Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2002. Die FAZ schildert die Verfeinerung der Propaganda für Selbstmordattentäter. Die NZZ berichtet über eine neue Kopftuch-Debatte in der Türkei. Die SZ will kein Schulsystem a la DDR. Die taz hat auf einer Fachtagung den Diskussionen der Pynchonites gelauscht. In der FR bedauert Györgi Dalos den Grafen Matyas Esterhazy. Außerdem bringen wir hier Reaktionen zum Beschluss der FAZ, ihre Berliner Seiten einzustellen.

FAZ, 19.06.2002

Da kommt einem ja wirklich das Frühstück wieder hoch! Joseph Croitoru berichtet über den "Konkurrenzkampf" zwischen Al-Aqsa-Brigaden, Hamas und dem "Islamischen Dschihad" um die propagandistische Vermarktung von Selbstmordattentätern. "Unter Zugzwang geraten, verfeinern diese" nun ihre mediale Inszenierung. Croitoru erzählt von dem neunzehnjährige Muhammad Farahat, der im März bei einem Selbstmordattentat fünf Israelis getötet und mehr als zwanzig verletzt hat. "Beispiellos ist nicht nur der Einbezug seiner Mutter in die obligaten Foto- und Videoaufnahmen", nachdem Um Nidal Farahat, die Mutter, der internationalen arabischen Zeitung A-Sharq Al-Awsat ein Interview gewährt hat, ist sie "unter den Frommen zur Verkörperung der mütterlichen Opferbereitschaft avanciert. 'Der Dschihad ist unser aller Aufgabe', verkündete Um Nidal Farahat, 'und wir, die Mütter, müssen diesen Gedanken bei unseren Söhnen unablässig vertiefen, denn unser Volk ist ständig Beleidigungen und Unrecht seitens der Israelis ausgesetzt.' Muhammad, den sie geopfert habe, sei nicht tot, sondern lebe im Paradies: Inständig gehofft und gebetet habe sie, daß Allah ihm das Martyrium schenken möge, denn das wahre Glück werde dem Muslim erst als Märtyrer im Jenseits zuteil." Soll sie sich doch selbst in die Luft sprengen, wenn sie so scharf auf Märtyrertum ist!

Weitere Artikel: Georg Klein, Michael Lentz und Istvan Eörsi erinnern sich an Fritz Walter (mehr hier). Markus Reiter fragt sich, was eigentlich das Goethe-Institut in Luxemburg macht. In einem kleinen Artikel beschreibt cho. über die Reaktion der iranischen Zeitung Entrechab auf den Habermas-Besuch im Iran. Die konservative Zeitung kritisiert vor allem die Regierung, weil sie Habermas nur mit Reformern, nicht mit Theologen zusammengebracht habe (was nicht stimmt, so cho.). Andreas Rosenfelder erzählt, dass eine Untersuchung mit UV-Licht ergebenhat, dass die marmorweiße Augustus-Statue von Prima Porta ursprünglich bemalt war. Außerdem berichtet Rosenfelder über die Pynchon-Tagung in Köln. Karol Sauerland meldet, dass die Polen seit einigen Wochen Einsicht in ihre vom Sicherheitsdienst angelegten Akten nehmen können. Mark Siemons porträtiert den Stuttgarter Platz in Berlin. Eva Menasse schildert die Endrunde der Sanierung der Wiener Albertina.

Fußball auf der Medienseite: Thomas Scheen stellt fest, dass die Medien im Senegal allesamt "un peu fou" sind. Und Heike Hupertz berichtet, dass den Amerikanern vom Fußball schlecht wird. "Eine Zumutung. So ein unhygienisches Spiel verrohter Gesellen. Einmal wirklich früh aufgestanden, sei einem der Appetit auf das Frühstück gründlich vergangen. Der Trikottausch ist schuld!" Auf der Stilseite hat Markus Völkel ein Gespräch zwischen Lord Acton und Benedetto Croce konstruiert, und auf der letzten Seite beschreibt der heute sehr fleißige Andreas Rosenfelder, welche Bilder ein Todesfall hinterlässt. Es geht um Stephan N., der im Mai nach einem "mutmaßlichen Übergriff" auf einer Kölner Polizeiwache ins Koma fiel und starb.

Besprochen werden der Autritt Gary Graffmans ("Ich sollte wirklich üben") beim Klavierfestival Ruhr in Dortmund, eine Ausstellung über Karl Friedrich Schinkel als Designer im Museum Altona, der Film "Erkan und Stefan gegen die Mächte der Finsternis" und ein Konzert der norwegischen Band "Midnight Choir" in Frankfurt.

Und noch etwas: Die FAZ stellt ihre Berliner Seiten ein. Schon heute waren sie der Berliner Ausgabe nicht beigelegt - oder lag dies noch mal am Druckerstreik, mit dem man das Fehlen der Seiten am letzten Wochenende begründete? Hier ein paar Pressestimmen. Die Berliner Zeitung schildert die Einstellung als Folge der Anzeigenkrise - besonders der Einbruch des Stellenanziegenmarkts hat die FAZ betroffen - und zitiert aus einer knappen Mitteilung des FAZ-Kultur-Herausgebers Frank Schirrmacher: "Das ist ein trauriger Tag für uns alle. Die Berliner Seiten waren ein Paradebeispiel für neuartigen Hauptstadtjournalismus. Die Beilage war nicht nur in Berlin längst Kult geworden. Aber die wirtschaftlichen Zwänge erfordern Maßnahmen. Jetzt wird der Geist der Berliner Seiten im Feuilleton aufgehen." Die Berliner Seiten waren unter Journalisten hoch angesehen wegen der Ironie, mit der sie den Gang der Dinge spiegelten.

Die FAZ hat zugleich einen massiven Stellenabbau, vor allem in der Redaktion, angekündigt. Über hundert Mitarbeiter sollen gehen. Die Welt zitiert in einer kleinen Reportage den Chef der Berliner Seiten, Florian Illies (mehr hier): Man habe jüngere Leser gewonnen: "Wir waren erfolgreich. Leider nur in begrenztem Umfang." Auch die Welt kommentiert den Beschluss der FAZ als "zweite große Niederlage in nur kurzer Zeit" für Frank Schirrmacher, der bereits einen Umzug der Feuilletonredaktion nach Berlin vor ein paar Monaten nicht durchsetzen konnte. "Die Berliner Seiten haben diese Stadt gemocht. Und so ein Ende hat diese Beziehung nicht verdient", kommentiert der Tagesspiegel. In einem nachrichtlichen Artikel bilanziert der Tagesspiegel außerdem, dass die Auflage der FAZ in der Hauptstadt seit der Gründung der Berliner Seiten im Jahr 1999 um 1.500 Exemplare auf 18.121 gestigen sei. Die Reaktionen der täglich von uns ausgewerteten Zeitungen finden Sie unter den entsprechenden Titeln.

FR, 19.06.2002

György Dalos, Schriftsteller und ehemaliges Mitglied der ungarischen demokratischen Opposition, äußert sich zu Peter Esterhazys Familienepos "Harmonia Caelestis" und die Spitzel-Tätigkeit von Esterhazys Vater Matyas für die ungarische Geheimpolizei, die der Sohn jetzt in einem Nachtrag zum Roman öffentlich gemacht hat. Dalos findet - ebenso wie Istvan Eörsi gestern in der FAZ die Veröffentlichung "psychologisch völlig plausibel und moralisch berechtigt". Den Informationswert von Esterhazys Agentenberichten schätzt er jedoch als "äußerst gering" ein. In den Akten würden sich Führungsoffiziere gar über seinen mangelnden Eifer, seine Oberflächlichkeit und seine Weigerung beschweren, das Gesagte schriftlich zu bestätigen. Warum also diese Selbstaufgabe des Grafen? Dalos vermutet, "dass die Erniedrigung hier als Selbstzweck erfolgte: Er musste mit seiner Person für jene aristokratische Elite herhalten, die so ärgerlich wenig in die Ereignisse jenes blutigen Herbstes (1956) verwickelt war. Ein echter Graf arbeitet für uns, konnten die Auftraggeber ihren Vorgesetzten melden."

In einem Nachruf auf Fritz Walter (mehr hier) erinnert Harry Nutt an die schwierige Abkehr vom Sportler als ersten Repräsentanten des Soldatischen, die es nach - zu vollbringen galt: "Mit Fritz Walter ist der letzte Fußballstar gestorben, der seine Sportlerträume aus einer Kriegsideologie bezogen hatte ... Fritz Walter und die Seinen wurden 1954 auch zum Helden einer deutschen Anpassungsleistung, hinter der ihre Lebensgeschichten verborgen blieben. In dem unbedingten Willen, beim ersten großen internationalen Auftritt nach dem Krieg nicht aus der Rolle zu fallen, war den Sportlern das Ungeschick widerfahren, die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erhalten."

Weiteres: Jochen Stöckmann berichtet von Vorträgen Abdelwahab Meddebs (in der Stiftung Schloss Neuhardenberg) und Tariq Alis (im hannoverschen "Weltenbürger e.V.") über den Islam, Adam Seide erinnert an den Maler Raimund Girke (mehr hier), "Times mager" entwirft eine kleine Phänomenologie des Auto-Korsos, und Ulrich Speck war auf einer betroffenheitslastigen Podiumsdiskussion "Zur aktuellen Rehabilitierung des Antisemitismus durch Walser und Möllemann u.a.". im Frankfurter IG-Farben Haus.

Besprechungen schließlich widmen sich Eva Lopez-Sanchez' Film "Francisca", einer Schau mit Arbeiten der Künstlerin Karin Sander in der Stuttgarter Staatsgalerie, einem Buch über die Pionierinnen des Wiener Kulturbetriebs aus den zwanziger und dreißiger Jahren, Mario Gonzalez Suarez' Roman "Als Kind" und Peter von Matts Essays über Literatur und Politik (siehe unsre Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 19.06.2002

Uh-Young Kim berichtet von der internationalen Fachtagung "site specific: From Aachen to Zwölfkinder - Pynchon / Germany" in Köln, auf der mit viel Sinn fürs Skurrile nach deutschen Motiven im Werk des medienscheuen US-Autors Thomas Pynchon gefahndet wurde. Gestöbert wurde nach Verbindungen mit Wagner und Schönberg, mit mathematischen Funktionen aus dem Raketenbau oder mit Nietzsche, Friedrich Kittler sprach über Pynchons "Elektro-Mystik", und in den Kaffeepausen diskutierten "Pynchonites", die sich sonst nur aus dem Internet kennen, "die Echtheit eines im japanischen Playboy erschienenen Interviews mit Pynchon zum 11. September, entlarvten eine angekündigte Sammlung von drei neuen Pynchon-Novellen als Aprilscherz, konspirierten über Seriennummern der IG Farben und gaben 'wahre' Anekdoten aus der Studentenzeit des Autors zum Besten".

Ferner schreibt Christian Broecking über Segregation unter Jazzern, und Dirk Knipphals bespricht in der Rubrik "Modernes Lesen" u.a. den Briefwechsel Adorno/Thomas Mann, einen Essayband von Stephan Wackwitz und Jonathan Rosens Essay über die Strukturähnlichkeiten zwischen "Talmud und Internet" (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).

Zur Einstellung der Berliner Seiten der FAZ schreibt Robin Alexander: "Ein faszinierendes Produkt waren sie schon, die anfangs acht, später nur noch vier Seiten für Berlin und Brandenburg. Ausgerechnet die äußerlich sprödeste der deutschen Tageszeitungen hatte ein seltsames Kind geboren: Kultur und Politik flossen ineinander, oft auch Nachricht und Kommentar." Aber auch: "Nach einem kreativen Start hatte der Spaß zuletzt deutlich abgenommen: Als Experiment waren die Berliner Seiten klasse, als Zeitung zu oft verzichtbar - und viel zu geschmackvoll, um das Zentralorgan der neuen Berliner Mitte zu werden. Die Seiten boten nur die täglich neu veröffentlichte Frankfurter Vorstellung davon."

Schließlich TOM.

NZZ, 19.06.2002

Kenan Ayir berichtet von einer erneuten Kopftuch-Debatte - diesmal in der Türkei. Dort wurde das Kopftuch jetzt auch auf staatlichen Schulen verboten, die "eigens der Vorbereitung auf Berufe und Ämter im religiösen Bereich dienen sollen". Aber ist das Kopftuch wirklich immer noch ein Symbol für Rückständigkeit und die zweitrangige Stellung der Frauen im Islam? Ayir glaubt das nicht. "Zumindest in gebildeten Kreisen sind Selbst- und Glaubensverständnis der islamistischen Frauen stark von säkularen Werten beeinflusst. Die Auffassung, dass der Islam die Unterordnung der Frau unter den Mann und ein asymmetrisches Scheidungs- und Erbrecht vorschreibe, weisen sie zurück; ihrer Ansicht nach sollten die fortschrittlicheren diesbezüglichen Auffassungen der säkularen Gesellschaft mit dem lebendigen Glauben an Gott nicht unvereinbar sein. Das Kopftuch tragen sie nicht als Symbol der Unterwerfung, sondern als Zeichen einer selbst gewählten islamischen Identität."

Weitere Artikel: Paul Jandl hat mit Marie Zimmermann über ihre erste Wiener-Festwochen-Saison gesprochen. Besprochen werden eine Ausstellung über neue Bahnhofarchitektur im Art Institute Chicago, John Neumeiers Choreografie nach Tschechows "Möwe" in Hamburg, eine Ausstellung zum Leben der Nonne Mariana Alcoforado (1640-1723) im Kloster in Beja (Rainer Maria Rilke hatte 1913 ihre Briefe aus dem Französischen ins Deutsche übertragen) und Bücher, darunter eine Lubetkin-Monografie von John Allan, Theodore Ziolkowskis Studie zur Geschichte der Entstehung von Mythen (beide Bücher sind bisher nur auf Englisch erschienen), Markus Krajewskis Geschichte des Zettelkastens und eine Monografie zu Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 19.06.2002

Wie schlimm steht's eigentlich, dass man sich jetzt sogar schon nach der DDR-Schule zurücksehnt? fragt Jens Bisky in einem Artikel und erklärt den Leistungswillen in der DDR als "paradoxen Effekt, der sich eher gegen den Willen der sozialistischen Pädagogik einstellte". Je mehr einer gekonnt oder gewusst habe, desto unabhängiger sei er gewesen gegenüber den Zumutungen der DDR. "Wenn jetzt wieder das DDR-Schulsystem gepriesen wird, geschieht dies in einem System, das Freiräume reichlich gewährt, in dem Bildung nicht als Mittel des Freiheitsgewinns, sondern des Erfolges gilt. Die überraschende Wertschätzung der sozialistischen Pädagogik wirkt da wie ein Aufruf zu mehr Autorität und Anpassung."

Der Historiker Fritz Stern dankt (in einem auszugsweise gedruckten Festvortrag) Theodor Heuss für die Wiederbegründung des Ordens Pour le merite vor 50 Jahren. Der Orden sei ein "Ort der Versöhnung" zwischen deutschen, exilierten und ausländischen Künstlern und Wissenschaftlern gewesen und habe "die Entwicklung der Bundesrepublik zu einer stabilen, liberalen Demokratie begleitet, durch viele seiner Mitglieder mitgestaltet ... Möge Fortuna dem Orden weiter beistehen, möge uns der Geist der Liberalität erhalten bleiben."

Außerdem zeichnet Thorsten Schmitz auf, was dem in Tel Aviv weilenden Michel Friedman einfällt, wenn er an Deutschland denkt (auch er ist um den Schlaf gebracht). Sonja Zekri verrät, was der neue, nationale Pisa-Test von deutschen Schülern wissen wollte. Jürgen Claus schickt einen Bericht vom Weltforum für erneuerbare Energien in Berlin. Fritz Göttler teilt mit, dass Sönke Wortman jetzt einen Fußball-Film dreht. C. D. wundert sich über das Bahnhofs-Beschallungsprojekt des Schill-Senats in Hamburg, und Ulrich Kühne annonciert das Festprogramm zum 90. Geburtstag von Carl Friedrich von Weizsäcker.

Besprochen werden Baltasar Kormakurs Film "101 Reykjavik", eine Max-Klinger-Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste, eine Tagung zum Thema "Confessional Conversions" an der Uni Leipzig, Vincenzo Righinis Oper "Don Giovanni" in Mainz, eine Ausstellung über das Werk William Christenberrys in der Kölner SK-Stiftung und Bücher, darunter Sammy Drechsels "Elf Freunde müßt ihr sein" als Hörbuch, Erzählungen von Marika Bodrozic sowie ein Biographie des Renaissancekünstlers Leon Battista Alberti (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).

Und auf Seite Drei gratuliert Hans Leyendecker zu 50 Jahren Bild-Zeitung und erinnert daran, dass das Blatt ganz und gar kein Mysterium ist, sondern nach einer Masche funktioniert, "die häufig sehr grob gestrickt ist, auch wenn die Herren (um solche handelt es sich zumeist) sehr vornehm tun".

Die Medienseite der SZ bringt zur Einstellung der Berliner Seiten der FAZ nur eine Meldung, in der allerdings auch von einer Verkleinerung des Feuilletons die Rede ist: "Rund ein Drittel der Seiten soll eingespart werden."