Vorgeblättert

Peter Zilahy: Die letzte Fenstergiraffe. Teil 1

03.09.2004.
      B 

      bun = Sünde
      baratsag = Freundschaft
      baratsagos = freundlich 

Eine für den Balkan Expreß, mit Ermäßigung. Nur die Hinfahrt. Er verlangt meinen Paß, ich schiebe ihn durch das kleine Fenster unter seine Brille. Sie wissen, daß Sie kein Jugendlicher mehr sind, sagt er - Ist das eine Frage?! Könnte man es nicht trotzdem zurückdatieren, frage ich, schauen Sie mich doch an, ich sehe nicht älter aus als fünfzehn. Er schaut mich von oben bis unten an, was erlaube ich mir, hier steht doch das Geburtsjahr, keine dreißig Prozent, basta. Was ich mir einbilde, halte ich etwa die Ungarische Staatsbahn für blöd?! Daß die MAV blöd sein könnte, das ist mir noch nie in den Sinn gekommen, wirklich nicht, noch nie. Die BKV(1) ja, die ist blöd. Er schaut mir in die Augen und bittet sich das aus, von wegen die MAV! Dreckig aber nicht blöd. Das wäre ja noch schöner, wenn man die Fahrkarte danach bekäme, wie man aussieht, und er macht mich zur Schnecke, als ob ich fünfzehn wäre.
Ich bin der einzige Ungar im Zug, der Schaffner warnt mich, ich solle mich einschließen, unsere würden bei der Grenze aussteigen (Polizisten!). Und von da an weiß keiner. Seit dem schwarzen Buch von Bor(2) halte ich mit meinen Vorurteilen nicht mehr hinter dem Berg. Ich betrachte durch die Speichen der Bäume die Sterne und summe leise gegen die Fahrrichtung: Everytime-ju-go...
Ich kann mich erinnern gelesen zu haben, wie Leo Trotzki und Bram Stoker, nachdem sie Budapest verlassen hatten, mit lustvollem Grauen dem nahenden Balkan entgegenfieberten. Sowohl der Kriegsberichterstatter als auch der Horrorromanschreiber beschrieben die Landschaft auf ähnliche Weise, Trotzki glaubte in der dritten Klasse sogar die Arche Noah der Völker entdeckt zu haben. Aus diesem Umfeld stammen die Hauptwerke der beiden Autoren: Die Legende des Grafen Dracula und die Rote Armee.
Als Vollpreisfahrgast des Balkan Expreß zuckele ich schlaflos dahin. Schlafe ich nicht, muß ich trinken, trinke ich, muß ich pinkeln. Der Zug rüttelt und schüttelt sich, fährt absichtlich langsam, wir sind in eine andere Zeitzone übergetreten. Auf dem Gang rollt eine Bierflasche hin und her, wo ihre Öffnung hinzeigt, suche nach dem Speisewagen. Aus einem Liegeabteil Gusliklänge, Dudelsäcke, Jubel, Trubel, Heiterkeit, trotzdem frage ich sie, ob es einen Speisewagen im Zug gibt. Sie schütteln die Köpfe im Takt der Musik und schicken mich in sämtlichen serbokroatischen Sprachen zum Teufel.
Im Sommer segelten wir auf dem Plattensee, im Winter war der See zugefroren, das Training verlagerte sich in die Budaer Burg. Wir liefen im Kreis auf der Stadtmauer, umrundeten das phallusförmige Grab Abdurrahmans, der einen Turban auf dem Kopf trug, den ich für die Erdkugel hielt. Ich schmiedete hochfliegende Pläne, die Erde zu umschiffen und nicht zu kotzen. Daß die Erde rund und nicht flach war, schienen meine Sportverletzungen zu bestätigen. Den nächsten Hafen gab es im Atlas zu sehen, meine großen geographischen Entdeckungen hatten ihren Ausgangspunkt auf Seite 16 des Weltatlasses. Anfangs hielt ich Amerika für Indien, aber mein ausdauerndes Wandern über die Weltkarte blieb nicht ohne Ergebnis. Am Ende einer hitzigen Partie Stadt-Land-Fluß bemerkte ich, daß man mit dem Lineal eine Linie von der Nordsee bis zum Persischen Golf ziehen kann, entlang derer lauter Hauptstädte mit B liegen. Die Brüssel-Bonn-Becs(3)-Budapest-Bukarest-Bagdad-Achse sprach für sich, und da ich mir im klaren darüber war, daß die Entstehung der Städte auch durch Flüsse, Meere und Berge beeinflußt wird, empfand ich die Hinzuziehung Bratislawas, Belgrads und Berns auch nicht als zu weit hergeholt. Daß Berlin etwas zu weit nördlich liegt, konnte man als linguistisch-tektonischen Lapsus betrachten, der nach dem zweiten Weltkrieg von den Großmächten korrigiert worden ist. Meine Entdeckung schien dadurch untermauert zu werden, daß sich in der Nähe der Bruchlinie noch andere Städte mit B befanden: das nordbrabantische Breda an der belgischen Grenze, Basel und Bolsano in den Alpen, Baden in Baden-Baden, Bayreuth und Bamberg in Bayern, das alte slowakische Banska Bystrica, das märische Brünn, und Badacsony am Ufer des Balaton. Das bosnische Banja Luka liegt etwas abseits vom Schuß, aber das Siebenbürgische Brasov trifft genau den Schnittpunkt. Hat man den Balkan überwunden, verläuft die sprachtektonische Bruchlinie am Ufer des Schwarzen Meeres über das bulgarische Burgas zum Bosporus, wo Istanbul, oder anders Byzanz, und schließlich die alte osmanische Hauptstadt Bursa folgen. Aus der Masse der auf dem Weg liegenden türkischen Städten mit B sind wegen der sprechenden Namen Batman am Tigris und das benachbarte Bitlis hervorzuheben. Auf dem Weg nach Beirut erlauben wir uns einen kleinen biblischen Schlenker und sacken die Städte Byblos, Balbek und Bethlehem ein, neben Bagdad stehen dann wiederum die Ruinen Babylons. Es war für mich sonnenklar, daß es eines morphologischen Atlasses bedurfte, der nachweisen würde, daß der Buchstabe B eine mindestens genauso große Rolle in der Entwicklung der Zivilisation gespielt hatte, wie die großen Flußtäler. Die Geschichte dreht sich von Babylon bis Brüssel um eine große B-Weltachse, vom unbewußten Brabbeln des Neugeborenen bis Banska Bystrica. Vor meinem geistigen Auge gewann eine über-nationale Erdkugel Konturen, und ich vertraute darauf, daß uns die Anwendung eines solchen Atlasses, mit der entsprechenden Logopädie gepaart, zu den Jahren vor Babel zurückführen würde, als die Menschheit noch eine Sprache sprach. Verglichen damit, wie oft sich die Linien auf unserem Atlas im Laufe dieses Jahrhunderts verändert hatten, fühlte ich festen Boden unter meinen Füßen.(4)

Vor Belgrad wird es neblig. Wüßte ich nicht, daß wir in ein Tal eingefahren sind, würde ich es als schlechtes Omen werten. Der Nebel ist so dicht, daß man nicht weiter als zehn Zentimeter sehen kann, und selbst da ist nur Nebel, und dahinter der Rest des Nebels und Belgrad, wo, das sagt mir die Erfahrung, der Zug ankommen wird, und ich aussteigen werde.
Ankunft in einer fremden Stadt, ein vertrautes Gefühl, gehen, als wüßtest du, wo lang, als wärst du schon hundertmal dagewesen, die Taxifahrer sprechen dich nicht einmal an. Aufmerksam sein für die Details, die Füße, die Uhren, die Ampeln, die Kippen, die Hüte der Frauen. Etwas einkaufen, egal was, du bist kein Außenstehender mehr. Sich auf eine Bank setzen und die Bewegung beobachten, die Farben, die Proportionen. Belgrad. Bestimmt bin ich schon einmal hier gewesen. 

"Der Nebel ist eine Wolke, die ganz nah an der Erde ist. Wenn wir im Nebel unterwegs sind, sind wir also eigentlich in einer Wolke unterwegs."(5) 

Beim abendlichen Cocktail höre ich Schüsse, am nächsten Tag hängen zwei Kränze an der Kreuzung. In der Zeitung junge Burschen in immer demselben Mantel. Ich habe einen Film über die Belgrader Unterwelt gesehen: Die Sünde, die Serbien veränderte. Bis er fertiggestellt war, hatte man den Großteil der Darsteller umgebracht. In den siebziger Jahren ließ die Polizei die schweren Jungs ausreisen. Sie bekamen falsche Pässe als Tausch für einige kleine Dienste, die Liquidierung politischer Gegner im Rahmen eines Unfalls und ähnliches.
Die Gastarbeiter kamen regelmäßig nach Hause, um ihre D-Mark auszugeben, ihre Schweizer Franken, ihre Schwedischen Kronen, in den neunziger Jahren brach ein Krieg zwischen den neuen Banden aus. Ein Mafioso beklagt sich im Film, das organisierte Verbrechen könne sich in Belgrad nicht entfalten, weil alle nur kurzfristig dächten. Lieber erschössen sie einander für ein Trinkgeld, als daß sie abwarteten, bis ein größerer Deal winkt. Dabei müsse man nur warten. Siehe das Beispiel Arkans in Bosnien.
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(1) Budapester Verkehrsbetriebe
(2) Das Notizbuch mit dem schwarzen Einband gehörte dem ungarisch-jüdischen Dichter Miklos Radnoti ( 1909-1944), er benutze es während seines Aufenthalts in einem Konzentrationslager in der Nähe von Bor. Man fand es in einem Massengrab. Es beinhaltete seine letzten Gedichte.
(3) Ung.: Wien
(4) Vgl. die Landkarte auf Seite 119. Die Ausweitung der Linie Richtung Norden nach Birmingham und Belfast; im Süden steht Bahrein fest und bei Bilad Banu Bu Hasan erreichen wir den Ozean.
(5) Ablak, 83. Versäume nicht, dir den Abschnitt über die Wolken auf Seite 42 anzuschauen!


Teil 2