Vorgeblättert

Robin Detje: Castorf, Teil 3

Castorf hat seine für Weimar geplante "Räuber"-Produktion an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verlegt. Der Cosmopolitan-Reporter Höbel beschreibt einen Regisseur in tiefer Verzweiflung: Ein halbes Jahr später treffen wir uns wieder. Von Nachsicht und Gelassenheit ist nichts mehr übriggeblieben. Frank Castorf ist wütend. In der Kantine der Ostberliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wo er gerade an seiner Version von Schillers "Räubern" arbeitet (es soll eine Art Requiem auf die zerfallene DDR werden), macht er seinem Zorn Luft. Es sei fast unmöglich, so wettert er, mit ostdeutschen Schauspielern zu arbeiten, "Boxer stehen nach einem K.o. wieder auf, die Leute hier nicht." Der Regisseur beklagt sich über die "schleichende Depression", die im ganzen Land herrsche, über die Lethargie der Menschen. Und während er abwechselnd seine blonden Haarsträhnen verstrubbelt und mit der flachen Hand auf den Tisch trommelt, äußert der Theatermann einen schlimmen Verdacht: "Manchmal glaube ich, die wollen alle gar nicht raus aus der Scheiße der letzten vierzig Jahre - die wollen nur irgendwie weiterwursteln."
Als die Theatermacher an der Volksbühne im Mai 1990 mit den "Räuber"-Proben beginnen, blicken sie sich um und finden ihre Umgebung wüst und abends den Zuschauerraum leer. Dem gesamten DDR-Theater ist sein Bedeutungszusammenhang entrissen worden. Wenn die Schauspieler morgens aufwachen, wissen sie nicht, ob es ihren Staat am Abend noch geben wird, aber den plötzlichen Liebesentzug des Publikums fühlen sie tief und direkt.
In den heißen Tagen des November 1989 standen die Ostberliner Theaterkünstler an vorderster Front des historischen Umbruchs. Ihre Bewegung war eine Reformbewegung zur Verbesserung der DDR, nicht zu ihrer Abschaffung. Schon am Ende desselben Monats hatte die Vertrauensleutevollversammlung des Deutschen Theaters Berlin einen offenen Brief an Helmut Kohl geschrieben: Wir haben nichts dagegen, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, für freie Wahlen auf die Straße gehen, aber wir wollen Sie nicht unter den Trittbrettfahrern unserer Reformbewegung sehen. Davon haben wir im eigenen Land genug. Was sollen das außerdem für freie Wahlen sein, die mit dem Geld der Bundesrepublik erkauft werden? Es ist der rasche, bittere Abschied vom Traum der Selbstbestimmung: Man protestiert, aber man adressiert den mächtigen Regenten des Nachbarlandes sicherheitshalber schon, als wäre es der eigene.
Der "Maggi-Senat" regiert den Ostteil der Stadt, ein Magistrat, der die Übergabe der Geschäfte an den Senat (West) vorbereitet. Die Volksbühne erhält einen Brief zur Kenntnisnahme und Veranlassung: Das Vernichten von Akten ist illegal und wird bestraft! Da ist alles belastende Material längst geschreddert worden. Morgen, spätestens übermorgen kommt der Klassenfeind. Eine Interimsleitung führt die Volksbühne, die "Räuber" sollen ihre erste Spielzeit eröffnen. Man darf keine Schwäche zeigen, sonst wird das Haus sofort geschlossen. Die Westberliner Kultursenatorin Anke Martiny will eine Bühne für das Tanztheater daraus machen. Mitten in die Proben platzt die Währungsunion. Die Schauspieler haben jetzt andere Sorgen. Der Ausstatter Bert Neumann erinnert sich: Mit der Währungsumstellung war die Kaufhalle plötzlich innen komplett ausgetauscht, und die Leute irrten durch die Regale mit den fremden Hochglanzverpackungen. Neumann entwickelt in diesen Tagen seine Ästhetik des Widerstands, mit der er die Anmutung der Volksbühne auf Jahre prägen wird: Mit der Wende gab es plötzlich Materialien, die moralisch verschlissen waren. Das haben wir für die erste Volksbühnenkampagne polemisch nutzen können. Tatsächlich haben wir massenweise Papier gerettet, ... auf dem wir nun schon seit Jahren unsere Besetzungszettel drucken.
Es gilt, den unter ideologischem Druck erlernten Narzissmus auch in dieser Wirrnis zu beschützen. Das Private ist der heilige Gral. Sofort erkennt Bert Neumann im "moralisch verschlissenen" Material das eigentlich Eigene und Herzensnahe. Still wird es gebunkert, damit man später in Ruhe damit spielen kann. Gleichzeitig wächst die Hilflosigkeit. Man erlebt die Austreibung des alten Systems, ohne sie steuern zu können. Die alte Umklammerung ist einem viel näher als das bedrohliche Neue, das einem vorgesetzt wird.
Die Ostalgie-Bewegung beginnt am 10.November1989, null Uhr. Der Westen wird es nie verstehen, es wird ihn zur Weißglut treiben, und das macht den Reiz daran aus. Frank Castorf wird von "Trauerarbeit" sprechen: Wir gehen einfach ironisch mit unserer Vergangenheit um. Da ist Trauerarbeit immer drin. Nostalgie glaube ich nicht. Andererseits: Es ist einfach so ein Stück Sehnsucht, auch nach der Mauer.Nur die Menschen in Ostdeutschland erhalten den Auftrag, die Wiedervereinigung als Überforderung zu erleben; sie nehmen ihn an und schlagen so viel Kapital aus ihrer Opferrolle wie möglich. Im Theater-heute-Jahrbuch 1990 sollen zwei DDR-Theaterkünstler ihrer Überforderung Ausdruck verleihen. Cornelia Schmaus, die gerade mit Castorf die Amalie probt, ist ganz vom Schmerz ergriffen: Ich möchte immer auf der Seite derer sein, die sich nicht anders zu helfen wissen, als Widerstand zu leisten - täglich. Der Mensch braucht so viel Kraft. Ich weiß wirklich nicht, ob ich sie haben werde. Leander Haußmann geht es praktischer an: Am 26.Januar 1991 soll meine nächste Inszenierung ... Premiere haben. Ich hoffe nur, daß das Deutsche Nationaltheater Weimar bis dahin wieder so viel Geld hat, um meine Ideen auch finanziell umsetzen zu können. Ansonsten hoffe ich auf Sponsoren, die es reizvoll finden, in der Klassikerstadt ein solches Projekt zu fördern.
Die Theaterkünstler des Ostens werden zu Chinesen des Schmerzes, das Taschentuch in der Linken, den Klingelbeutel in der Rechten. Ihr zartes Beharren bleibt offenbar auch in der fertigen Räuber-Inszenierung spürbar. In der taz schreibt Detlef Kuhlbrodt irritiert: Der Rebell verzichtet auf eine deutliche Handlungsführung. Im Blick steht er selbst. Sein narzißtisches Ich würde gefährdet, müßte es mit anderen eine Geschichte finden ... Pluralistisch reihen sich Effekte aneinander, als wäre das Man-kann-heute-kein-Theater-mehr-machen ideologisch unverdächtig. Im Unverbindlichen gehen Räuber Hand in Hand voran ...
Im Westen wirkt das unkritisch, unpolitisch. Dabei bildet es nur den DDR-Ringkampf zwischen der Zwangspolitisierung durch den Staat und dem Kampf um den Erhalt des privaten Rückzugsraumes ab; einen Kampf, in den man seine eigenen politischen Haltungen nur vorsichtig einschmuggeln durfte - oder, als Rebell, überlaut und schnodderig. Wenn man das alles zusammenwirft, zischt und kracht es wie bei Castorfs.
Die Räuber, die für Castorf den Charme eines Männerclubs haben, saufen, raufen, hauen einander was auf ihre langen, spitzen Mützen und singen das Lied von den Moorsoldaten. Henry Hübchen beschimpft das Publikum: 40 Jahre hier opportunistisch rumschnarchen und dann alles haben wollen; ihr Kadett-Fahrer, ihr! Es wird DDR gespielt: An einer anderen Stelle ziehen sich die Räuber und Räuberin nach dem Niederbrennen einer Stadt aus, um in neuen Uniformen Vergangenheit zu vergessen, eine andere zu erinnern: "In der rechten Hand das Gewehr, in der linken das Buch zum Studieren. Wir werden Beschützer der Heimat sein, wir, die Volkspolizei."
Gezeigt wird ein wilder Essay zur Wiedervereinigung. Nur ein paar Tage nach der Premiere am 22.September1990 beschließt die DDR-Volkskammer den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.


Mit freundlicher Genehmigung des Henschel Verlages

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