Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2001. In der taz zieht Diedrich Diedrichsen Parallelen zwischen dem neuen Terrorismus und dem Faschismus. In der FAZ führt uns Alice Miller an die Quellen der Gewalt. Die SZ macht uns mit dem Gesang der Schlittenhunde vertraut. NZZ und FR präsentieren Dossiers über die griechische Gegenwartsliteratur.

FAZ, 06.10.2001

Die Internetadresse der FAZ hat am Samstagmorgen nicht funktioniert. Darum können wir keine Links auf die besprochenen Artikel setzen.

Die Psychoanalytikerin Alice Miller benennt die wahren Ursachen des Terrorismus: "In jedem noch so schrecklichen Diktator, Massenmörder, Terroristen steckt ausnahmslos ein einst schwer gedemütigtes Kind, das nur dank der absoluten Verleugnung seiner Gefühle der totalen Ohnmacht überlebt hat." Die Frage ist nur, ob sich bin Laden bei ihr in Therapie begibt!

In seinem Bericht vom Gemanistentag in Erlangen erzählt Wolfgang Schneider folgende schöne Episode über die Literaturliebe unserer Fachleute: "In den Annahme, dass viele der knapp 700 Germanisten für berühmte neue Literatur zu gewinnen seien, hatten die Veranstalter den ersten Abend mit einer Lesung von Georg Klein krönen wollen. Das Markgrafentheater war jedoch äußerst schütter besetzt. Im Vorprogramm verstand es Juli Zeh, das Publikum durch eine ausgiebige Kostprobe aus ihrem Debüt 'Adler und Engel' noch einmal zu halbieren. Verärgert brach Klein seine Lesung nach kurzem ab. 'Diese Germanisten haben ihre Gegenwartsliteratur nicht verdient', rief er in den fast leeren Saal."

Weitere Artikel: Die amerikanische Journalistin Asra Q. Nomani rät den amerikanischen Soldaten, besser nicht den pakistanischen Boden zu betreten (die FAZ hat den Artikel dem Internetmagazin Salon entnommen, wo man ihn mangels FAZ im Original lesen kann). Peter Gorschlüter schickt eine Reporatage aus Belgrad über das Kulturleben der Stadt ein Jahr nach dem Fall Milosevics. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften - auch hier macht man sich Gedanken über die Anschläge und über die Frage, ob der postkommunistische Raum zum Rückzugsraum für die Terroristen werden könnte. Christian Geyer hat die Buchkataloge gefilzt und stellt einige kommende philosophische Neuerscheinungen vor.

Ferner erfahren wir von Andreas Rossmann, dass das Düsseldorfer Ständehaus zur Dependance der Kunstsammlung NRW wird. Siegfried Stadler berichtet, dass Weimar Kostbarkeiten aus seinen Schlössern nur dann erhalten kann, wenn es sich mit dem zuständigen Fürstenhaus auf eine schicke Abfindung einigt. Bettina Erche berichtet über Neugestaltungen und - präsentationen im Hessischen Landesmuseum in Kassel. Matthias Richter resümiert ein Treffen von Arno-Schmidt-Lesern in Berlin. Kerstin Holm stellt die Gemäldegalerie der russischen Stadt Pensa vor. Susanne Klingenstein hat einer Tagung über europäische Identität zugehört, die in Boston vom Goethe-Institut mit veranstaltet wurde. Reinhard Zimmermann fürchtet, dass die Luxemburger Altstadt durch einen geplanten Justizpalast verschandelt werden könnte.

Auf der Medienseite berichtet Thomas Schuster, dass die n-tv-Sendung "Telebörse" seit Jahren von Finanzinsituten finanziert wird - entsprechend unabhängig wird die Berichterstattung sein. Außerdem beschreibt Jörg Thomann den Freiburger Kampf um die Zeitung am Sonntag.

Besprochen werden Sam Raimis Thriller "The Gift", Prokofjews Oper "Die Liebe zu den drei Orangen" im Teatro Malibran, die deutsche Erstaufführung von "The Noise of Time" beim Berliner Festival "Theaterwelten", Urs Dietrichs Tanzstück "Appetit" in Bremen, Konzerte der Komponisten Elliott Carter und Hanspeter Kyburz beim Lucerne Festival und eine David-Reed-Ausstellung in Sankt Gallen.

Die Tiefdruckbeilage eröffnet mit einem Gedichtzyklus von Durs Grünbein:

"Am Abend war alles nur für die Katz. Verraten bei Hof,Das Atrium leergefegt, und die Sklaven stellen sich taub..."

Weiter erzählt Paul Ingendaay aus eigener Erfahrung, dass Bibliophilie in Zeiten des Internets zu einem teuren Spaß werden kann. Maria Kostaridou sieht die "griechische Gegenwartsliteratur zwischen Tradition und Aufbruch". Reinhard Piechocki erzählt eine Begriffsgeschichte des Wortes "Umwelt". Auf der letzten Seite werden ein paar grandiose Fotos von Barbara Klemm präsentiert, die den Potsdamer Platz zeigen - Andreas Kilb liefert dazu eine kleine Reportage.


In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht ein Gedicht von Bertold Brecht vor, "Die Rückkehr":

"Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?
Folgend den Bombenschwärmen
Komm ich nach Haus..."

TAZ, 06.10.2001

In einem Text, in dem er den 11. September zum Verfallsdatum aller Vorstellungen von einer hermetischen Medienwelt erklärt, macht Diedrich Diederichsen den Vorschlag, in Bezug auf die Attentate anstatt von Terrorismus besser von Faschismus zu sprechen: "War nicht die Tat blanker Faschismus: So viel Schrecken wie möglich verbreiten, ein schrilles leuchtendes Signal setzen - früher Mussolini plus Sorel und Marinetti? Ist nicht Irrationalismus auf der Höhe der Zeit genau das, was man - nunmehr eben mit einem politischen Begriff und nicht einem kulturellen - Faschismus nennt? Und wäre nicht der antisemitische Charakter der 'Bewegung' durch diesen Begriff auch besser eingeschlossen, sein gesellschaftspolitisch reaktionäres und frauenfeindliches Programm obendrein?" Allerdings sieht Diederichsen auch die Nachteile eines solchen Begriffswechsels: "Der Kampf gegen den Faschismus könnte auf noch bescheuertere Art zur generellen Rechtfertigung jeder Form von Gegenschlag und Mobilisierung dienen."

David Lauer zollt der prompten und prophetischen Stellungnahme des linksliberalen Theoretikers Michael Walzer zu den Attentaten in den USA seinen Respekt. In seiner checkliste medizin widmet sich Gerrit Bartels der parkinsonschen Krankheit. Und im Magazin der taz untersucht Axel Krämer den Drang zur Höhe, der uns Wolkenkratzer bauen lässt, auch wenn's sich nicht rechnet ? und gewisse Gefahren birgt. Dahinter, so lesen wir, stecken archaisches Machtstreben, Gottsuche und persönlicher Stolz, Impulse also, die so schnell nicht kleinzukriegen sein werden.

Und schließlich Tom.

SZ, 06.10.2001

Sonja Zekri erklärt, warum die USA Afghanistan angreifen und gleichzeitig humanitäre Hilfe leisten müssen: Sie haben gar keine Wahl: "Die breite, aber höchst heterogene Allianz, die bis weit in die islamische Welt reicht, hält nur deshalb so überraschend gut, weil Bush die kluge Unterscheidung zwischen den Taliban, die es als Gastgeber bin Ladens und verbrecherisches Regime zu bekämpfen gilt, und dem afghanischen Volk, das schuldlos leidet, glaubhaft aufrechterhalten kann ... Unter den Augen einer hoch moralisierten Weltöffentlichkeit, die schon jetzt die Kollateralschäden einer künftigen Operation gegen die Toten von Manhattan aufrechnet, wird man den Amerikanern noch die Not in den Dörfern des Hindukusch anlasten."

Oswald Wiener hat andere Probleme. Er setzt uns die "eigentümliche Genießbarkeit" der Tiermusik, genauer der nächtlichen Klagegesänge kanadischer Schlittenhunde auseinander, die mit Chor, Rhythmus-Gruppe und Solo-Stars richtig komplexe Stücke zustande bringen. Wiener hat eine CD mit 35 Tracks zusammengestellt (erscheint kommende Woche, kein Witz) und weiß deshalb, mit welchen Schwierigkeiten solche Feldaufnahmen verbunden sind: "Um Gelegenheit dafür zu schaffen, muss er (der menschliche Zuhörer) sich diskret verhalten, denn die Hunde misstrauen gerade den Bewunderern ihrer Kunst und wollen sie, wie alle Dilettanten, unbelauscht ausüben." Ist ja selbstverständlich.

Weitere Artikel: Wir lesen, in einer Collage aus britischen Pressetexten, wie sich die angelsächsische Linke nach den Anschlägen des 11. September die Köpfe einschlägt, Henning Klüver verfolgt, wie intolerant Italien über den toleranten Westen diskutiert, Konrad Lischka zeigt, wie Technologieunternehmen den sozialistischen Realismus für ihr Design entdecken. Und der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk singt ein kleines Loblied auf den großen Regen: "Regen ist Fatalismus, Schicksal, Faulheit mit reinem Gewissen."

Besprochen werden u.a. Senecas Tragödie "Thyestes" in Stuttgart, der Agentenfilm "Spy Kids", Untergangs-Pop von den "Super Furry Animals", ferner ein Ludwig-Wittgenstein-Symposium an der Technischen Universität Berlin, eine Gentech-Konferenz in Harvard, der Roman "Das unvollendete Portrait von Mary Westmacott alias Agatha Christie. Sowie auf den Literaturseiten: Julien Greens großer Roman "Der Andere" in neuer Übersetzung und das letzte Buch von Norbert Elias: "Die Symboltheorie" (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11).

In der SZ am Wochenende behauptet Michael Bitala, die Tyrannei in Afrika sei heute so brutal wie eh und je, Gerhard Beckmann erklärt, warum das neue Urheberrecht Verlage und Autoren schwächt, Eleni Torossi stellt die griechische Gegenwartsliteratur vor, Lutz Rathenow wartet mit neuen Erkenntnissen über den Raum Frankfurt auf. Und Antje Weber besucht den Buchgestalter Rainer Groothuis, der die Krise der Verlage auf das mangelnde Markenbewusstsein der Branche zurückführt: All diesen erwachsenen Menschen, die Coca Cola trinken und Boss-Unterhosen tragen, soll es bei Büchern egal sein, was für ein Buch von welchem Verlag sie erwerben? Natürlich nicht.

NZZ, 06.10.2001

Max Klimburg schildert die ethnische Vielfalt Afghanistans "im Schnittpunkt der drei Subkontinente West-, Zentral- und Südasien". Die Paschtunen, aus denen sich auch die Taliban rekrutieren, stellen zwar knapp die Mehrheit der Bevölkerung, aber "neben westasiatischen Paschtunen, Tadschiken, Tschahr- Aimaq und Balutschen finden sich zentralasiatische Hazara, Usbeken und Turkmenen, während kleinere Ethnien im Osten des Landes, darunter vor allem die Paschai, sprachlich zum indischen und damit südasiatischen Bereich gehören."

Besprochen werden Konzerte mit Thomas Zehetmair und Heinrich Schiff in Zürich, eine Ausstellung über Junge chinesische Architektur in Berlin und Mathilde Monniers Tanzspektakel "Signe, signes" in Lausanne. Ferner gibt es einen Hinweis auf die am Dienstag erscheinende Literaturbeilage der NZZ, die mit einem Artikel von George Steiner aufmachen wird.

In der Samstagsbeilage Literatur um Kunst geht es bereits um eines der Themen der diesjährigen Buchmesse: Griechenland. Andreas Breitenstein resümiert in einem Einführungstext unseren ärmlichen Kenntnisstand über das Land: "Wer aber kann über die gängigen Bilder hinaus von sich behaupten, mit der griechischen Szene der Gegenwart auch nur annähernd vertraut zu sein? - Wo es den Horizont klassischer Bildung verlässt, verliert sich das Wissen um die griechische Historie im Nebel. Paradoxerweise wächst mit der zeitlichen Nähe die Ignoranz: Die Antike, der Hellenismus, Byzanz, die Türkenherrschaft, der Befreiungskampf . . . der Zweite Weltkrieg, der Bürgerkrieg, die Militärdiktatur - und was war dazwischen?"

Eine ganze Reihe von Essays macht uns mit Griechenland und seiner Literatur ein wenig vertrauter. Thanasis Valtinos, einer der führenden Gegenwartsliteraten des Landes, schreibt über "Griechenland und seine Literatur auf der Reise durch die Jahrhunderte". Der Schriftsteller Demosthenes Kourtovik verteidigt Athen gegen seine Verächter. Barbara Spengler-Axiopoulos sieht "Griechenland zwischen Multikulturalität und Ethnozentrismus". Ekkehard Kraft erinnert an die "kleinasiatische Katastrophe" ("Die demographische Karte Südosteuropas und der heutigen Türkei unterschied sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend von der heutigen. Im Osmanischen Reich lebten mehr Griechen als im unabhängigen Königreich Griechenland, fast 1,8 Millionen davon in Kleinasien.") Danae Coulmas nimmt uns auf einen "kleinen Rundgang durch die griechische Literatur" mit. Egon Flaig legt dar, warum wir der Antike "mehr verdanken, als wir noch wahrhaben wollen". Und Heinz Gstrein beschreibt "die gespaltene Identität der griechischen Moderne".

FR, 06.10.2001

Alarmiert durch den Absturz der russischen Tupolew am Donnerstag und den prompt verbreiteten Terrorverdachte gibt Christian Schlüter seiner Befürchtung Ausdruck, mit den Attentaten vom 11. September sei uns womöglich der Zufall abhanden gekommen: "Trat bisher der Zufall, etwa in Gestalt des 'tragischen' Unglücks, als Bedrohung unserer kulturellen Ordnung in Erscheinung, so ist an seine Stelle nun der Terror getreten. Was früher Zufall hieß, heißt jetzt Osama bin Laden." Dies wieder bedeute, dass die Freiheit gewährende Unzugänglichkeit der Natur aufgehoben werde, wenn, "was ehemals naturhaft als Schrecken des Zufalls in die kulturelle Ordnung hineinragte," einen Namen bekomme und somit "unbegrenzte" Erkenntnis in Aussicht gestellt werde.

Was hat eigentlich Christoph Schlingensief zum 11. September zu sagen? Petra Kohse hat's notiert: Für Schlingensief gründen die Glaubenskonflikte unserer Tage darin, "dass sich das Jesusprinzip und das Mohammed-Prinzip nur im Paternoster treffen, und da fährt dann immer einer hoch zum Himmel und der andere zur Hölle runter." Dass dieses simple Schema nicht trägt, scheint für Schlingensief dieser Tage auch jemand wie Karlheinz Stockhausen zu beweisen, wenn der auslotet, "welches Verbot er in seiner Kunst bricht. Dann ist er von Obsessionen geleitet, und wenn eine davon darin besteht, sich einen Augenblick lang mit einer Täterposition zu identifizieren? Bitte."

Weiteres: Jochen Rack über die zeitgenössische Literatur des diesjährigen Buchmesse-Gastlandes Griechenland, Martin Hartmann dokumentiert Neues von der Debatte um Leo Baeck, Jochen Schimmang erinnert an Natalia Ginzburg, die vor zehn Jahren starb. Und im Magazin: Bernhard Schlink über die schwierige Suche nach dem rechten Wort, moralisierende 68er und die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Und eines der letzten Interviews mit Ahmed Schah Massud, dem Kommandeur der afghanischen Nordallianz.

Besprochen werden Duane Hansons täuschend echte Skulpturen in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, das iranische Theaterfestival in Mülheim/ Ruhr. Sowie eine Neuübersetzung von Baltasar Gracians Roman "Das Kritikon", ein Band mit Tokio-Ansichten des japanischen Fotografen Masataka Nakano und Katharina Mommsens Studie "Goethe und der Islam" (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11).