Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2003. In der FR attackiert Micha Brumlik den Suhrkamp Verlag, der ein - antisemitisches?  - Buch des britischen Philosophen Ted Honderich veröffentlicht hat. In der SZ fordert Julian Nida-Rümelin eine Quote für deutschsprachige Musik im Radio. Die NZZ protestiert: Sie wollen Locarno verstümmeln. In der FAZ stemmt sich Ivan Nagel gegen die amerikanische Übermacht.

SZ, 05.08.2003

Der ehemalige Staatsminister für Kultur, Julian Nida-Rümelin, begründet in einem Artikel sein "Ja zur Quote deutschsprachiger Musik". Das Vorurteil gegen eine sich darin ausdrückende "nationalistische Gesinnung" hält er für baren Unfug. "Den Befürwortern einer Quote geht es nicht um Deutschtümelei, sondern um kulturelle Vielfalt und künstlerische Kreativität. (...) Um das deutlich zu machen, sollte eine Vereinbarung gefunden werden, die nicht nur deutschsprachiger, sondern die generell anders-als-englischsprachiger Musik einen Minderheiten-Schutz gibt und die sicherstellt, dass mehr Neuheiten zu hören sind. Wir hören in Deutschland nicht nur immer weniger deutsche, sondern auch immer weniger französische, spanische oder italienische, ganz zu schweigen von russischer oder polnischer Musik."

Hartmut el Kurdi, ein ehemaliger Zeuge Jehovas, hat nach 25-jähriger Abstinenz wieder einmal einen Jahreskongress der Glaubensgemeinschaft besucht. "Die gruseligsten Erinnerungen stiegen wieder auf, ich spürte das dringende Bedürfnis, sofort nach Hause zu gehen, Gott zu fluchen und eine Marilyn Manson-CD einzulegen. Noch beängstigender waren allerdings die gelegentlich aufwallenden positiven Erinnerungen, die mir für kurze Momente ein kuscheliges Heimkehrer-Gefühl vermittelten. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine Art Religions-Ostalgie. Wie in der DDR war auch bei den Zeugen Jehovas ,nicht immer alles nur schlecht gewesen'. Zumindest kam es mir beim Anblick der durchaus freundlichen Menschen auf einmal so vor."

Weitere Artikel: Alexander Kissler kommentiert das ZDF-Unternehmen, den "größten Deutschen aller Zeiten" wählen zu lassen ("Beethoven darf als 'Superstar der klassischen Musik' ebenso wenig fehlen wie 'Allroundstar' Dieter Bohlen"). In einem Gespräch geben die Filmproduzenten Mario Kassar und Andrew Vajna Auskunft über "Terminator 3", und Gerhard Matzig sorgt sich angesichts der Gemeindefinanzreform um "unsere urbane Kultur". "Alex" warnt vor den gesundheitlichen Risiken des Krawattentragens. Ijoma Mangold lotet die "gute Stimmung an der inneren Börse" aus. C. Bernd Sucher berichtet Selbsterlebtes vom Theaterbazar Salzburg, und in der Kolumne Zwischenzeit räsoniert Joachim Kaiser über Tränenausbrüche beim Musikhören.

Besprochen werden Roberto Ciullis Theaterprojekt "Wie hast du geschlafen?" in der Forensik Langenfeld, eine Inszenierung der Geschichte der "Andrews Sisters", einem Vokal-Trio in den dreißiger im Theater am Elbhang in Hamburg-Altona, Kenneth Branaghs Spiel in David Mamets "Edmond" in London, Valery Gergievs Wiederaufnahme von Verdis "Don Carlo" bei den Salzburger Festspielen und eine Ausstellung über den wenig bekannten Maler Gaspare Traversi (1722-1770) in der Staatsgalerie Stuttgart und Bücher, darunter einer Biografie von Katherine Hepburn, einer Studie über Nietzsches Einfluss auf das protestantische Denken, neuer Prosa von Josef Winkler, einer Werkauswahl von Daniil Charms, eines Bands über Frauen im Gulag und von Erinnerungen an eine Jugend im NS-Staat (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 05.08.2003

Auf der Medienseite porträtiert Sven Hansen die südkoreanische Netzzeitung OhMyNews, die ihre Leser zu Reportern erklärt und mit dieser "Guerillataktik Medien und Politik aufmischt". "OhMyNews-Ansatz ist vergleichbar mit dem des globalen Aktivistenportals www.indymedia.org. Das lässt sich mit 'jeder Aktivist ein Journalist' charakterisieren und ist vor allem bei WTO-, IWF- und G-8-Gipfeln eine wichtige Informationsquelle über die Proteste. Indymedia ist bei OhMyNews unbekannt. Dafür schafften die Koreaner den Sprung vom Aktivistenghetto in die linksliberale Mitte der Gesellschaft, die mit dem fortschreitenden Generationswechsel mehrheitsfähig wurde."

Im Feuilleton: Anna Faroqhi ist "mit einem Skizzenblock unterwegs in Israel. Dabei sind Zeichnungen entstanden, mit denen sie im Tagebuchstil ihre Eindrücke festhält" und die die taz ab heute in loser Folge abdruckt. Zu sehen gibt's die Zeichnungen allerdings nur im Print. Eine Untersuchung der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland und im Gaza-Streifen ist für Brigitte Werneburg das "Kernstück" der Ausstellung "Territories" in den Kunst-Werken Berlin, die aktuelle Prozesse bei der Produktion von Raum und ihre sozialen und politischen Implikationen untersucht. Gerrit Bartels kommentiert die Ungeduld des Spiegel, der per Interview jetzt quasi die Aufhebung der Sperrfrist für den neuen Roman von Benjamin Lebert (mehr hier) erzwang, und bescheinigt dem Magazin den "größten Harndrang mit der gleichzeitig schwächsten Blase und den zittrigsten und schwitzigsten Fingern".

Besprochen werden Walter Moers' "großartig bizarrer, abgründiger und reicher" dritter Zamonien-Band "Rumo & Die Wunder im Dunkeln" und ein Roman von Jan Costin Wagner über einen depressiven Kommissar und einen Serienmörder (hoffentlich isst ersterer deshalb nicht auch ständig Butterbrote wie Mankells Wallander). (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

Und hier TOM.

NZZ, 05.08.2003

Roman Hollenstein verzweifelt angesichts der architektonischen Verstümmelungen, die der Festivalstadt Locarno (mehr hier) drohen. So plane ein Team von Tessiner Architekten unter anderem, das Freiluftkino von der Piazza Grande auf eine gigantische Plattform im See zu verlegen, ohne Rücksicht auf das "Weichbild" der Stadt: "Mit rigorosem Rationalismus führen sie das Raster der Neustadt weiter und projizieren die langgestreckten Giardini Rusca über die Schifflände in den See hinaus. Diesem Schildbürgerstreich müsste nicht nur das städtebaulich wichtige historische Hafengebäude weichen: Um die von den Architekten vorgeschlagene Sichtverbindung zwischen Pier und Piazza herzustellen - müssten zudem die Giardini Rusca verschmälert und umgestaltet (oder vielmehr abgeholzt) werden. Schaden nähme auch die Uferpromenade von Muralto, würde doch der Lago Maggiore zwischen ihr und dem geplanten Pier zum traurigen Ententeich schrumpfen."

Besprochen werden eine Schau über das deutsch-italienische Miteinander "Neapel - Bochum - Rimini" im Westfälischen Industriemuseum in Bochum, die Konzerte der Bach-Woche in Ansbach und Bücher, darunter Martin Walsers Gedankensammlung "Meßmers Reisen", der Roman "Fünf Liter Zuika" des siebenbürgischen Paul Schuster sowie die Neuübersetzung von Flauberts "Bouvard und Pecuchet" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 05.08.2003

Der Direktor des Fritz Bauer Instituts Micha Brumlik hat einen Offenen Brief an den Suhrkamp Verlag geschrieben. Anlass ist das dort erschienene Traktat "Nach dem Terror" (mehr hier und hier ) des kanadischen Philosophen Ted Honderich über die Frage nach "gutem und schlechtem Leben im Zeichen des 11. September", das bereits in Amerika eine Debatte über antisemitische Passagen ausgelöst hat. Brumlik beklagt unter anderem, dass er "Auslassungen über den Staat Israel und den Zionismus lesen musste, die alles, was der inzwischen zu Tode gekommene Jürgen Möllemann von sich gegeben hat, bei weitem übertreffen." Man könne "sich nur noch an den Kopf greifen angesichts des Umstandes - und mag es auch nicht mehr wiederholen - dass ein Verlag, der - um nur einen Zionisten zu nennen - Gerschom Scholem verlegt hat und einen Jüdischen Verlag sein eigen nennt, der einen anderen berühmten Zionisten, Agnon, verlegt, philosophischen Judenhass publiziert. Was soll all das Gerede vom deutsch-jüdischen Geist, was die Verbindung Ihres Hauses mit Amos Oz, wenn sie derlei veröffentlichen?"

Michael Rutschky unterzieht den Sommer einer Betrachtung als "moralisches Problem". "Der schöne Sommer", so Rutschky, ist verdächtig, denn er "muss eine Strafe beinhalten, unerkennbar, oder eine ankündigen. Zwei Monate Sonnenschein, das widerspricht dem elementarsten Gerechtigkeitsgefühl - und damit unserem tiefsten Empfinden." Und deshalb "begrüßen wir jeden Regenschauer nicht nur, weil er den Körper kühlt. Der Regenschauer verbessert zugleich die moralische Bilanz, er unterbricht das arkadische Sommervergnügen. Am meisten nutzen natürlich Unwetter, deren Folgeschäden zu beseitigen richtig Arbeit macht."

In seinen Kindheitserinnerungen aus der Zone klärt Michael Tetzlaff heute über Sinn und Zweck der Subotniks auf, und in Times mager erklärt Peter Michalzik, worin die deutsche "Urlaubskrankheit" im Allgemeinen und Besonderen besteht.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Gunter Sachs im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, eine Retrospektive mit Arbeiten des französischen Künstlers Robert Filliou im Düsseldorfer Museum Kunst Palast und die CD "Politik braucht keinen Feind" des Komponisten Ekkehard Ehlers. An Büchern ein Porträtband über achtzig internationale Dirigentinnen des 20. Jahrhunderts, Erzählungen und Auszüge aus Notizbüchern von Nathaniel Hawthorne und neue Prosa von Katja Lange-Müller (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 05.08.2003

Ivan Nagel, Autor so unsterblicher Bücher wie "Autonomie und Gnade", begibt sich, angestachelt durch das notorische Hegemoniestreben der Amerikaner, in die Gefilde der Weltpolitik und erklärt, dass die Amerikaner im Irak den Teufel mit dem Beelzebub austrieben. Denn sie gaben vor, den Terrorismus bekämpfen zu wollen und was haben sie nun? "Der Irak-Krieg hat erst einmal ein Land ohne Terror in ein Land täglichen Terrors verwandelt. Bush/Cheney/Rumsfelds Glaube, durch Angriffe auf 'Verbrecherstaaten' den Terrorismus abzuwürgen, ist eine tödlich-naive Illusion. Nicht weil man auch Al Capone keineswegs durch Bombardierung von Chicago überwand. Sondern weil die Demonstration amerikanischer Weltherrschaft niemals eine Bewegung beenden kann, deren Anlass und Zielscheibe eben Amerikas Weltherrschaft ist."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger setzt sich in der Leitglosse mit den Enthüllungen über Charles Lindberghs angebliche deutsche Geliebte und seine drei deutschen Kinder auseinander. Hannes Hintermeier beobachtet mit Interesse den unauflöslichen Clinch von Übersetzern und Verlegern im Streit um die angemessen Honorierung von Übersetzungen. Joseph Hanimann freut sich über ein vorbildliches Mäzenatentum des Bauunternehmens Vinci bei der Renovierung des Schlosses von Versailles. Manfred Gerwing, Ordinarius für Dogmatik an der theologischen Fakultät der Katholischen Universität von Eichstätt, greift in die Nachbereitung des Ökumenischen Kirchentags ein und fordert beiderseits eine Rückkehr zum wahren Glauben. Irene Bazinger gratuliert dem Schauspieler Christian Grashof zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite wird ein Kapitel aus Ulrich Wickerts demnächst erscheinenden Roman "Der Richter aus Paris" vorabgedruckt (da man auch diesen Vorabdruck bei der FAZ nicht kostenlos abrufen kann, empfehlen wir an dieser Stelle lieber Vorabdrucke aus drei demnächst erscheinenden Büchern über Adorno im Perlentaucher). Christian Stucky setzt sich in der Serie über die öffentlich-rechtlichen Sender dieser Welt mit den südafrikanischen Anstalten auseinander. Auf der Bücher-und-Themen-Seite erinnert Frank-Rutger Hausmann an die Gründung der Europäischen Schriftsteller-Vereinigung im Jahr 1941 durch die Nazis. Auf der letzten Seite sammelt Peter Badenhop Impressionen von einem Festival für Heavy Metal Musik im schleswig-holsteinischen Dorf Wacken. Und Kerstin Holm porträtiert den mongoloiden Schauspieler Sergej Makarow, der mit einem hohen russischen Schauspielpreis ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Corporal Identity" in Frankfurt, Herbert Wernickes "Don Carlo"-Inszenierung sowie eine Ausstellung über Wernicke in Salzburg und Vivaldi-Opern in Rheinsberg.