Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2003. Im Tagesspiegel erinnert sich George Tabori, wie Irene Selznick auf eine von Elia Kazan gschaltete Anzeige in der New York Times kotzte. Überhaupt lernen wir aus den Kazan-Nachrufen: Verrat lohnt sich nicht. Die FAZ schildert, wie der amerikanische Autor Dave Eggers den amerikanischen Buchmarkt durcheinanderbringt. Die FR wundert sich, warum jetzt erst nach der Echtheit des Buchs der Anonyma gefragt wird. In der taz lernen wir, wie schwer es war, die Ausstellung "Berlin - Moskau 1950 - 2000" zu kuratieren.

FR, 30.09.2003

Der Streit um die Anonyma und die Authentizitä ihres Nachkriegstagebuchs beschäftigt die Feuilletons weiter.

"'Überhaupt fangen wir langsam an, den Schändungsbetrieb humoristisch zu nehmen, galgenhumoristisch', heißt es unter dem Datum des 3. Mai 1945", zitiert Ina Hartwig aus den Tagebuchaufzeichnungen der Anonyma. Gerade weil dieses Buch so provozierend gerade nicht die Opferperspektive bemühe, sei die Frage nach der "wahren Autorenschaft", die Jens Bisky in der SZ aufgeworfen hatte, unvermeidlich, meint Hartwig. Und: "... dass ein editorisches Problem vorliegt, ist so evident, dass man sich fast wundert, warum es in dieser Schärfe erst jetzt thematisiert wird. Die Textform folgt 'mit einigen Korrekturen' der deutschen Erstausgabe von 1959. Der Verlag wäre gut beraten gewesen, eine kritische Ausgabe der Tagebuchaufzeichnungen vorzulegen; die Anonymität der Verfasserin hätte dazu gar nicht gelüftet werden müssen. Es hätte genügt, die Genese der vorliegenden Textfassung zu dokumentieren."

Anlässlich der neuen Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" in der Frankfurter Oper erinnert sich Hans-Klaus Jungheinrich an eine hübsche Szene bei der Erstaufführung in den fünfziger Jahren: "Bevor der Vorhang sich öffnete und die Musik Alban Bergs erklang, betrat ein Redner die Szene: Der Professor Theodor W. Adorno hob zu einer Einführung an. Sei es, dass er, trotz seiner gewohnt pointierten Diktion, im großen Opernhaus schwer vernehmlich war, sei es, dass das Publikum sich solchen akademischen Entrees an diesem Ort aus Prinzip widersetzte: Es kam Unruhe auf ..." Wie's weiterging, lesen Sie bitte selbst.

Weitere Artikel: Peter W. Jansen schreibt den Nachruf auf den Regisseur und Schauspiellehrer Elia Kazan. Hans-Jürgen Linke kommentiert die Wahl der Frankfurt Oper zur Oper des Jahres. In Times Mager stellt Harry Nutt das neue Layout der FR vor. Und Michael Tetzlaff erinnert sich in der Rubrik "Neues aus der Zone" an seine Jugendweihe.

Besprochen werden die Ausstellung "Berlin - Moskau 1950 - 2000" im Berliner Martin Gropius Bau, ein Gemeinschafts-Projekt von Christoph Marthaler, Stefan Pucher, Meg Stuart und Anna Viebrock: "Das Goldene Zeitalter" im Schauspielhaus Zürich, die neue CD von Laibach, Doris Dörries "Turandot"-Inszenierung an der Berliner Staatsoper und eine Ausstellung des Fotografen Anders Petersen in der Galeria M in Bochum.

SZ, 30.09.2003

Der Autor Vincenzo Cerami beschreibt Italiens schwärzeste Nacht: "Die Dunkelheit war so absolut, dass jemand gedacht haben mag, er habe plötzlich sein Augenlicht verloren. Vom Norden bis zum Süden des italienischen Stiefels war alles schwarz. Rom wurde sogar vom Schicksal übertölpelt: ausgerechnet in der 'notte bianca', der 'weißen Nacht' mit Museen, Restaurants und auch Geschäften, die bis zum Morgengrauen geöffnet haben wollten, ist die schwärzeste Nacht der Geschichte unter einem vorausahnenden Regen eingebrochen. Es war gerade drei Uhr vorbei. Ohne Straßenbeleuchtung fiel der Regen aus dem Nichts, in ihrer Schwärze hatte die Stadt keine Höhe mehr. Dunkel schienen auch die Geräusche: Eine ferne Sirene, ein Alarm in einem geschlossenen Geschäft, und an den Ecken des Gemunkel von Wankenden."

Weiteres: Zum Tod von Elia Kazan bemerkt Fritz Göttler: Nicht dass er Kollegen verraten hat, mache den Fall Kazan so einzigartig, "sondern dass sein Werk bis dahin so unübersehbar dem Kampf um Aufrichtigkeit, Unbedingtheit, Treue verpflichtet war." Alex Rühle erzählt von einem DJ Workshop in Hamburg, der dem Nawuchs ein bisschen auf die Sprünge helfen sollte. Jürgen Berger berichtet, wie Armin Petras in Frankfurt versucht, die neue Spielstätte des Schauspiels zum neuen "Sehnsuchtsort für Frankfurter Nachtschwärmer" zu adeln. In der "Zwischenzeit" graust es Evelyn Roll schon vor den herbstlichen Rilke-Zitaten, die einem wieder aus allen Kanälen entgegen schallen werden. Gerwin Zohlen meldet, dass Schinkels Bauakademie als Museum in Berlin rekonstruiert werden soll. Christian Jostmann liefert den Nachruf auf den Historiker Friedrich Prinz. Hans-Joachim Gelberg schreibt zum Tod von Josef Guggenmos.

Besprochen werden Andrew Flemings Film "Ein ungleiches Paar" mit einer "beängstigend sanftmütigen" Candice Bergen, eine Ausstellung in Düsseldorf zum Auto in der zeitgenössischen Kunst, Calixto Bieito "La Traviata"-Inszeneirung in Hannover, Marie Brassards Stück "La Noirceur" bei den Berliner Festwochen und Bücher, darunter Julia Francks Roman "Lagerfeuer", Harald Haarmanns Geschichte der Sintflut, ein Bildband über Menschen mit dem Down-Syndrom (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 30.09.2003

Barbara Kerneck erzählt von den Schwierigkeiten, die Ausstellung "Berlin-Moskau / Moskau-Berlin 1950-2000" zu kuratieren, schließlich habe es keine wirklichen Bezugspunkte zwischen Moskauer und Berliner Künstlern gegeben. "Das Resultat ist Belletristik. Die Kunstwerke agieren hier wie Personen, deren Zusammentreffen in einem Historienroman möglich wird, obwohl es die reale Geschichte vielleicht verhinderte. So wie den Lesern eines solchen Romans bekannte Tatsachen in einem neuen Licht erscheinen, fällt es den Wanderern in den Martin-Gropius-Sälen bisweilen wie Schuppen von den Augen. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass das Riesentableau von Barnett Newman 'Who is afraid of red, yellow and blue' (1970) und die gleich nach dem russischen Sieg im Zweiten Weltkrieg entstandene Pieta 'Ruhm den gefallenen Helden' des sozialistisch-realistischen Malers Fjodor Bogorodski etwas Gemeinsames haben? Und doch wird in der Konstellation unter dem Titel 'Rhetorik des Erhabenen' in beiden ein gleich starkes Pathos spürbar: das Gefühl des Künstlers, er habe den Weg zur Erlösung betreten."

Zur Debatte um die Anonyma bemerkt Renee Zucker: "Die Auseinandersetzung über Anonyma geht über das Buch hinaus. Es hat etwas mit dem Recht auf subjektive Erfahrung zu tun, mit Kriterien wie Wahrheit, Verlässlichkeit und Lauterkeit. Also: mit Betrug am leichtgläubigen Kunden - ich sehe das alles ein. Dennoch schiebt sich mir immer ein Satz von Robert Anton Wilson in dieses Einsehen: Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst." Zucker jedenfalls bleibt vom Text beeindruckt: "Dieses ständige Aussparen, das angebliche Nichtwissen oder Nichterinnern. Diese betonte Unsentimentalität. Das Grobe und Abrupte. Der Ton ist so deutsch, wie es deutscher kaum geht."


Gerrit Bartels spekuliert in einem Ausblick auf die Frankfurter Buchmesse, ob sie es schaffen wird, ein russisches Buch in die Bestsellerlisten zu hieven. Hinzuweisen ist noch auf das zwölfseitige Dossier "Tag der deutschen Heimat" (wahlweise "Tag des Flüchtlings"), das die taz mithilfe von Pro Asyl erstellt hat.

Besprochen werden das Vorabend-Serien-Drama "Die verzogene Prinzessin von China", das in Niklaus Halblützels Sicht Kent Nagano und Doris Dörrie für die Berliner Staatsoper inszeniert haben, und Bücher, darunter Matthias Kalles Generationsinspektion "Verzichten auf", Andrew Millers Roman "Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens", neue russische Krimis von Alexandra Marinina und Polina Daschkowa, Mostafa Daneschs Band über den "Krisenherd islamische Welt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

NZZ, 30.09.2003

Martin Walder erinnert an den dem am Sonntag 94-jährig verstorbenen Film- und Theaterregisseur Elia Kazan, dem nie richtig verziehen wurde, dass er im Zuge von McCarthys Kommunistenhatz 1952 einige prominente Freunde denunziert hat. "Der Stachel des 'naming names' ist in ihm haften geblieben. Kazan hat die Ambivalenz seines Verhaltens nicht nur akzeptiert, sie ist ihm auch künstlerisch zum Schlüsselbegriff geworden: als ein Riss, der sich wie im Fall von 'On the Waterfront' gleich mehrfach durch einen einzigen Film hindurchziehen konnte. Keiner seiner Filme, mit Ausnahme vielleicht des mexikanischen Revolutionsdramas 'Viva Zapata!' (1952), hat so viel zu reden gegeben wie dieser Klassiker über das erwachende Bewusstsein eines Einzelnen gegen die Korruption in den New Yorker Docks"

Weitere Artikel: Samuel Herzog macht sich Gedanken über die Kunstlandschaft in der Stadt Bern, die trotz aller guten Impulse leider einen Makel hat: das orientierungslose Kunstmuseum Bern. Besprochen werden eine Inszenierung des "Parsifals" an der Grazer Oper, Armin Petras' Zusammenstellung von vier Dramen ("Minna von Barnhelm, "Glasmenagerie", "Zerbombt" und "Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß") für das Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter ein Bildband über Kuba von Christophe Loviny und Klaus Modicks Roman "Der kretische Gast" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 30.09.2003

Im Tagesspiegel erinnert sich George Tabori an Elia Kazan, und wie er in der New York Times eine ganzseitige Anzeige schaltete, "in der er ankündigte, vor dem McCarthy-Ausschuss auszusagen, weil der Kalte Krieg seine politische Einstellung geändert habe und Stalin ein Schwein sei. Das war er für uns nun wirklich: ein Verräter. Irene Selznick, unsere erzkonservative Produzentin, hat auf Kazans Times-Seite sogar gekotzt."

FAZ, 30.09.2003

In einer seiner mitreißenden Reportagen aus San Francisco bringt uns Heinrich Wefing heute den Schriftsteller Dave Eggers nahe, der in San Francisco einen Piratenladen (mit Schutzhüllen für Holzbeine) und eine Schreibwerkstatt für Kinder unterhält, der mit seinem autobiografischen Buch über den Krebstod seiner Mutter ("Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität") Riesenerfolge feierte und der nicht nur als Autor, sondern auch im Vertrieb seiner Bücher eigenwillige Wege geht. Seinen Roman "You Shall Know Our Velocity" (der auch gerade auf deutsch erscheint) brachte er im Verlag seiner Zeitschrift McSweeney's heraus: "Eggers ließ sein Werk nur über unabhängige Buchläden sowie über die Website von McSweeney's vertreiben. Es gab keine aufwendige Werbekampagne, die Buchhandelsketten wurden hartnäckig boykottiert. Dem Erfolg hat das nicht geschadet. In die Bestsellerlisten schoss der Roman dennoch, auch ohne Hilfe von Amazon, Barnes & Nobles, teils dank der enthusiastischen Mundpropaganda von Eggers' Anhängerschaft, teils dank euphorischer Kritiken." Auch eine neue Zeitschrift bringt Eggers heraus, The Believer, ganz ohne Bilder und mit irre langen Texten (die leider nicht online gestellt werden) ein Alptraum für Verlagsmanager.

Weitere Artikel: Gerhard Rohde ist nur mäßig zufrieden mit Richard Jones' "Lulu"-Inszenierung an der Frankfurter Oper, dirigiert von Paolo Carignini, die er als "eine zweifellos effektvolle, hübsch anzuschauende und unterhaltsame Show" beschreibt. Verena Lueken schreibt den Nachruf auf Elia Kazan. Hans-Peter Riese gratuliert dem russischen Künstler Ilya Kabakov zum Siebzigsten. Doug Bandow, ehemals Mitarbeiter von Ronald Reagan, rät Präsident Bush, von weiteren Kriegshandlungen im Irak abzusehen. Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Mediävisten Friedrich Prinz. Andreas Rossmann beschreibt eine große Installation des Künstlers Christoph Rütimann (hier hängt er am Museum) auf dem Jahnplatz (oh je) in Bielefeld.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite beschreibt Ursula Harter anhand älterer und neuerer Bücher, "wie im 19. Jahrhundert Unterwasserparadiese zum Sinnbild unseres Innenlebens wurden". Und Jürgen Kaube bespricht das Merkur-Doppelheft über "Kapitalismus oder Barbarei".

Auf der letzten Seite beschreibt Patrick Bahners, wie sich Peter Glotz, selbst Sohn einer tschechischen Mutter und eines deutschen Vaters, mit dem Thema der Vertreibung auseinandersetzt - unter anderem mit seinem Einsatz für ein "Zentrum gegen Vertreibung" und mit einem neuen Buch über "Böhmen als Lehrstück". Und Ilona Lehnart schreibt zu Eröffnung des Goethe-Instituts in Kabul. Auf der Medienseite stellt Michael Hanfeld unter der Überschrift "Was soll Pierre Gerckens?" den Mann vor, der für Holtzbrinck den Tagesspiegel übernahm - nur interimsweise, bis das Kartellrecht geändert worden ist, vermutet Hanfeld. Und Jürg Altwegg meldet, dass Frankreich eine halbamtliche Alternative zu CNN plant.

Besprochen werden, neben der Frankfurter "Lulu", Kleists "Käthchen" im Deutschen Theater in Brlin und Nancy Van de Vates Oper "Im Westen nichts Neues" in Osnabrück.