Vorgeblättert

Wolf Jobst Siedler: Wir waren noch einmal davongekommen. Teil 1

17.09.2004.
Von Brecht bis Speer:
Restaurants als Bühnen der Zeit

Die Restaurants einer Epoche spielen in Memoiren selten eine Rolle. Man erzählt, von den grossen politischen Ereignissen abgesehen, immer nur von den Theaterpremieren und von jenen Ausstellungen, die in einer Zeit Furore gemacht haben.Wann wurde eigentlich ein neues Schiller-Theater gebaut, denn das Haus Heinrich Georges war 1944 untergegangen? Es war übrigens der 6. September 1951, dass Boleslaw Barlog den neuen Bau mit dem "Wilhelm Tell" einweihte. Schillers Ruf "Seid einig, einig" löste in der geteilten Stadt so stürmische Emotionen aus, dass die Aufführung fast zehn Minuten unterbrochen werden musste. Wer waren die Maler oder Bildhauer, die nach den Künstlern der Reichskammer Bildende Künste in den ersten Nachkriegsausstellungen präsentiert wurden? Man kennt sie kaum noch. Selbst die einst berühmte "Mondkanone" von Heinz Trökes nicht und die Bilder von Mac Zimmermann. Die Premieren bei Boleslaw Barlog oder Karl-Heinz Martin waren aber grosse Ereignisse. Das Theater brachte sich wieder zur Geltung; in der Kunst brauchte es lange, bis die Moderne arrivierte. Max Beckmann war von dem Misserfolg in Deutschland so deprimiert, dass er, kaum von seinem Exil in den Niederlanden zurückgekehrt, 1947 nach Amerika auswanderte. Schmidt-Rottluff oder Kirchner brauchten gut zwanzig Jahre, bis sie als die Grossen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannt wurden.
Von den sich langsam etablierenden Restaurants berichten die Zeitungen überhaupt nicht, als seien sie so banal, dass es sich nicht lohne, von ihnen zu reden. Dabei präsentiert sich die Atmosphäre einer Epoche an wenigen Orten so deutlich wie in ihren Restaurants und Weinstuben. Das hatte im 18. Jahrhundert begonnen, also als die feudale von der bürgerlichen Kultur abgelöst wurde. Das Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt - das nach der Wende 1989/90 wiedergegründet wurde - war der erste Platz, wo sich die bürgerliche Gesellschaft sammelte. Es war sozusagen das Hauptquartier der Musiker, Dichter und Künstler des beginnenden 19. Jahrhunderts gewesen. Aus seinen Fenstern konnte man beobachten,wie sich Berlin ins Komödienhaus drängte. Dann brannte, bald nach den Freiheitskriegen, 1817 der merkwürdig ungeschickte Bau von Langhans ab, der wenige Jahre zuvor mit dem Brandenburger Tor ein Revolutionär der Architektur gewesen war. Der sparsame König spendierte 1818 der Stadt ein neues Theater; neben dem Brandenburger Tor war dieses Schauspielhaus von Schinkel das eigentliche Fanal des neuen Jahrhunderts.
Das Lutter & Wegner wird fast nur mit E.T.A. Hoffmann zusammengebracht, was wahrscheinlich daran liegt, dass der Wortführer der Berliner Romantik im zweiten Stockwerk seine Wohnung hatte. Aber wer verkehrte dort nicht sonst noch alles, Joseph von Eichendorff und Dietrich Grabbe, Heinrich Heine und Heinrich von Kleist, Schinkel und der Kreis der Varnhagen. Ganz in der Nähe lag der Salon Rahels, der geborenen Levin. Die Gesellschaft um 1800 hatte offensichtlich wenig antisemitische Vorbehalte.
Auch die Geschichte der Nachkriegszeit Berlins kann man nicht erzählen, ohne von den Restaurants zu sprechen, in denen sich in den fünfziger und sechziger Jahren traf, wer davongekommen war. Als diese berühmten Lokale in den späten siebziger und achtziger Jahren eines nach dem anderen die Fahnen strichen, ging eine Nachkriegsepoche zu Ende. Erst schloss das eine Restaurant, dann war plötzlich auch das andere nicht mehr da, und in den achtziger Jahren verschwand auch der letzte jener Plätze, in dem sich der westliche Teil der Vier-Sektoren-Stadt getroffen hatte. Nun traten ganz andere Lokale an ihre Stelle. Diese Epoche hatte so ziemlich genauso lange gedauert wie das alte West-Berlin. Seit der Wiedervereinigung ver- schob sich der Schwerpunkt der Lokalerie in die alte Mitte. Zwischen dem Pariser Platz und dem Gendarmenmarkt öffneten nun so zahlreiche Luxusrestaurants, als wäre Berlin wie Paris und London eine Zehn-Millionen-Stadt. Inzwischen sind manche Träume welk geworden, der alte Westen um den Kurfürstendamm scheint wieder zu Ehren zu kommen. 

Einmal, in den fünfziger Jahren, lud mein Vater die Familie in das Aben am oberen Kurfürstendamm ein, das Imke und ich uns natürlich nicht hätten leisten können. Dort verkehrte ein ausgesuchtes Publikum, in das sich zuweilen auch alliierte Offiziere und Diplomaten mischten. Aber das Aben lag auf dem oberen Kurfürstendamm auf dem Weg nach Halensee, wo einst das Tivoli gewesen war, also ziemlich abgelegen.Die Restaurantwelt war zwischen dem Steinplatz und der Kaiserallee zu Hause. Damals hatte die Strasse noch das alte Profil. Später wurde sie zu einer sechsspurigen Schnellstrasse ausgebaut, obwohl sie den bürgerlichen Charakter verlor, den sie noch im Trümmerzustand bewahrt hatte.Hier war ich mit Imke und meinem Freund Henning Schlüter zuweilen in einen Tanzclub gegangen, der in einer der alten Villen untergebracht war, die die Kaiserallee einst geprägt hatten.Davon ist weiss Gott nichts geblieben.
In den zwanziger und dreissiger Jahren lagen Berlins berühmte Restaurants nicht mehr Unter den Linden oder in der Stadtmitte, sondern an der Martin-Luther-Strasse. Zuerst kam das Horcher, zu dessen Stammgästen die Grössen der Republik und dann des Dritten Reiches gehörten, der "Reichsmarschall" Göring und sein Freund General Udet, daneben die Grossverdiener aus der Wirtschaft und viele prominente Schauspieler. Meinen Eltern war das Horcher zu luxuriös und wohl auch zu teuer. Mein Vater war nur zwei- oder dreimal dort gewesen, wenn er mit Mitgliedern seines Wirtschaftsverbandes - "deinen Herren", wie meine Mutter zu sagen pflegte - aus besonderem Anlass dort ein Essen hatte.
Für gewöhnlich ging er schräg gegenüber in das Schlichter, das vom alten Küchenchef des Horcher eröffnet worden war. Man nannte es "das kleine Horcher", weil es zwar auch ein Platz prominenter Gäste war, aber eher aus der Theater- und Kunstwelt als aus der Industrie. Als ich einigermassen zu Geld gekommen war, wurde es für einige Jahre "mein" Restaurant, in dem ich mich mit Freunden und Autoren traf - beides waren jetzt häufig dieselben.
Das Schlichter war in den zwanziger Jahren von Max Schlichter, dem Bruder des Malers Rudolf Schlichter, gegründet worden, einem durchaus bemerkenswerten Maler und Graphiker aus der Schule von George Grosz, dessen satirische Bilder sonderbar auf die Gäste blickten, die zu ihren Füssen tafelten und die eigentlich der Welt angehörten, die sie karikierten. Gutbürgerliche Restaurants zeichneten sich dadurch aus, dass die Kellner, die früher einen Frack, jetzt selbstverständlich einen dunklen Anzug trugen, um die Fünfzig oder älter waren. Dreissigjährige Kellner wurden als ein Zeichen genommen, dass man das Lokal nicht besonders ernst nehmen musste.Mein Vater begrüsste die ihm offensichtlich vertrauten Kellner; vor allem einer von ihnen ist mir in Erinnerung, nicht nur der zurückhaltenden Vertraulichkeit wegen, mit der er bediente; die eine Hälfte seines Gesichts war tiefrot gezeichnet, ob Spätfolgen einer Kriegsverletzung oder eine Hautkrankheit, danach fragte man nicht. Berühmt waren bei Schlichter die kalten Platten, die in einer Vitrine gleich am Eingang präsentiert wurden und die so vorzüglich waren, dass es schwerfiel, sich des Hauptgangs wegen zurückzuhalten.
Schlichter war das alte Stammlokal von Theo Lingen und Bertolt Brecht, von Jürgen Fehling und Heinrich George - Gerhart Hauptmann ging natürlich nur ins Adlon. Im Schlichter bot Brecht seine "Dreigroschenoper" Ernst-Josef Aufricht an, als dieser für sein neues Theater am Schiffbauerdamm - das er von dem Geld seines Vaters, eines reichen jüdischen Unternehmers aus Schlesien, erworben hatte - ein Stück für die Eröffnung suchte. Von der Erzählung des Inhalts und den ersten Songs, die ihm Brecht halblaut vorsang, war Aufricht so angetan, dass beide an Ort und Stelle einig wurden. Brecht hatte hier im Freundeskreis nach einem Titel für die "Dreigroschenoper" gesucht. Elias Canetti schildert in seinen Erinnerungen sehr anschaulich, wie jeder in der Runde Vorschläge machte, die Brecht alle mit gleicher Aufmerksamkeit ohne jeden Kommentar zur Kenntnis nahm. Am Ende übersetzte Bertolt Brecht ganz einfach den englischen Titel "The Beggar?s Opera". 
Er war so wenig von dem Stück überzeugt gewesen, dass er Aufricht ersatzweise ein "richtiges" Stück versprach, dies hier sei ja im Grunde nur ein Entwurf. Tatsächlich schrieb er die "Dreigroschenoper " eigentlich während der Proben im Sommer 1928 zu Ende, wobei er einige der berühmtesten Songs aus dem Stegreif hinzudichtete, als der Regisseur Erich Engel und die Schauspieler Erich Ponto, Roma Bahn und Harald Paulsen "Zugnummern" verlangten. 
An eben diesem Tisch im Schlichter, an dem Brecht gesessen hatte, sass ich ein Vierteljahrhundert später mit Aufricht, als ich seine Erinnerungen "Erzähle, damit Du Dein Recht erweist" herausbrachte. Aufricht erzählte bei diesem Essen in allen Einzelheiten,wie sie stundenlang beratschlagt hatten, ob sich die "Dreigroschenoper" für die Eröffnung eines neuen Theaters eigne. Aufricht war dabei sehr komisch und sehr melancholisch,wie es sein Naturell war.

Zu dieser Zeit hatte ich im Schlichter meine erste Begegnung mit Albert Speer. Ich hatte ihm noch in das Spandauer Kriegsverbrechergefängnis geschrieben und ihm vorgeschlagen, nach seiner Entlassung für den Propyläen Verlag seine Erinnerungen zu schreiben. Speers Tochter Hilde war die Briefbotin, weil sie Verbindung mit jenem niederländischen Gefängniskoch hatte, der die geheime Korrespondenz zwischen Speer, seinem alten Vertrauten Rudolf Wolters aus der Zeit des Generalbauinspektors und seiner Familie mit Kassibern bewerkstelligte. Seit seiner Verurteilung hatte Hilde alles für ihren Vater getan, den sie, bei seiner Verhaftung praktisch ein Kind, im Grunde nicht kannte. Sie hatte selbst den amerikanischen Hochkommissar für die vorzeitige Entlassung des Vaters gewonnen, aber alles blieb vergeblich. Willy Brandt war jedoch von den nicht nachlassenden Bemühungen der Tochter so gerührt, dass er ihr, nicht dem Vater, Blumen schickte, als Speer nun freikam. Jetzt aber war Hilde auch unsere Botin beim Verkehr mit dem Kriegsverbrechergefängnis.

Teil 2