Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.07.2004. In der FAZ erklärt Jonathan Franzen, was er warum nicht gegen Bush schreibt. In der taz stellt Heinz Berggruen einen schlechten Klee in die Ecke. Im Tagesspiegel sorgt sich die lettische Dichterin Amanda Aizpuriete um die Zukunft des groben Salzes. In der SZ führt Peter Brook in die vertrackte Dialektik von Natur und Kunst im Leben der Schauspieler ein.

FAZ, 06.07.2004

Verena Lueken führt ein spannendes Gespräch mit Jonathan Franzen (mehr hier), der sich wie so viele amerikanische Künstler und Autoren der New Yorker Wahlinitiative Downtown for Democracy angeschlossen hat. Er will nichts gegen Bush schreiben, sagt er, denn "die Amerikaner interessiert nicht, was ihre Schriftsteller denken", aber er skizziert doch mal, was er schreiben würde, falls es sie doch interessiert hätte: Dass es gute Gründe für den Krieg gab, würde er darlegen, aber auch "welches Desaster daraus wurde". Dann wieder Resignation: "Schriftsteller sind für die Wahrheit zuständig, welches Wahlkomitee könnte da eine Verwendung für sie haben? Seht zu, dass sie die Klappe halten, würden die Berater rufen. Sie brauchen Michael Moore, keinen Romanautor. Ich respektiere Michael Moore, aber ich wende mich nicht an ihn, wenn ich die Wahrheit wissen will. Und ich warne auch die deutschen Leser davor, von ihm die Wahrheit zu erwarten."

Lutz Rathenow plädiert für die Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten, für die eigens eine revolutionäre Software entwickelt wurde - im Bundestag ist die Fortsetzung dieser Rekonstruktion offensichtlich umstritten: "Mit Hilfe des neuen Programms wären die 15.000 Säcke in fünf Jahren sortiert und geordnet. Aber die Kosten? Sie entsprächen in etwa den Erlöseinbußen von drei bis vier Tagessätzen des desaströs gescheiterten Toll-Collect-Systems."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel schickt von seiner Urlaubsinsel Paros eine atmosphärische Reportage über den Abend des griechischen Sieges. Lorenz Jäger erinnert an James Joyces Bruder Stanislaus, der starb, bevor er seine Erinnerungen an den Bloomsday festhalten konnte. Cornelia Thomas resümiert eine vom Londoner Institute of Ideas veranstaltete Diskussion zwischen Neurologen und Künstlern über das Thema der Kreativität. Marcel Reich-Ranicki eröffnet eine FAZ-Sommerserie, in der Leser ihr Lieblingsbuch vorstellen (für MRR ist es Bert Brechts "Hauspostille"). Wiebke Hüster besuchte eine Abschiedsvorstellung William Forsythes und seines Frankfurter Balletts in Paris ("Rosen flogen aus dem Parkett"). Hannes Hintermeier gratuliert Bernhard Schlink zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite begutachtet Michael Hanfeld die Einschaltquoten der EM. Und Peter Sturm meldet, dass die Deutsche Welle ihr spanischsprachiges Programm fortführt. Auf der letzten Seite berichtet Jordan Mejias von der Grundsteinlegung für die neuen Gebäude am Ground Zero. Und Dieter Bartetzko erklärt uns, wer Herakles, der antike Vorläufer von Rehakles, ist.

Besprochen werden Luk Percevals "Tristan"-Inszenierung in Stuttgart, eine in Paris von der Fondation Antoine de Galbert organisierte Ausstellung, die Einblick in Privatsammlungen gibt, und eine Ausstellung über Hessische Baudenkmäler in Berlin.

Tagesspiegel, 06.07.2004

Die lettische Dichterin Amanda Aizpuriete sorgt sich, dass Europa nicht gut ist für die Letten.

Schon ist das "Grobsalz ausverkauft, welches man unbedingt braucht, um Gurken und Pilze nach den alten, generationenlang erprobten Rezepten einzulegen." Ein Gerücht besagt, dass es nicht mehr verkauft werden darf, weil es "nicht den EU-Normen entspricht". Die Menschen kaufen jetzt vieles auf Vorrat - wie in der Sowjetepoche. Überhaupt, die Sowjets! "Dem Stalinismus wurde kein Nürnberger Prozess gemacht. Als Sandra Kalniete in ihrer Eröffnungsrede auf der Buchmesse dieses Problem ansprach, führte das zu einem Eklat. Es kommt einem so vor, als seien die von den totalitären Regimen hinter dem Eisernen Vorhang verübten Verbrechen nur für uns, die wir dort gelebt haben, Realität. Ein Foto von einem deutschen Konzentrationslager finden alle erschütternd, ein Foto von einem Kreuz über einem Massengrab irgendwo in Sibirien, wo Tausende fern der Heimat namenlos verscharrt liegen, erschüttert nur uns. Seltsam, sich ein Europa vorzustellen, in dem gleichzeitig mehrere Realitäten existieren..."

FR, 06.07.2004

Kultursenator Thomas Flierl richtet die Berliner Theater neu aus. Nikolaus Merck spendet Beifall, denn Berlin mit seinen fünf großen Schauspielhäusern müsste eigentlich längst Theaterwunderland sein. Aber "jeder macht alles, es gibt keine Aufgaben mehr und keine klar unterscheidbaren Strategien für die einzelnen Spielhäuser. So hat der Intendant des Deutschen Theaters Bernd Wilms sein Haus den Regisseuren zu Füßen gelegt, sie bestimmen den Spielplan. Der reicht entsprechend von Wilsoniaden und Zadeks Angela-Winkler-Feiern bis Armin Petras' Fritz Kater-Aufführungen und Michael Thalheimers Klassikerschrumpfungen."

Weitere Artikel: Thomas Hausschild weist auf Gemeinsamkeiten religiöser Kleidervorschriften hin, etwa die überhöhende Funktion tibetischer und heimischer Mönchskutten. "Von unten her wippt es über den verborgenen Füßen, als habe man oder frau schon zum direkten Flug in den Himmel angesetzt." Matthias Glaubrecht gratuliert Ernst Mayr (mehr), Altmeister der Biologie, zum hundersten Geburtstag. In Times mager nimmt Christian Thomas eine Auszeit und träumt von Otto Rehhagel, Odysseus, "Ottysseus Feefabel". Gemeldet wird unter anderem, dass Regisseur Rosa von Praunheim einen Film über Armin Meiwes plant, den "Kannibalen von Rothenburg".

Besprochen wird einzig die "bedachtsam ausgeleuchtete, moderne, subtile und klar gewichtete" Inszenierung des Tristan unter Regisseur Luk Perceval und Dirigent Lothar Zagrosek in Stuttgart.

TAZ, 06.07.2004

Der Kunstsammler Heinz Berggruen spricht mit Phillipp Gessler und Rolf Lautenschläger über Frida Kahlo, seine Liebe zu Bildern und die seiner Ansicht nach ungerechte Behandlung von Friedrich Christian Flick. Der neunzigjährige Berggruen besticht schon zum Auftakt durch Frische und Dezidiertheit. "Herr Berggruen, da hinten im Eck, auf dem Boden neben dem Sofa, das ist kein Picasso, oder?" "Nein, das ist ein Klee." "Der steht da so rum?" "Es ist kein sehr guter."

Martin Droschke unterhält sich lange mit dem Konzeptkünstler Peter Piller (mehr von ihm selbst) über dessen Sammlung von Fotos aus Provinzzeitungen, in denen etwa Feuerwehrmänner durch hemmungslosen Blitzeinsatz an katholische Heilige erinnern. "Es geht darin nicht darum, das Landleben lächerlich zu machen! Es ist auch keine Kritik an amateurhafter Fotografie, sondern eher eine Hommage daran. Eine meiner neuesten Serien heißt: 'Vorzüge der Absichtslosigkeit'."

Weiteres: Im Streit um Castorf urteilt Katrin Bettina Müller salomonisch: beide Seiten haben Fehler gemacht. Susanne Messmer weilt gerade in Peking und erklärt, warum sich Punks und Geschäftsmänner im Restaurant treffen. Uh-Young Kim dagegen berichtet aus Köln, wo eine Tagung über Gilles Deleuze (mehr) von gedichtaufsagenden Guerilla-Erscheinungen stimmig unterbrochen wurde. Trotz Matsch und Dauerregen resümiert Andreas Becker das Rockfestival von Roskilde recht gutgelaunt.

"Keine Demokratie ohne Demokraten, keine Zukunft ohne Reformen und keine Reformen ohne veränderte Kontroll- und Machtverhältnisse. Das ist das Dilemma der arabischen Welt." Im Meinungsteil macht Ahmed Abdallah den Reformstau im Nahen Osten gleichermaßen an Regierungen wie Islamisten fest. In der zweiten taz fragt sich Klaus Raab angesichts des griechischen EM-Siegs, was die Statistiken noch taugen. Auf der Medienseite annonciert Jan Freitag eine ZDF-Dokumentation über Problemviertel, deren Protagonisten aber leider ein wenig zu reflektiert antworten. Und als Tagesthema lesen wir Reiner Wandlers Reportage über eine Torero-Schülerin in Madrid und den Stellenwert des Stierkampfs überhaupt.

Schließlich Tom.

NZZ, 06.07.2004

Tolle Musik hat Thomas Burkhalter beim Jazzfestival in Montreaux gehört, allerdings nicht von Alicia Keys, sondern von Rokia Traore und Oumou Sangare aus Mali. Uwe Justus Wenzel verteidigt Jürgen Habermas' Essay zu Kerneuropa "Der gespaltene Westen" gegen die Überschriftenmacher bei der FAZ. "Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas" - das hätte Habermas niemals selbst geschrieben.

Besprochen werden außerdem - und zwar hymnisch - die Inszenierung von Richard Strauss' "Rosenkavalier" bei den Zürcher Opernfestspielen, Pippo Delbonos Stück "Urlo" bei den Orestiadi di Gibellina, Erri De Lucas Roman "Ich bin da" sowie "erschütternd lakonische" Erzählungen von Ivan Cankar (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Gemeldet wird auch, dass sich Christoph Schlingensief nach dem Bayreuther Streit um seinen "Parsifal" erst einmal krank gemeldet hat.

SZ, 06.07.2004

Peter Brook, ehemals Theaterregisseur, jetzt eher Theaterrechercheur, gerät im Gespräch mit Jürgen Berger von seinem neuen Stück "Tierno Bokar" bei der Ruhrtriennale sehr schnell zu Grundsätzlichem. "Gerade sehr gute Schauspieler leben in der Gefahr, ihre innere Realität zu leugnen. Vor allem im europäischen Theater gibt es eine Bewunderung für die Kunst, künstlich zu sein. Ich dagegen bemerkte während meiner Beschäftigung mit japanischem und indischem Theater, dass Schauspieler über den Umweg äußerster Künstlichkeit wieder ganz natürlich spielen können. Das hat auch mit dem Kino zu tun. Ist es nicht kurios, dass der Film mit seinen Cuts und Close Ups in eine noch größere Künstlichkeit führt als das Kabuki-Theater, der Eindruck auf den Zuschauer aber überaus natürlich ist?"

Weitere Artikel: Keine Einigung bei den Gesprächen zwischen Zentralrat und liberalen Juden, meldet Alexander Kissler, nicht ohne vorher noch einmal die Problemlage zusammenzufassen. "Spannung total" spürt W. S. in Bayreuth, kann aber in der Causa Schlingensief nichts Neues vermelden. Volker Breidecker genießt das 26. estnische Sängerfest und erzählt die schöne Anekdote, wie die Esten singend die Revolution starteten. Dirk Peitz begibt sich auf die Suche nach der Euphorie in der Popmusik, findet bei einem House-Konzert mit DJ Koze aber keine Antworten. Gottfried Knapp gratuliert dem Vater der Grazer Schule, dem österreichischen Architekten Günther Domenig, zum Siebzigsten. Alex Rühle amüsiert sich über die Fabelwesen, die das Sommerloch regelmäßig gebiert.

"Das Plusquamperfekt ist immer eine leise Enttäuschung", behauptet Schriftstellerin Felicitas Hoppe in einer kurzen Meditation auf der Literaturseite. Ganz hingerissen gibt sich Henning Klüver von Umberto Eco (mehr), der auf der ersten und einzigen Vorstellung seines neuen Buches (siehe Espresso in der Magazinrundschau vergangene Woche) zum Singen anhob. "Duae umbrae nobis una facta sunt, infra laternam stabimus, olim Lili Marleen, olim Lili Marleen." Christiane Kohl erklärt auf der Medienseite, warum Silvio Berlusconi als Ministerpräsident, Wirtschafts- und Finanzminister in einer Person jetzt endgültig Herr über Italiens Medienlandschaft ist.

Besprochen werden die Ausstellung "Kreuzzug 2003/2004" mit Arbeiten des Bildhauers Thomas Schütte im Düsseldorfer K21, Luc Percevals Operndebüt mit Wagners "Tristan und Isolde" in Stuttgart ("Perceval malt Grau in Grau, ihn interessiert allzu sehr die Todessehnsucht und zu wenig ihr Widerpart, die Realität einer Liebe", seufzt Reinhard J. Brembeck), das 15. Oleg-Kagan-Musikfest in Kreuth, Emile Gaudreaults kanadische Filmkomödie "Mambo Italiano", und Bücher, drei Bände über den Totenkult der Päpste und die Machtkämpfe um das höchste Amt sowie ein Supplementband der kommentierten Ausgabe Rainer Maria Rilkes mit den französischen Gedichten.