Vorgeblättert

Ralph Dutli: Mandelstam, Teil 3

21.07.2003.
Der eifersüchtige Patriarch, der Tyrann beim Diktat, der rührend besorgte Moskitojäger: Die Wirklichkeit von Ehegatten ist vielfältig. Ihr Zusammenbleiben war dennoch erstaunlich. Denn Nadeschda, die als junge Frau in den Kreisen der freizügigen, aufbruchsüchtigen Malereistudenten des revolutionären Kiew verkehrt hatte, wollte unabhängig sein und sich niemandem unterordnen. Weder Sanftheit noch Geduld noch besondere Treue seien ihre Eigenschaften gewesen, immer habe sie Lust auf Abenteuer gehabt, und streiten konnte sie so gut wie ihr Mann. Wie es Mandelstam gelang, sie dennoch an sich zu binden - dieses Rätsel wird noch die Autorin des Kapitels Erste Streitigkeiten umtreiben.
Im Fernseh-Interview von 1973 hielt Nadeschda fest, tagsüber hätten sie sich oft gestritten, "doch die Nächte waren gut, in den Nächten haben wir uns geliebt". Die sexuelle Anziehung zwischen den Partnern muß stark gewesen sein. Das "physische Gelingen" dieser Beziehung, so die Memoiren, habe Mandelstam nicht als Herabsetzung ihrer Liebe verstanden, sondern im Gegenteil. Ungleich Alexander Blok, der in seinem Liebesmythos der entrückten "Schönen Dame" nachhing, habe Mandelstam seine Liebe mit einem "schlichten Mädchen" (dewtschonka) verwirklichen wollen, mit dem "alles zum Lachen, simpel und idiotisch" sei, aber allmählich jene "äußerste Nähe" sich entwickle, wo man sagen könne: "Mit Dir bin ich frei."
Sexualität war für Mandelstam unverbrüchlich mit dem Leben verbunden, bedeutete Vitalität. Die Metapher des "geschlechtslosen Raumes" in einem Woronescher Gedicht von 1935 ("Nein, nicht ein Kopfschmerz"; WH, 55) bezog sich auf den Tod. Geschlechtslosigkeit bedeutete für ihn Gleichgültigkeit, Unfähigkeit zur Wahl, zu einem moralischen Urteil. Mandelstams Werk ist in erotischen Dingen zurückhaltend, und dennoch ist unverkennbar, daß es auch von diesem Feuer sich nährt. Doch das Erotische entsteht - in den Gedichten für Marina Zwetajewa, Salomeja Andronikowa, Tinatina Dschordschadse, Olga Arbenina, Olga Waksel und Maria Petrowych, aber auch für Nadeschda Mandelstam ("Europas zarte Hände, nehmt euch - alles!" TR, 127) - in der Evokation von scheinbaren Nebensächlichkeiten, in verhalten gezeigten, zärtlich beschworenen körperlichen Details (Stirn, Pupillen und Wimpern, Hals, Schultern und Hände, Haut). Kein plakatives Vorzeigen regiert, sondern ein sublimierter, suggestiver Eros.
Erst allmählich wuchsen die Mandelstams zu einem starken, unzertrennlichen Paar zusammen, dessen Liebe die gemeinsame Freundin Anna Achmatowa, deren drei Ehen durch Scheidung endeten, immer staunen machte: "Ossip liebte Nadja unglaublich, unvorstellbar. (...) So etwas ist mir in meinem ganzen Leben nicht wieder begegnet." Wer nur das für Außenstehende schwer verständliche, ruppige Diktat vor Augen hat, dieses angeblich "sadistische Ritual", muß das Wesen des Paares verfehlen. Nach der Waksel-Affäre und der großen Ehekrise sollte diese Liebe sehr bald die beste Möglichkeit zur Bewährung bekommen.
Im September 1925 stellten die Ärzte bei Nadeschda Tuberkulose fest und rieten ihr dringend, für einige Zeit im Süden zu leben, auf der Krim, in Jalta, wo schon Anton Tschechow seine Tuberkulose zu kurieren versuchte. Wir verdanken dieser mehrmonatigen Abwesenheit ein Konvolut von rund fünfzig Liebesbriefen, die einen fürsorglichen, liebenden Mandelstam in zärtlichen Alltagsgesten zeigen. Er blieb in Leningrad und versuchte mit seinen Brotarbeiten, Übersetzungen und Verlagsgutachten, Nadeschdas Aufenthalt auf der Krim materiell sicherzustellen. Kein Berufsverband, keine Versicherung übernahm die Kosten: Mandelstam war seit seinem Austritt aus dem Schriftstellerverband im August 1923 auf sich allein gestellt. Als Nadeschda am 1.Oktober 1925 nach Jalta fährt, bezieht Mandelstam ein kleines Zimmer in der Wohnung seines Bruders Jewgenij auf der Wassilij-Insel, 8.Straßenlinie, Nr.31. In dem Haushalt lebten, nach dem frühen Tod von Jewgenijs erster Ehefrau Nadeschda Darmolatowa, auch dessen Schwiegermutter und die fünfjährige Tochter Tatka (Natascha), aber auch der Vater Emil Mandelstam.
Mandelstams Briefe an Nadeschda von 1925 und 1926 sind Lageberichte vom zermürbenden Kampf um Geld, gespickt mit Aufzählungen der Rubelbeträge, die die literarische Plackerei voraussichtlich einbringen würde. Und es sind immer wieder sich überbietende Liebesbotschaften. In zahlreichen Verkleinerungsformen und Abwandlungen des Namens Nadeschda (das russische Wort für "Hoffnung") schöpft Mandelstam die sprachlichen Möglichkeiten des Zärtlichseins aus: Nadja, Nadka, Nadinka, Nadjuschka, Naditschka usw. Häufig sind auch die grammatisch eindeutigen Vermännlichungen des Namens: Nadik, Nadjuschok, Nadjonysch. Diese ruppig-zärtlichen Nuancen kennt nur das Russische. Überhaupt ist der Wechsel des Geschlechts ein Grundmotiv in diesem Liebesgespräch. So wird sich Mandelstam sehr oft den weiblichen Spitznamen "Njanja" (Kindermädchen) geben, zuweilen aber auch von diesem weiblichen Wort ins verballhornte Männliche zurückhüpfen: "Dein Njan."
Die zärtlichen Kosenamen für Nadeschda sind Legion: "Tierchen" und "Täubchen", "Schwälbchen" und "Schäfchen", aber auch "Sönnchen", "liebes kleines Krummchen", "Krummbeinchen", "mein Stotterchen". Ihre Gesichtszüge kommen immer wieder ins Spiel, ihr breiter Mund, ihre gewölbte Kinderstirn, aber auch andere Körperteile: "Härchen", "Pfötchen", "Äugelchen", "Schulterchen", "Beinchen" in jener kopflosen Albernheit, die Liebenden eigen ist. Der formenreiche russische Diminutiv prägt diese Alltagsversion des Hoheliedes: "Ich küsse deine Granatäpfelchen" (MR, 104).
Alle Familienrollen - die beiden hatten keine Kinder - spielten sie aneinander durch. Sie ist sein Kind, sein Kindchen, sein Töchterchen, sein Schwesterchen, einmal aber auch sein "Söhnchen" (MR, 116). Er ist ihr "Freund", "Bruder", "Mann", aber eben auch ihre "Njanja", ihr Kindermädchen. Nadeschda war für ihn schlicht: "Mein Leben: versteh doch, daß Du mein Leben bist!" (am 11.November 1925). Einmal postuliert er eine Identität der Liebenden: "Daß ich durch und durch Du und um Dich herum bin" (12.Februar 1926), ein andermal eine gemeinsame Atemluft (10.März 1926). Immer wieder beschwört er den Schutz, den diese Liebe beiden gewähren soll: "Die Liebe behütet uns, Nadja. Wir brauchen vor nichts Angst zu haben" (7./8.Februar 1926). Und das Lebensfazit: "Um so zu lieben, lohnt sich das Leben, Nadik-Nadik!" (5.März 1926).
Mandelstam versuchte sie zu trösten. Er selber litt stark unter der für ihre Gesundheit notwendigen Trennung. Die Briefe an Nadeschda waren seine Atempausen im Kampf noch um den geringsten Rubelbetrag. Der Ton der Liebesbriefe aber ist meist fröhlich. Sie bezeugen immer wieder eine unbändige Lebensfreude. Mandelstam war ein dem Leben und seinen kleinen Genüssen zugewandter Dichter und forderte Nadeschda ebenfalls zu dieser Lebensphilosophie auf: "Hast Du in Melitopol eine Zuckermelone gekauft? Mein Kindchen, freu Dich am Leben, wir sind glücklich, freu Dich wie ich auf unser Wiedersehen" (am 15.Oktober 1925). Das Rätsel von Mandelstams "unbändiger Lebensfreude" und "geistiger Heiterkeit" - bei aller Tragik seiner Lebensumstände - wird die Memoiristin Nadeschda immer wieder zutiefst verwundern.
Mehrmals fährt Mandelstam auf die Krim, um Nadeschda zu besuchen. Zuerst Mitte November 1925. Dann treffen sie sich Ende März 1926 in Kiew, Ende April wiederum in Jalta. Bei der ersten Fahrt hat Mandelstam in Moskau auf dem Bahnhof erneut Herzbeschwerden mit heftigem Schwindelanfall (MR, 64). Sein Bruder Alexander muß ihn abholen kommen. Seinen Vater beruhigt er von Jalta aus: "Ich bin arbeitsfähig und überhaupt noch kein Invalide" (MR, 66). Er ist vierunddreißig Jahre alt. In den Briefen von Februar und März 1926 klingt mehrfach die Hoffnung an, zum 1.Mai ("unser magisches Datum") mit Nadeschda in Kiew zu sein, zum selben Datum und am selben Ort, wo sie sich 1919 kennenlernten. Am 23.Februar 1926: "Nadjuschok, am 1.Mai werden wir wieder in Kiew zusammensein und auf unsern damaligen Berg am Dnjepr gehen. Ich bin so froh darüber, so froh!" (MR, 92). Doch Nadeschdas schwache Gesundheit erlaubte zu jenem Zeitpunkt keine Reise, und so trafen sie sich wiederum in Jalta.
Auch in Jalta arbeiten sie gemeinsam an Mandelstams Übersetzungsaufträgen, wenn Nadeschdas Verfassung es zuläßt. Noch immer hat sie häufige Fieberanfälle, Schwindel und Schwächezustände. Sie ist stark abgemagert. Die Tuberkulose verheilt nicht und macht weitere Aufenthalte auf der Krim notwendig. Ende Mai 1926 kann sie nur vorläufig aus Jalta zurückkehren, um den Sommer mit Mandelstam in zwei möblierten Zimmern im "Chinesendorf" des Parks von Detskoje Selo zu verbringen. In der Nachbarschaft wohnt auch der Freund Benedikt Liwschiz, der den Mandelstams 1922 als Trauzeuge gedient hatte. Bereits Mitte September muß Nadeschda auf die Krim zurück, weil die Wintermonate im nördlichen Klima für sie schädlich sind. Nadeschdas fragile Gesundheit wird für das Paar eine beständige, quälende Sorge bleiben.
Als Lyriker war Mandelstam im Frühjahr 1925 nach den beiden Olga Waksel gewidmeten Gedichten verstummt: für mehr als fünf Jahre. Die Notwendigkeit forcierter Brotarbeit zur Sicherstellung von Nadeschdas Aufenthalt auf der Krim war nur ein Grund dafür. Mandelstam hatte nach seiner Verweigerung der Zeitgenossenschaft von 1924 ("Niemands Zeitgenosse") in der Auseinandersetzung mit der Epoche bewußt das Schweigen gewählt. Das Erscheinen von Das Rauschen der Zeit im April 1925 löste zwiespältige Reaktionen aus. Typisch die Rezension in der Zeitschrift "Presse und Revolution" (1925, Nr.4): Zwar wird die stilistische Brillanz vermerkt, aber selbst sie wird als "unzeitgemäß und unzeitgenössisch" abgetan. Auch in den Blättern der russischen Emigranten in Berlin, Brüssel und Paris wird Mandelstams Buch rezensiert. In den Pariser "Sowremennyje Sapiski" (1925, Nr.25) lobt der prominente Dmitrij Swjatopolk-Mirskij: Das Rauschen der Zeit gehöre zu den "drei, vier bedeutendsten Büchern der letzten Zeit". Doch sein enthusiastisches Urteil bezieht sich nur auf die Schilderung der Kindheits- und Jugendjahre und schließt die Feodossija-Skizzen über die Bürgerkriegszeit auf der Krim rigoros aus.
Ein Trost war die Reaktion eines Dichterkollegen. In einem Brief an Mandelstam vom 16.August 1925 äußerte sich Boris Pasternak sehr angetan: "Das Rauschen der Zeit hat mir einen seltenen, schon lange nicht mehr empfundenen Genuß bereitet." Das Buch habe "einen glücklichen Ausdruck für viele unmerkliche, flüchtige Dinge gefunden". Dann fällt die Frage: "Warum schreiben Sie keinen großen Roman?" Doch einen "großen Roman" zu schreiben war Pasternaks persönlicher Wunsch, den er sich erst mit Doktor Schiwago erfüllen wird, und entsprach nicht Mandelstams Poetik. Im Essay Das Ende des Romans hatte er schon 1922 alle Träume von einem Roman begraben.
In den Jahren 1925 und 1926 trat er jedoch als Autor von vier kleinen Kinderbüchern hervor: Die beiden Trams, Der Primuskocher, Luftballons und Die Küche. Das Schreiben von Kinderbüchern half nicht wenigen Dichtern der sowjetischen zwanziger Jahre, materiell und zuweilen auch geistig zu überleben. Die Kinderbücher von Daniil Charms und Alexander Wwedenskij sind nur ein prominentes Beispiel. Schon Mandelstams erstes Kinderbuch Die beiden Trams, das im Januar 1925 mit Illustrationen von Boris Ender im Staatsverlag erschien, verbietet es, in den Kinderversen nur ein harmloses Anhängsel seiner eigentlichen Lyrik zu sehen. In dem Büchlein verschlüsselte Mandelstam seine ungebrochene Zuneigung und seine Trauer um einen toten Freund, den 1921 als "Konterrevolutionär" erschossenen Nikolaj Gumiljow. Dessen berühmtestes Gedicht war Die verirrte Trambahn (1921). Mandelstam wählte, um mit ihm einen postumen Dialog zu führen, das für den Freund emblematische Trambahn-Thema und übersetzte es in ein kindliches Universum: Tram sucht seinen verlorenen Bruder Klik. Schließlich findet die eine Tram die andere, die verirrte und abgekämpfte, und gemeinsam fahren sie ins Straßenbahndepot zurück: "Und der eine an den andern sich lehnend: / O Klik, wie ich mich nach dir sehne! / Du, ich freue mich so sehr / Wenn ich nur dein Klingeln hör" (BT, 33). Einen Erinnerungstext über den erschossenen Gumiljow zu schreiben, wäre zu jener Zeit bereits völlig unmöglich gewesen. Der Ausweg ins Kinderbuch war mithin auch ein Verfahren, der Zensur ein Schnippchen zu schlagen.

Teil 4