Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2004. In der Welt erklärt der Historiker Niall Ferguson, warum die Amerikaner mindestens zehn Jahre lang im Irak bleiben müssen. Die SZ sah in Cannes das prachtvollste Bordell, das man sich vorstellen, aber die FAZ würde die Goldene Palme trotzdem an Che Guevara verleihen. Die NZZ transportiert einen monumentalen Tschechow von Sachalin nach Badenweiler. Die Berliner Zeitung unterhält sich mit dem tschetschenischen Dichter und Politiker Apti Bisultanov über den Widerstand in seinem Land.

FR, 21.05.2004

Wie lässt sich die Kultur der Gewalt im Irak überwinden? Thomas Medicus hat zugehört, als in der Berliner Akademie der Künste Mufid Mohammed Jawad al-Jaza'iri, der Minister für Kultur im Provisorischen Regierungsrat Iraks, die gegenwärtige kulturelle wie politische Situation beschrieb: "Als er sein Amt antrat, habe die gesamte kulturelle Infrastruktur am Boden gelegen - als Folge des Krieges ebenso wie der langfristigen Zerstörungen jeglicher intellektuellen, künstlerischen wie auch Bildungskultur durch das Regime Saddam Husseins. Man habe nach dem Ende des Krieges im vergangenen Jahr mit Brandschatzung sowie Plünderung der Museen zu tun gehabt, vor allem aber mit einer verheerenden, das gesamte öffentliche Leben beherrschenden kulturellen Leere als Resultat der Saddam-Diktatur. 'Nicht nur die materielle Infrastruktur', so die Schlussfolgerung des Kulturministers, habe gelitten, mindestens ebenso verheerend wie noch immer bestimmend sei die Zerstörung der 'seelischen Infrastruktur Iraks'."

Weitere Artikel: Axel Honneth schreibt zum 80. Geburtstag des Frankfurter Soziologen und früheren Hessischen Kultusministers Ludwig von Friedeburg. In Times Mager grübelt Alexander Kluy über die Folgen des "Deutsch-Baby"-Wörterbuchs von Langenscheidt. Gemeldet wird, dass die Schauspieler Tony Randall und Carl Raddatz gestorben sind. Besprochen wird Michel Gondrys "genialische" Filmgroteske "Vergiss mein nicht!".

Berliner Zeitung, 21.05.2004

Der tschetschenische Dichte und Politiker Apti Bisultanov widerspricht im Interview der Einschätzung der Journalistin Anna Politkowskajas, der tschetschenische Widerstand zerfalle in "Westler" um den gemäßigten Präsidenten Maschadow und "Araber", die Anhänger einer Islamisierung. "Ich bewundere Frau Politkowskaja für ihre mutigen Reportagen, aber hier versucht sie, allzu schlau zu sein. Welcher Krieg gegen Besatzer war denn je einheitlich? Man muss doch den Kern des Konflikts sehen. Unser Volk hat man nicht wegen El Qaida deportiert! Sicher, mancher kämpft aus Rache, mancher mit anderen Zielen, mancher im Namen Allahs, das gibt es alles - aber nur, weil die Besatzer kamen und ganz Tschetschenien ein KZ ist. Wenn Sie fragen, ob sich die tschetschenische Gesellschaft radikalisiert und zum Extremismus neigt - sicher! Das ist offensichtlich. Was bleibt den Menschen auch außer der Religion? Wo ist Recht und Gesetz, wo das Völkerrecht? Europa tut nichts, es sagt noch nicht einmal Putin, dass das schlecht ist, was dort passiert! Aber eines versichere ich ihnen: Am Ende wird sowieso Europa das Problem lösen müssen - je früher es das tut, umso besser."

NZZ, 21.05.2004

Ohne näheren Anlass erzählt Barbara Spengler-Axiopoulos die melancholische Geschichte vom schwierigen Verhältnis der Kurstadt Badenweiler zu Tschechow, der hier an TBC starb, und die am besten von Kusturica zu verfilmende Geschichte vom Transport einer monumentalen Tschechow-Büste von der Insel Sachalin nach Badenweiler im Jahre 1989. "Den grotesk erscheinenden Transport von Sachalin nach Badenweiler mag man im Angesicht der Kulturzerstörung als eine Geste sehen, Verlorenes zusammenzufügen. Bei Anton Tschechow, dem sich viele nahe glauben, besteht die Versuchung zu fragen, was er zu alledem gesagt hätte. Er aber hält Distanz. In einem Brief an seine Frau schreibt er: 'Du fragst, was ist das Leben? Das ist, als wolle man fragen: Was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe. Mehr ist dazu nicht zu sagen.'"

Weitere Artikel: Claudia Schwartz berichtet über den Streit um die Präsentation der Flick-Sammlung in Berlin. Besprochen werden die Ausstellung über den Ersten Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum, ein Auftritt der exhumierten Gruppe Kraftwerk ("vier Laptops, vier Keyboards und vier Herren in uniformen schwarzen Anzügen, uniformen roten Hemden", schreibt Ueli Bernays) in Bern und Uraufführungen an der Münchner Biennale.

Für die Filmseite besucht Marli Feldvoss die Kubrick-Ausstellung im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt. Besprochen werden der Film "Numafung" des Nepalesen Nabin Subba, der Film "Cachorro" von Miguel Albaladejo und der Film "Erbsen auf halb 6" von Lars Büchel. Außerdem hält Catherine Ann Berger ein Plädoyer für Corinna Schnitts Kurzfilm "Living a Beautiful Life".

Auf der Medienseite resümiert Marc Bodmer die 10. Electronic Entertainment Expo in Los Angeles, wo neue Video- und Computerspiele präsentiert wurden.

Welt, 21.05.2004

Der Historiker Niall Ferguson erklärt im Interview, warum eine Neuordnung des Irak nur gelingen kann, wenn die Amerikaner mindestens zehn Jahre dort bleiben und "die Besatzung wirtschaftlichen Erfolg hat - und zwar schnell. Den Briten in Ägypten ist das gelungen. Meines Erachtens ist Heuchelei besser als die Naivität vieler Europäer, die den sofortigen Abzug der USA aus Irak fordern. Das würde die Lage nur verschlimmern. Es gäbe sofort einen Bürgerkrieg mit schlimmen Konsequenzen für den ganzen Nahen Osten. Mit Möglichkeiten für Terroristen wie seit dem Libanon-Krieg nicht mehr. Es würde eine Universität für Terroristen in Bagdad eröffnet." Als Vorbild für eine solche Politik könnte der englische Premier Gladstone gelten, der 66 mal angekündigt hatte, Großbritannien werde sich aus Ägypten zurückziehen. Tatsächlich blieben die Briten 70 Jahre im Land.

Im Forum erklärt der New York Times-Kolumnist Andrew Sullivan, warum er die Bezeichnung "Homoehe" für falsch hält. "Das sind keine 'Schwulenehen'. Es sind Ehen. Was diese Paare sich bestätigen, ist nichts Neues; es ist so alt wie die Menschheit selbst. Was damit endet, jedenfalls in einem Staat, ist Separatismus. Wir haben einen Schritt in Richtung auf Homosexualität als Nichtthema gemacht, darauf, schwule Bürger zuerst und über allem zu Bürgern zu machen."

SZ, 21.05.2004

Der in Paris lebende Journalist Danny Leder beklagt den wachsenden Antisemitismus in Frankreich, der sich für ihn aus der "Parallelpräsenz von über fünf Millionen Moslems und 600.000 Juden, beide vorwiegend aus dem Maghreb", ergibt: "Immerhin wurden seit Ende 2001 (parallel zur zweiten palästinensischen Intifada) in Frankreich über 700 anti-jüdische Zwischenfälle registriert. Es gab serienweise Anpöbelungen aber auch tätliche Angriffe auf Gläubige vor Synagogen und auf Kinder vor jüdischen Schulen. Es gab Brandlegungen in jüdischen Bethäusern und Schulen, in koscheren Restaurants und Metzgerläden. Es gab Überfälle auf Wohnungen in Sozialbauten und auf Reihenhäuser, die jüdische Familien zum Auszug zwangen." Ein paar Seiten weiter greift Armin Adam den heftigen Streit auf, den der Linguist und Philologe Jean-Claude Milner mit seinem Buch über Europas Antisemitismus "Les penchants criminels de l'Europe democratique" in Frankreich ausgelöst hat.

Aus Cannes berichtet Susan Vahabzadeh freudig über die gerade gelaufenen Filme von Walter Salles Che-Guevara-Film "The Motorcycle Diaries" und Zhang Yimous "House of Flying Daggers", eine Art Romeo und Julia mit Martial Arts, wie sie schreibt: "Der Film beginnt mit einer schier unglaublichen Tanzszene im prachtvollsten Bordell, das man sich vorstellen kann, die schlagkräftigen Frauen haben es hier zu Führungspositionen gebracht, die Kämpfe sind grandios inszeniert." Tobias Kniebe hat Regisseur Hans Weingartner durch die vergangenen beiden Wochen begeleitet.

Weiteres: Der Schriftsteller Burkhard Spinnen erzählt in einer hübschen Geschichte, wie er sich einmal von der guten Literaturfee eine Avantgarde-Debatte wünschte, von der postmodernen Literaturzicke aber abgekanzelt wurde. Geradezu hymnisch feiert Thomas Steinfeld Richard Powers' Ziegelsteinroman "Der Klang der Zeit": "Fast achthundert Seiten hat dieses Buch, und keine Seite ist zu viel." Ralf Hertel hat sich in Berlin die Diskussion darüber angehört, wozu Kulturpolitik im Irak eigentlich gut sein soll. Die Beiträge des Kulturministers Mufid Mohammed Jawad al-Jaza'iri waren ihm eine Demonstration der Hilflosigkeit, etwa wenn Jazaa'iri erklärte: "Das letzte Wort hat immer Herr Bremer." Klaus Brill hat sich auf einer Tagung in Bleiwäsche bei Paderborn über die neuesten Entwicklungen auf dem Dorf schlau gemacht. Nachrufe gelten dem Schlagzeuger Elvin Ray Jones und dem Ufa-Schauspieler Carl Raddatz. C. Bernd Sucher erklärt dagegen der quicklebendigen Schauspielerin Doris Schade zum Achtzigsten seine Liebe.

Besprochen werden die James-Lee-Byars-Schau in der Frankfurter Schirn, Ulla Hahns "Unscharfe Bilder an den Hamburger Kammerspielen und Bücher, so Tobias Hülswitts Comedy-Satire "Ich kann dir eine Wunde schminken" und Michel Winocks "Das Jahrhundert der Intellektuellen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.05.2004

Andreas Kilb hat in Cannes einen neuen Favoriten für die Goldene Palme gesehen, Walter Salles' Film "The Motorcycle Diaries", der eine Motorradreise in der Jugend des späteren Che Guevara und damit zugleich den Beginn seiner Heiligenlegende schildert: "'The Motorcycle Diaries' ist zuerst und vor allem ein Road Movie, also das Gegenteil eines Lehrstücks: eine Geschichte nicht von Thesen, sondern von Straßen und Plätzen, Tanzhallen und Heuschuppen. Erst allmählich erkennt man im Gesicht von Ernesto, dem der Mexikaner Gael Garcia Bernal die Zartheit eines Stendhalschen Helden verleiht, wie die Etappen zu Denkschritten, die Eindrücke zu unumstößlichen Einsichten werden."

Weitere Artikel: Jordan Mejias fragt im Aufmacher über den Reporter Bob Woodward und sein Buch "Plan of Attack" (Auszug), wie es kommen kann, dass "Bush ebenso wie seine Kritiker das Buch wärmstens empfehlen". Heinrich Wefing meditiert in der Leitglosse über eine Diskussion des irakischen Kulturministers Moufid Mohammed Jawad Al Jaza'iri und zweier irakischer Exilautoren in der Berliner Akademie der Künste. Eleonore Büning meldet, dass Adriana Hölszky in ihrer neuen Oper "Der gute Gott von Manhattan" nach einer Erzählung von Ingeborg Bachmann auf den Pfad der geradlinig erzählten Literaturoper zurückgekehrt sei - und die Eichhörnchen aus Bachmanns Erzählung müssen "klirrend hohe Töne treffen und sprungreiche Koloraturen bewältigen". Jörg Magenau resümiert eine Tagung über "Poesie und Wissen" des Berliner Zentrums für Literaturforschung. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod des Schauspieler Carl Raddatz. Michael Althen schreibt zum Tod des Schauspielers Tony Randall. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Zeitschriftengründers und Antitotalitären Melvin J. Lasky. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Jazz-Schlagzeugers Elvin Jones.

Auf der Medienseite meditiert Dietmar Dath über die gerade abgelaufene zweite Staffel der Serie "24" ("Vor allem die explizite 'Folterfolge', die zwischen zwei und drei Uhr nachts spielt, sollte man sich... nochmal anschauen").

Für die letzte Seite schickt Florian Schneider eine Reportage aus Novi Sad, wo Netz- und Medienkünstler aus den gar nicht so wenigen Ländern tagten, die noch nicht in die EU aufgenommen wurden. Christian Geyer denkt in einer Glosse über das Vatersein nach. Und Christian Schwägerl berichtet über die Firma Myriad, die sich eine Gensequenz hat patentieren lassen und nun für einen auf einer Untersuchung dieser Gene beruhenden Brustkrebstest 2.500 Dollar verlangt - eines der Patente der Firma ist nun allerdings vom Europäischen Patentamt widerrufen worden.

Besprochen werden eine von Franz Wittenbrink bei den Ruhrfestspielen besorgte Inszenierung von einigen lange nicht mehr gehörten Arbeiterliedern, Robert Altmans Film "The Company" und Sachbücher, darunter Anne-Marie Slaughters bisher nur auf englisch erschienener Band mit dem bescheidenen Titel "A New World Order", in dem die Völkerrechtlerin ein Agieren der Staaten in Netzwerken voraussagt.

TAZ, 21.05.2004

"So kurz vor dem Gipfel waren die deutschen Intellektuellen noch nie", feuert Alexander Cammann Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan an, variiert anschließend ein wenig über Intellektuelle und Macht, um dann noch einmal nachzulegen: "Gesine Schwan verkörpert den engagierten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der sich damals kampfeslustig in die ideologischen Schlachten gestürzt hat. Daraus ist sie fröhlich und siegreich hervorgegangen, mit einem geistigen Traditionsbestand, der auch in diesem Jahrhundert Zukunft hat. Zweifellos ist sie die originellere Antwort auf die Krise als ein Exstaatssekretär und Ex-IWF-Chef: Versuchen wir es doch mal abseits der eingefahrenen Gleise mit einer kreativen Störerin jenseits des üblichen Politikmilieus." Den Unionskandidaten Horst Köhler betrachtet Patrik Schwarz auf einer der vorderen Seiten mit etwas mehr Distanz.

Weiteres: Harald Peters versteht den Hype um Morrisseys neues Album "You are the Quarry" nicht ganz, auf dem in gewohnter Mischung Fleischkonsum, Allmachtsfantasien und Übergewicht besungen werden. Christian Bröcking liefert den Nachruf auf die Jazz-Legende Elvin Jones: "Sein Stil, wild, laut und aggressiv, befreite das Jazzschlagzeug aus der begleitenden Funktion." Und Cristina Nord langweilt sich im konventionellen Cannes.

Und noch TOM.