Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2004. In der FAZ erwidert Werner Spies den milchigen Albinoblick der Khnopff-Medusen. Die SZ schildert einen amerikanischen Streit um Geländewagen und Vierliterautos. In der NZZ plädiert Sibylle Tönnies für eine beherzte Reform des Völkerrechts. Die taz findet nur einen, den sie mit Oliver Kahn vergleichen kann: Helmut Schmidt. Die FR stöhnt: Frankfurter Banken bauen, wie sie wollen.

NZZ, 10.03.2004

Die Juristin und Soziologin Sibylle Tönnies (mehr hier) kritisiert die Unbestimmtheit der derzeitigen Diskussionen um die "Bestätigung und Veränderung" des Völkerrechts und stellt klar, dass sich hinter dem versöhnlichen "und" eine harte Alternative verbirgt: entweder die Wiederherstellung der absoluten Souveränität der Nationalstaaten, die dann beispielsweise auch humanitäre Interventionen wie im Kosovo konsequent ausschlösse, oder die Errichtung eines "Superstaates", dessen Mehrheitswillen sich auch die Supermacht USA unterwerfen müsste: "Es ist nicht möglich, an der Charta nur ein bisschen herumzureformieren. Eine relevante Zunahme der Macht der Uno wäre nur durch eine Umwälzung zu erreichen, die niemand will: durch die Gründung des Weltstaats. Aus guten Gründen hüten sich Habermas (mehr hier), Derrida (mehr hier) und alle anderen friedfertigen Europäer, einer allen überlegenen Uno-Streitmacht das Wort zu reden. Sie müssten ja die Entmachtung der US-Armee durch den Rest der Welt fordern: ein Gewaltakt, an den niemand im Ernst auch nur denken mag. So bleiben die Reformideen nebulös."

Besprochen werden zwei Ausstellungen zur osteuropäische Kunst in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst, Stefan Noltes Inszenierung von Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" am Theater St. Gallen (ein "halluzinativer Tauchgang in die Abgründe gesellschaftlicher Konflikte"; leider nur in der Druckausgabe) und Bücher, darunter Anthony Sattins "The Gates of Africa", einer Chronik der vergeblichen Versuche der britischen African Association, Timbuktu zu erreichen (das im 18. und 19. Jahrhundert als "afrikanische Eldorado" galt), A. L. Kennedys Roman "Also bin ich froh" und der Roman "Der Unfall" des Rumänen Mihail Sebastian (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 10.03.2004

Vor dem Rückspiel in der Champions League betrachten Stefan Reinecke, Tobias Rapp, Dirk Knipphals und Gerrit Bartels das Phänomen Oliver Kahn, den "Existenzialisten" ("Schuld und Einsamkeit"), den "Krieger" ("diese Lächerlichkeit, sich unbeirrt nach jeder Niederlage aufzubäumen"), den "Weitermacher" oder auch den "Weltgeist": "Man muss das als Gesamtinszenierung begreifen: das Autoritäre, das Verachtungsvolle, zugleich aber auch das Manirierte und Selbstreflektierte, das so ein typischer Oliver-Kahn-Auftritt hat. Wenn man darüber nachdenkt, fällt einem eigentlich nur ein Mensch ein, der das auch so gemacht hat: Helmut Schmidt."

Katrin Bettina Müller porträtiert die Künstlerin Cornelia Schleime, die gerne sinnliche Nonnen und einen ironischen Papst malt. "Schleime, 1953 in Ostberlin geboren, berichtet von einer verheimlichten katholischen Erziehung während ihrer Kindheit in der DDR. In der Schule musste sie den Weg in die Kirche verschweigen; in der Kirche, dass die Eltern den Glauben nicht besonders ernst nahmen. Eine wunderbare Grundausbildung in Schizophrenie und Scheinheiligkeit."

Besprochen wird ein Sammelband, der sich Gedanken über Sinn und Zweck der Autorenlesung macht.

In der tazzwei erklärt Bernd Müllender Belgien seine Liebe, das nur von Ferne "rückständig, bieder und gesichtslos" erscheint. "Wenn man näher rangeht, staunen wir über immer neue Alltagskuriositäten: Nichts funktioniert richtig, aber alles irgendwie. Belgier wurschteln sich mit Verve durchs Leben - mit katholischer 'Wird schon klappen'-Mentalität, sturem flämischem Konservatismus, wallonischer Lebensart und, wenn gar nichts mehr hilft, unerschütterlichem Glauben ans Königshaus."

Und schließlich TOM.

FR, 10.03.2004

Wo eigentlich bleibt die Planungshoheit der Stadt Frankfurt, fragt Klaus Ronneberger angesichts des Wettberwerbs um den Neubau der Europäischen Zentralbank (EZB): "Die faktische Bedeutungslosigkeit des Planungsausschusses demonstrierte die EZB nun auch mit ihrer Entscheidung, zur Jury für den Wettbewerb um den Neubau ihres Hauptsitzes (mehr) keinen Vertreter des Stadtparlaments einzuladen. Mehr oder minder deutlich gab man zu verstehen, dass es hier nicht um Lokalpolitik, sondern um ein Architekturprojekt mit Weltniveau gehe." So werden "die Planungsinstanzen zu ausführenden Organen der durchsetzungsfähigsten Partikularinteressen degradiert", kritisiert Schlaffer. Frankfurt drohe bald zum "Vorzeigemodell für die 'schrumpfende Dienstleistungsstadt'" zu werden.

Petra Kohse denkt über Möglichkeiten der geldfernen "Echtwelterfahrung" nach, um dem "Erwerbs- und dadurch Selbstverlust" durch zu viel Arbeit zu entgehen. Die Ich-AG jedenfalls sei dafür der falsche Weg, denn: "Es ist nichts anderes als die Outsourcing-Variante von Selbstausbeutung im Fremdauftrag. Nötig aber wäre mal ein wenig Selbstvergessenheit. Ein Weniger, ein Langsamer, ein Nichthaben und Beobachten."

Weiter Artikel: Daniel Kothenschulte gratuliert Bernd und Hilla Becher zum Hasselblad-Award. Zum Streit um Peter Eisenmans Degussa-Anekdote weist Ulrich Speck in Times mager darauf hin, dass es gerade das Wesen von Humor und Ironie sei, die Grenzen der politischen Korrektheit hin und wieder zu überschreiten.

Besprochen werden drei Aufführungen am Stuttgarter Staatstheater: Horvaths "Bergbahn" und "Don Juan kommt aus dem Krieg" sowie Brechts "Kaukasischer Kreidekreis", eine El Greco-Ausstellung in der National Gallery London, die Uraufführung von Wilfried Hillers Oswald-Oper in Nürnberg und Bücher, darunter Undine Gruenters Roman "Der verschlossene Garten" und Claire Beyers Erzählungen "Rosenhain" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.03.2004

Der Kunsthistoriker Werner Spies hat eine Ausstellung mit Werken des "rätselhaften" Malers Fernand Khnopff (1858-1921) in den Königlich-Belgischen Kunstmuseen besucht und blieb offenbar lange vor dem Bild "Ich schließe mich selbst ein" stehen: "Der milchige Albinoblick, die Nachbarschaft zu Salome und Medusa, die auffällig breiten und kantigen unteren Gesichtspartien fallen auf. Immer wieder bleibt der Blick an einem muskulösen, wie durch böses Beißen trainierten Kinn hängen. Man denkt an Nietzsches Wort vom 'Nussknacker der Seele'. Fast alles verweist auf die Berührungsscheu des Künstlers, auf die die Biografie anspielt. Der Horror vor Sexualität findet seinen Höhepunkt in der Darstellung der androgynen Animalität. Das allbekannte Bild 'Liebkosungen' mit der sphinxköpfigen Gepardin kommentiert die siebte Ordensregel der Rosenkreuzer, mit deren Wortführer Josephin Peladan Khnopff vorübergehend in enger Beziehung stand: 'Der Orden hat nur ein einziges animistisches Ziel: die körperliche Liebe und Leidenschaft zu zerstören und durch das Abstrakte und seine ästhetischen Rituale zu ersetzen.'"

Weitere Artikel: Detlev Ganten, Vorstandsvorsitzender der Berliner Charite, warnt vor einer schnellen Verurteilung des therapeutischen Klonens: "Ein Missbrauch der Methode ist absolut nicht auszuschließen. Jedoch kann der Missbrauch den richtigen Gebrauch nicht desavouieren, und er taugt schon gar nicht als Argument, um Grundlagenforschung zu behindern. Wann therapeutisches Klonen aufhört und reproduktives Klonen beginnt, lässt sich biologisch, medizinisch und juristisch klar eingrenzen." Joseph Hanimann stellt ein neues Regelwerk des französischen Kulturministers Jean-Jacques Aillagon vor, das es ausländischen Künstlern erleichtern soll, in Frankreich zu leben und zu arbeiten. Renate Schostack meldet, dass die Danner-Stiftung mit ihrer Schmucksammlung in die Münchner Pinakothek der Moderne umzieht. Das Koblenzer Orchester feierte mit Schönebergs "Gurreliedern" seinen 350sten Geburtstag: Michael Gassmann bescheinigt den Musikern, die unter Sparplänen leiden, "international konkurrenzfähiges Niveau". J.M. schreibt zum Tod des Schauspielers Spalding Gray. Malt. schreibt zum Tod der Schauspielerin Frances Dee.

Auf der Medienseite erzählt Rainer Hermann von einem Besuch bei dem irakischen Fernsehsender Al Iraqija in Bagdad. Dieser ist Teil des "Iraqui Media Network", das wiederum an die Stelle des aufgelösten Informationsministeriums getreten ist: "Unter seinem Schirm und mit amerikanischer Anleitung sollen die Iraker selbst eine freie Presse aufbauen". Auf der letzten Seite porträtiert Oliver Tolmein den Bochumer Schmerztherarpeuten Michael Zenz, der für die Staatsanwaltschaft als Gutachter im Totschlagsprozess gegen die Ärztin Mechthild Bach aufgetreten ist. Rainer Hermann porträtiert Alexandria als "Stadt der Erinnerung". Andreas Platthaus bewundert den Mut des armen Görlitz, das 2010 Kulturhauptstadt Europas werden will.

Besprochen werden Fatih Akins Film "Gegen die Wand", Monteverdis "Krönung der Poppea", von Christof Loy in Düsseldorf inszeniert, eine Ausstellung mit Werken von Antoni Tapies im Museum für Zeitgenössische Kunst in Barcelona (MACBA), Marthe Kellers Inszenierung des "Don Giovanni" an der Met und die Ausstellung "10 + 5 = Gott. Die Macht der Zeichen" im Jüdischen Museum Berlin.

SZ, 10.03.2004

Andrian Kreye führt uns in den aktuellen Kulturkampf ein, der gerade Kalifornien erschüttert und sich an zwei Modellen entzündet: "Der Toyota Prius, ein aubergineförmiger Hybridwagen mit gemischtem Elektro- und Benzinantrieb, der nur vier Liter auf 100 Kilometer verbraucht. Und der Hummer, jenes überdimensionierte Infanteriefahrzeug mit 30 Litern Benzinverbrauch, das General Motors für den zivilen Einsatz umgerüstet hat. Da treffen protestantische Vernunft und barocke Lebenslust, progressiver Liberalismus und rebellischer Konservatismus, Independentfilmer und Actionstars, ja sogar Tauben und Falken aufeinander."

Weiteres: Christian Jostmann blickt auf die jüngeren Entwicklungen in der Zeitgeschichte und stellt dabei fest, dass die politischen Unterschiede ihre Trennschärfe verloren haben und nicht mehr zur Lagerbildung taugen. Petra Steinberger geht in einem grundsätzlicheren Text der Frage nach, ob die USA noch ein säkularer Staat sind. Alex Rühle bemerkt, dass die Champions League jetzt auch auf dem Buchmarkt ausgetragen wird: David Beckham, Ottmar Hitzfeld und Marcel Reif lassen ihr Leben aufschreiben. Daniel Jütte berichtet von einer Tagung, die sich mit der literarischen Karriere des Zürcher Arztes Maximilian Bircher-Benner (mehr hier) und seinem Müsli befasste. Simone Kaempf würdigt das würdige Ende des Leipziger "Horch und Guck". Henning Klüver meldet, dass die Reinigung von Michelangelos David kurz vor dem Abschluss steht.

Besprochen werden Fatih Akins Berlinale-Gewinner "Gegen die Wand", eine Marc-Chagall-Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt, gleich sechs über ganz Umbrien verteilte Schauen zu Perugino, Christof Loys Inszenierung der "Poppea" in Düsseldorf, Hasko Webers Aufführung von Horvaths "Bergbahn", Marc Beckers Stück "Wir im Finale" in Jena, die Tournee des Liedermachers Stephan Sulke und Mechthild von Magedeburgs Schrift "Das Fließende Licht der Gottheit" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).