Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2001.

SZ, 17.07.2001

Wolf Lepenies macht in einem Artikel auf eine Schrift des chinesischen Literaturprofessors Wang Hui aufmerksam: "Die 89er Bewegung und der Ursprung des Neoliberalismus". Darin kritisiere Wang Hui die chinesische Staatsführung, ohne das Wort Menschenrechte auch nur in den Mund zu nehmen. Aber die Schrift scheint es in sich zu haben: "Indem sie die Wirtschaft angeblich in die Unabhängigkeit entlassen", referiert Lepenies, steigern Staat und Partei "das Ausmaß und die Intensität politischer Kontrolle und legitimieren zugleich ihre soziale Verantwortungslosigkeit: Innerhalb von zehn Jahren ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt von 34,2 auf 19,3 Prozent zurückgegangen. Wo der Staat seine Macht bewahren will, ist er kompromissloser Leviathan. Wo er Fürsorge leisten müsste, spielt er den Drückeberger und verweist auf die Kräfte des Marktes, die sich vom Staat nicht mehr steuern lassen." Wang Huis Schrift ist "linke Gesellschaftskritik", schreibt Lepenies, deren Stärke "Schlauheit" sei. Denn "ohne sie direkt zu nennen, erklärt sie die Menschen- und Bürgerrechte zu einem Thema, dem sich Staat und Partei nicht länger entziehen können."

Florian Coulmas hält aus drei Gründen die Chancen für "gering", dass Japan das Kyoto-Protokoll über die Verringerung der Treibhausgase umsetzen wird: Erstens sei es "schwer, die japanische Öffentlichkeit für grüne Belange zu mobilisieren", zweitens versuche die japanische Außenpolitik seit jeher, "Konflikte mit Washington zu vermeiden" und drittens laviert Japan "am Rande einer Rezession", weshalb die Regierung der Wirtschaft keine zusätzlichen Belastungen wird aufbürden wollen.

Helmut Schödel porträtiert den Nürnberger Dialekt-Dichter Fitzgerald Kusz: "In seinen Stücken ein Kritiker, in seinen Gedichten ein Poet des Fränkischen. Seine Großmutter, die Sofie Dotzler, habe noch ein poetisches Fränkisch gekonnt: 'Wart ner, dich werds a noch amoll nach der Sunna friern.'"

Weitere Artikel: Johannes Willms beklagt in einem Kommentar die "Wahrnehmungsverweigerung" der Schlesier, die Otto Schily bei ihrem Treffen ausgebuht hatten, als dieser feststellte, "dass der 'massenmörderische Zweite Weltkrieg' von den Deutschen angezettelt worden sei". Thierry Chervel schreibt über die Konzentration im deutschen Buchhandel. Werner Burkhardt berichtet über "seltsame Blüten", die das Theaternachwuchsfestival in Hamburg treibt. Auf die Frage, was ihn zuletzt zum besseren Menschen gemacht habe, antwortet der Filmemacher Rudolf Thome: Die Bücher von Haruki Murakami.

Besprochen werden die Aufführung von "Lilli in Putgarden" in den Berliner Sophiensälen, der Film "Der Cuba Coup" von Daniel Diaz Torres, die Eröffnung der 10. Kulturarena in Jena mit Sergej Tretjakows Agitprop-Stück von 1924 "Brülle, China!", Marcel Odenbachs Videoinstallation auf der Zugspitze, die Foto-Ausstellung "Elfie Semotan. Helmut Lang" im neuen Wiener Foto-Museum WestLicht und Alfredo Bryce Echeniques Roman "Küss mich, du Idiot" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 17.07.2001

Eine süße kleine Hymne schreibt Dirk Knipphals auf den Brunnen am Potsdamer Platz: "Er kann flüstern, angeben, ein Tröpfchenballett aufführen, musizieren. Entlang des metallenen Runds sind kleine Düsen angebracht, die, möglicherweise gesteuert durch einen Zufallsgenerator, mit einem federnden Geräusch einzelne Tropfen spucken können. Manchmal geschieht sekundenlang nichts. Dann plötzlich schießt hier ein Tropfen hervor, dann dort, dann steigert sich das Ganze zu einem Furioso, das vom Klang her einem Kastagnettentanz nicht unähnlich ist. Plötzlich bricht alles wieder ab, und die Düsen gehen vielleicht über in dramatische Tropfenkombinationen - großes Tröpfchenkino."

Daniel Bax hat in Paris den chinesischen Rockstar Cui Jian getroffen: "Gerne würde Cui Jian auch die Schallmauer überwinden, die China noch vom Westen trennt. Während sich die Schleusen öffnen und China von der Popkultur des Westens überschwemmt wird, rudert Cui Jian in die entgegengesetzte Richtung - trotzig und entschlossen wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn. Als Kosmopolit, dessen Tochter eine internationale Schule besucht und schon fließend Englisch spricht, mag er nicht einsehen, warum er als Quereinsteiger nicht auch mitmischen sollte im großen Konzert der internationalen Rockmusik."

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller porträtiert den französischen Choreografen Xavier Le Roy, der die "die Schriften von Jacques Lacan und Gilles Deleuze auf der Bühne zum Tanzen" bringt. Außerdem einige Buchkritiken. Unter anderem bespricht Tanja Dückers Martin Amkanshausers Roman "Nil". Und Frank Schäfer schreibt über Stewart Homes Roman "Blow Job". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)
Schließlich Tom.

FAZ, 17.07.2001

Dirk Schümer glaubt nicht, dass die Olympischen Spiele eine zivilisatorische Wirkung auf das chinesische Regime haben können und erinnert an 1936: "Wie in allen anderen Fällen auch hat Olympia damals keine politische Wirkung gehabt - weder im Guten noch im Bösen. Weder verhalf es auch nur für Tage dem Nationalsozialismus zu einem menschlichen Antlitz, noch beeinflusste es den Gewinn des Zweiten Weltkriegs."

Zhou Derong beschreibt zugleich die ärmliche spontane Freude in Schanghai nach der Verkündung der Entscheidung. Das Regime hatte davon abgesehen Freudenfeste zu organisieren, weil es bis zuletzt fürchtete, nicht erkürt zu werden. Und so blieb es im Prinzip still in Schanghai: "Da zog mit einem Mal völlig unerwartet ein großgewachsener junger Mann, Bauarbeiter aus der Provinz Henan, aus seiner Hosentasche eine sorgfältig gefaltete rote Fahne. Und ein Rollstuhlfahrer zauberte ein weißes Plakat hervor. In Windeseile versammelten sich rund hundert weitere junge Menschen um die beiden. Sie sahen nicht wie Stadtbewohner aus, und man hörte auch keinen hiesigen Dialekt. Nach ihrem Aussehen zu urteilen, waren sie entweder wie der fahnenschwenkende Mann vom Bau Wanderarbeiter oder aber Touristen aus anderen Regionen Chinas."

Ein einseitiges Interview führt Joachim-Müller Jung mit William A. Haseltine von der Biofirma Human Genome Sciences. "Wenn ich das Wort 'Gen' höre, denke ich an eine Bauvorschrift für eine Nanomaschine, die dafür sorgt, dass unser Körper arbeitet. Ich bin überzeugt, daß es etwa hunderttausend menschliche Gene gibt. Und wir haben etwa neunzigtausend verschiedene Gene in unseren Kühlbehältern. Jedes Gen erzeugt ein Protein, und dieses Protein hat eine bestimmte Funktion im menschlichen Körper. Ein Gen, ein Protein, eine Funktion. In unserem Fall ein Medikament."

Weitere Artikel: Auf der Medienseite glänzt Jörg Thomann mit einer strengen Diatribe auf alle Medien außer der FAZ, die aus unterschiedlichen niedrigen Motiven in der Berichterstattung über den Tod von Hannelore Kohl versagten. Robert von Lucius vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels (was in seinem Artikel nicht dazu gesagt wird) teilt mit, das "die Frankfurter Buchmesse Litauen als ein Partnerland für das kommende Jahr benannt hat, eingebunden in einen Auftritt mit anderen Ländern, die noch nicht feststehen." Litauen soll die Türkei ersetzen, die abgesprungen ist (warum, sagt Lucius leider nicht - wäre es eventuell eine Recherche wert?). Der Verfassungsrechtler Ingo von Münch fürchtet, dass die von Kulturminister Julian Nida-Rümelin geschaffene Kulturstiftung des Bundes und der Länder den Bund in der Kulturpolitik noch weiter stärkt. Und Achim Bahnen entlarvt "Beschwichtigungsformeln in der Biopolitik".

Ferner feiert Renate Schostak die Wiedereröffnung des Schlosses in Schleißheim, das über eine der schönsten Barockgalerien verfüge. Heinrich Wefing hat eine Ausstellung mit alternativen Architekturentwürfen für den Berliner Schlossplatz besucht. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Regisseur Jürgen Flimm zum Sechzigsten. Peter Guth stellt den Hoffnungsturm von Oelsnitz im Erzgebirge vor. Jürgen Kaube resümiert eine Konferenz zu Osteuropa an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. Und Dieter Bartetzko beschreibt die neue Synagoge in Dresden.

Besprechungen ( denn es ist immer noch Platz in den gähnenden Weiten des FAZ-Feuilletons) widmen sich dem Musikfestival von Aix-en-Provence, einer Ausstellung über die ungarische Kunst des 20. Jahrhunderts im Museum moderner Kunst in Passau, Vivaldis "Orlando furioso" in Dehnberg und der Ausstellung "Paradiese der Moderne" im Dessauer Bauhaus.

NZZ, 17.07.2001

"Schickt noch mehr preisgünstige Schweizer Bands und motivierte Newcomer ins Hauptprogramm und spart euch die teuren Stars aus dem Ausland, mochte man fast rufen", schreibt Thomas Burkhalter über das Musikfestival auf dem Berner Gurten, um dann doch die ausländischen Stars zu feiern. Höhepunkte waren die Auftritte von Manu Chao, Erykah Badu und den "Altherren von Kool & The Gang". Die Zuhörer scheinen sich trotz des Regens ausgezeichnet amüsiert zu haben: "Anstatt sich auf Bänken einzuhaken und hin und her zu schaukeln, wälzte man sich im Schlamm, ja kroch sogar Polonaisen darin."

Weitere Artikel: Cristina Erck beschreibt die gefährdete Lehmarchitektur in Jemen und Oman, und Christine Wolter porträtiert Massimo Castri, Regisseur und Direktor des Teatro Stabile di Torino, der schwer mit der Verbürokratisierung des öffentlich subventionierten Theaters in Italien zu kämpfen hat. Dennoch: "Hier wie auch sonst hat Castri das Turiner Theaterleben aus stiller Abseitslage in belebte, auch stürmische Gewässer geführt. Er erreichte beispielsweise in diesem einen Jahr, dass die Stadt zwei neue Spielorte bekam und das Stabile aus seiner splendid isolation in neue soziale Räume vordrang."

Besprochen werden die Festspiele von Erl mit Gustav Kuhn, eine Ausstellung mit Antiken Textilien aus Zentralasien in der Abegg-Stiftung im bernischen Riggisberg, eine Ausstellung mit Bildern des Gugging-Künstlers Johann Hauser im Musee de l'art brut in Lausanne, eine Ausstellung über Leben und Werk des Architekten Hugo Häring in der Berliner Akademie der Künste und viele Bücher, darunter ein Lexikon der Renaissance und Gerd Ledigs Roman "Faustrecht" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 17.07.2001

"Die Hoffnung, die Vergabe der Olympischen Sommerspiele 2008 an Peking könne die Menschenrechtssituation im Land der Mitte verbessern, dürfte sich als trügerisch erweisen", meint auch Ferdinand Fellmann. "Sicherlich wird die wirtschaftliche Entwicklung des Landes dadurch angekurbelt, aber das Regime versteht es schon jetzt meisterhaft, die Impulse zur Festigung der Alleinherrschaft der kommunistischen Partei zu nutzen." Eine Demokratisierung Chinas erhofft sich Fellmann im folgenden von der Philosophie.

Weitere Artikel: Heribert Kuhn beklagt die Paralyse der Georg-Büchner-Gesellschaft und das editorische Unwesen der neuen Büchner-Ausgabe, die vier Bände braucht, um "Dantons Tod" zu präsentieren (und dann nicht mal ein Register enthält!) Peter Michalzik gratuliert dem Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf zum Fünfzigsten. Constantin von Barloewen stellt schwerwiegende Fragen an den französischen Philosophen Regis Debray (eine davon lautet zum Beispiel: "Das heißt, die das Individuum wie das Kollektiv charakterisierende Begrenztheit resultiert gerade aus dem Bedürfnis nach dem Unbegrenzten; allein dieses verleiht beiden Eigenart und Gestalt." Debray antwortet mit Ja.)

Besprochen werden die Ausstellung über "Preußens Frauenzimmer" im brandenburgischen Kloster-Stift zum Heiligengrabe und Mozart-, Verdi- und Britten-Produktionen beim Festival von Aix-en-Provence.