Punkten darauf und ein Zettel mit einer handschriftlichen Terminabmachung. "Seien Sie nett, Böllchen, und tun Sie so, als würden Sie die Leute ernst nehmen. Denken Sie immer dran, Sie sind vom K 11. Die Lautringer Kollegen wissen Bescheid." Er grinste schmal. "Na ja, am besten, Sie lösen den Fall. Das wäre vielleicht am elegantesten. Auch den Lautringer Kollegen gegenüber, die sollen schließlich nicht ihren Glauben verlieren."
"Aber die Soko braucht jeden Mann", meldete sich Willenbacher flehentlich zu Wort. "Wir sind doch noch -"
"Herr Willenbacher", unterbrach Härting, "Sie sind nun mal künstlerisch interessiert. Sie können mit diesen Leuten reden. Sie kennen die sogar! Wir brauchen Sie genau an dieser Stelle! Wer außer Ihnen weiß hier schließlich, was der Unterschied zwischen einer Volute und einem - hm", an dieser Stelle lief der Hauptkommissar leicht rosa an, "einem - Dingsbumsblatt ist ?" Er räusperte sich. "Und davon abgesehen verstehen Sie sich mit Frau Boll." 
Oh, dachte Bettina, das spricht natürlich gegen ihn.
"Und Frau Boll ist in dieser Phase der Ermittlungen für die Soko einfach - entschuldigen Sie das Wort, Frau Kollegin - zu belastend. Ich kann mir nicht jeden Abend überlegen, ob Frau Bolls Einsatz wichtig ist oder nicht. Wir brauchen Leute, die im Notfall auch mal selbst entscheiden können. Immerhin sind wir im gehobenen Dienst." 
Jetzt reichte es. Bettina sprang auf. Der zudringliche Hibiskus streifte sie. Ärgerlich schlug sie ihn zur Seite. Erst war sie nicht lenkbar genug und dann zu unselbständig, und das innerhalb von nicht mal zehn Minuten. "Was ist mit den Familienvätern?", rief sie. "Die gehen auch mal früher, um ihre Kinder abzuholen! Wir haben über zehn Väter in der Abteilung - Sie inbegriffen, Herr Hauptkommissar, und keiner von Ihnen macht deswegen seine Arbeit schlechter." 
Eine schwere, blutrot gefüllte Hibiskusblüte schwankte noch, fiel dann zu Boden und lag nun neben einer Auswahl von Flaschen mit verschiedenen Giften. Gegen jeden Schädling ein eigenes. Härting sah die Blüte stirnrunzelnd an. "Das ist etwas ganz anderes, Böllchen: Wir haben Familien. Sie aber sind allein erziehend, noch dazu mit zwei Kleinkindern. Ich habe nichts gegen arbeitende Frauen -", hier blickte Härting auf, "aber etwas gegen Kollegen, die in meiner Abteilung versuchen, gleich zwei Vollzeitberufen nachzugehen. Das genau tun Sie nämlich, Frau Boll. Und ich kann in einer Sonderkommission keine übermüdete Beamtin gebrauchen, die zwischendurch einkaufen geht und die Minuten bis zum Feierabend zählt. Sie sind ein Risiko, für Ihre Kinder und auch für die Kollegen. Denken Sie mal genau nach: Auch Sie würden keinen Lahmen, dem Sie den Krückstock hinterhertragen müssen, mit zu Außeneinsätzen nehmen, wo Gott weiß was passieren kann. Oder?"
"Ich bin nicht behindert", sagte Bettina, weiß vor Zorn.
"Das habe ich auch nicht gesagt." Härtings Gesicht war nun drohend. "Seien Sie froh, dass Sie nach Lautringen dürfen. Lassen Sie sich Zeit dort und überlegen Sie, was gut für Sie ist." Er sah an Bettina vorbei, nickte Willenbacher zu und griff sich ein Foto von einem toten Jungen, das auf seinem Schreibtisch lag. "Viel Erfolg. - Alles andere besprechen wir, wenn Sie zurück sind." 
Draußen vor Härtings Tür blieb Bettina im finsteren, nur vom trüben Novemberlicht erhellten Gang stehen. Am liebsten hätte sie jetzt was kaputtgehauen. Irgendwas. Eine Plakatvitrine. Einen Hibiskus. Da hatte sie dieser unfähige Hund von Chef tatsächlich vor der alten Klatschtante Willenbacher quasi aufgefordert zu kündigen - das war doch eine Unverschämtheit. Wahrscheinlich sogar illegal, aber das scherte Härting nicht, und mit ihr konnte er es ja machen. Willenbacher stand neben ihr und sah benommen aus.
"So eine Scheiße", sagte Bettina. "Das ist ja wohl -"
"Du schuldest mir noch zweitausend Euro", sagte Willenbacher giftig und rauschte davon.
So viel also zu ihrem Rückhalt bei den Kollegen. Bettina fluchte unfein vor sich hin. Und auch noch ein Abendtermin mit diesen Scheißkünstlern. Die Tagesmutter würde sie umbringen. Schließlich war sie eine Tagesmutter, wie sie immer betonte, wie Tag, am Abend arbeitete sie nicht mehr ? 

* * * 

Ella war spät aufgestanden. Eigentlich hatte sie morgens in die Denkmalschutz-Vorlesung gehen wollen, das hatte sie sich für dieses Semester fest vorgenommen, doch die Veranstaltung begann um acht, und das hatte sie nicht geschafft. Jetzt war es elf, und nun hatte sie nichts zu tun, außer auf die verhasste Vorstellung heute Nachmittag zu warten, je näher die rückte, desto kribbeliger wurde sie. Ella wünschte, sie wäre verhindert. Sie saß wieder auf ihrem Rad, fuhr rasch, ohne den Verkehr richtig wahrzunehmen, kreuz und quer durch die Stadt. Morgens hatte der Himmel einen grauen Schleier übergeworfen, und nun sahen die Straßen kalt und schmutzig aus und der herbstliche Waldgeruch wurde von dem Diesel des klapprigen weißen VW-Bus vor ihr verdrängt. Ihr Projekt war nicht auffällig, ein paar Himbeersträucher hatte sie gepflanzt, im Karree, auf eine kleine, versteckte Wiese auf dem Gelände, als lebende Kunst, Land Art, darum ging es bei der Aufgabe, doch im Moment kam ihr das einfach idiotisch vor. Was hatte sie sich dabei gedacht?
Nun fuhr die Autoschlage an der Ampel vor ihr an und sie musste sich konzentrieren, links abbiegen, immer in Bewegung bleiben. Heute war ein Tag zum Links-Abbiegen. Sie wechselte die Spur, zog an einem protzigen schwarzen Mercedes-Cabrio mit einer Blondine drin vorbei, die ihr die Faust hinterherschüttelte; die Dame konnte sich ihrer Herkunft noch entsinnen, aus irgendeinem Grund hob das Ellas Laune. Sie schlängelte sich durch den Gegenverkehr, erreichte eine ruhige, dafür umso steilere Straße, nahm den Berg kraftvoll und souverän, wenn nur alles so einfach wäre. Oben dann rollte sie lässig an einer Bushaltestelle vorbei, die zugehörige Plakatvitrine war leer, das sah ganz merkwürdig aus, als wäre die Haltestelle tot, als würde sie nicht mehr angefahren, als wären auch die umliegenden Häuser höchstens provisorisch bewohnt. Sollte da nicht sogar momentan Kunst drinhängen?
Oder war sie das etwa? 

Zur Vorstellung der Skulpturen regnete es dann wirklich, wie angekündigt. Sie fand trotzdem statt. Es waren zu viele Fachgebiete beteiligt, Grünordnungsplanung, Werken, Raumgestaltung, mit zu wichtigen Menschen, die in diesem Leben nie wieder einen gemeinsamen Termin finden würden. Außerdem war es ein Renommierprojekt, die Arbeiten sollten dauerhaft das Waldstück um den frisch renovierten Winterturm zieren; eine Lautringer Familie wollte einen Preis stiften, und sogar eine Dame von der Rheinpfalz hatte bereits vorbeigeschaut. Keine Chance, die Veranstaltung zu vertagen oder abzukürzen. Außer man war Studentin und verzichtete aufs Vorstellen. Die schwarzfeuchten Bäume um sie her tropften, Ella fror. Doch immerhin stand nun knapp vor ihr2, als einziger Lichtblick im trüben Grau, der Architekt und Grünordnungsplaner Thomas Armbrust. In persona. Und obwohl er von allen Korrekteuren mit Sicherheit derjenige war, der zur Zeit am meisten zu tun hatte, wirkte er am entspanntesten, ruhig und freundlich. Und sah gut aus, ganz wie Ella ihn in Erinnerung hatte, vielleicht ein bisschen dünner als letztes Semester. Sie reckte den Kopf, um eine bessere Aussicht auf sein Profil zu bekommen - das war natürlich überspannt, andererseits war es einfach nett, ihn anzusehen. Ihm standen die knappen Koteletten, die in zu vielen bemüht charaktervollen Architektengesichtern störten. Und Thomas? dunkle Haare waren zurückgekämmt und so messerscharf geschnitten, wie Ella es sonst nur von Szenenfotos aus alten Gangsterschinken kannte. Sie trat noch ein bisschen näher heran, wenn jetzt jemand käme und sie schubste, würde sie gänzlich unabsichtlich auf den Herrn Architekten Armbrust drauffallen ?
Hinter Ella, in der Reihe ihrer Kommilitonen, entstand Bewegung. Sie blickte zurück und wurde tatsächlich geschubst, kräftig und gezielt, allerdings in die andere Richtung, von Thomas fort. 
"Oh, Pardon", sagte eine helle Stimme befriedigt. Die zugehörige naturblonde Studentin trug einen echten Pelzkragen und roch blumig nach Geld. Eine Frau mit Doppelnamen, wusste Ella. Ann-Kathrin? Jedenfalls aus ihrem Semester. Rasch hieb ihr die mutmaßliche Ann-Kathrin noch den Ellenbogen in die Seite, bevor sie sich mit ihrem Haifischlächeln an Thomas ranmachte: "Hallo, Herr Armbrust."
"Anna?"
"Frau Dettenhorst. - Mal eine Frage, finden Sie es nicht ineffektiv, mal hier, mal da zu korrigieren? Also", sie sah feierlich auf eine elegante silberne Uhr, die wahrscheinlich zu den unveräußerlichen Gütern ihrer Familie zählte, "es ist schon drei vorbei, und wenn wir so weitermachen, stehen wir heute Abend noch hier."
Ann-Kathrins Projekt befand sich überraschenderweise ganz in der Nähe, und sie kam, weil es sich anbot, als Nächste dran. Selbstsicher pflanzte sie sich vor einem Steinkreis aus Rheinkieseln auf, die bei der Nässe und Dunkelheit kaum zu erkennen waren, musterte ihre frierenden Zuhörer drohend und hob an zu sprechen: "Wir sind hier auf einem Gelände, das mal ein Garten war. Umfriedeter Garten heißt auf Altpersisch pairie-daeza, woher unser Wort Paradies stammt. Das Paradies ist heute aber nicht nur der Garten, sondern eben auch alles Wunderbare, was wir damit verbinden." Nun lächelte sie einnehmend in die Runde. "Und dazu habe ich mir Gedanken gemacht."
Das mit den Gedanken bezweifelte Ella stark. Sie glaubte nicht, dass Ann-Kathrin überhaupt ein Gehirn besaß, höchstens eine leichte Verdickung der Nervenstränge irgendwo im Lendenwirbelbereich. Der direkte Angriff der Kommilitonin hatte sie in der Gruppe weiter zurückfallen lassen. Zwischen ihr und Thomas Armbrust befanden sich nun ein verwilderter Rhododendron und mindestens drei Reihen Studenten. Was schade war, aber den Vorteil hatte, dass sie sich hier auf einem Stück geteerten Weges befand und außerdem Ann-Kathrin nicht sehen, sondern nur hören musste. Schlimm genug. 
Ellas Kommilitonin machte eine längere Pause und hielt dann ein Buch über ihrem Kopf, dessen Titel im düsteren Licht nicht zu erkennen war. "Dies ist mein Lieblingsbuch", bekannte sie. "Von Janosch." Sie blätterte. "Der kleine Bär und der kleine Tiger langweilen sich zu Hause. Sie gehen fort in die Welt, bekommen aber Sehnsucht und kehren zurück. Dort stellen sie fest, dass es zu Hause doch am schönsten ist. Das Paradies eben." Ann-Kathrin klappte mit einem begeisterten Knall das Buch zu und verstummte, wahrscheinlich aus Ehrfurcht vor seiner physischen Präsenz, der Gewalt seiner unleugbaren Existenz.
"Der Steinkreis", erinnerte Dr. Martens, die Professorin für Raumgestaltung nach einer Weile, "aus Rheinkieseln." 
"Ja. - Die Steine bilden einerseits eine Grenze, die ein Stück Garten einschließt, also ein Paradies im altpersischen Sinne. Außerdem ist der Kreis aber auch ein Symbol der Wiederkehr ganz im Geist dieser schönen Geschichte von Janosch; wenn wir ihn abgehen, erleben wir viele verschiedene Eindrücke, von hier aus kann man zum Beispiel den Winterturm sehen, von dort vorne die Straße und den Sportplatz und so fort. Aber am Ende kommen wir immer wieder zum Ausgangspunkt zurück." 
Das Schweigen aus der vordersten Reihe dehnte sich. "Wir können den Kreis gern mal abgehen", erbot Ann-Kathrin. 
Ihre eigens mitgebrachten Claqueure, die schon vorwurfsvoll blickten, bereit, im Notfall eine spontan protestierende Entwurfsklasse zu imitieren, setzten sich eifrig in Bewegung. Ella zündete sich die erste Zigarette dieses Tages an. Wenn das so weiterging, würde sie wieder richtig anfangen zu rauchen.
"Beruhigen Sie sich", rief Dr. Martens. Die Professorin war eine kompakte, nur äußerlich mütterlich wirkende Frau, die Doc Martens genannt wurde. "Wir wollen vorerst davon ausgehen, Frau Dettenhorst, dass Ihre Theorie, der zufolge ein Kreis in sich unbegrenzt ist, zutrifft."
Dank der Bewegung, die durch die Gruppe gegangen war, stand Ella jetzt wieder näher am Zentrum des Geschehens. 
"Aber Sie haben Recht, Frau Dettenhorst, wir sollten diesen Steinkreis abgehen."
Abermals Aufbruchstimmung bei den Kommilitonen vorne, gemischt mit leichten Unmutsäußerungen und auffälligen Blicken auf die Uhren.
"Und das werden wir vielleicht auch tun, wenn Sie zunächst die relevanten Punkte ansprechen."     
"Aber das habe ich." Was wollt ihr denn jetzt noch, sagte Ann-Kathrins Tonfall. Wozu habt ihr eigentlich studiert, wenn ihr nicht mal meine Gedanken lesen könnt? "Ich sagte doch schon: das altpersische pairie-daeza -"
"Also wissen Sie was", meldete sich eine schlanke, dunkelhaarige und ziemlich junge Frau etwas aufgeregt zu Wort, "ich kenne diese Geschichte von dem kleinen Bären und dem kleinen Tiger, und mir gefällt sie auch sehr gut."

Teil 3
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