Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2004. Die FAZ staunt über ein musikalisches Wunder, das sich ausgerechnet in Venezuela ereignete. In einem Welt-Interview hält Uwe Tellkamp am Unteschied zwischen Ost und West fest. In der Berliner Zeitung plädiert der Typograph Martin Z. Schröder für die gemäßigte Kleinschreibung. Die NZZ schildert den Internetboom in Russland. Die FR resümiert die amerikanische Debatte um Nicholas Bakers Roman "Checkpoint". Santiago Calatravas Umbau des Olympiastadions von Athen stößt auf gemischte Reaktionen.

FAZ, 13.08.2004

Über nicht weniger als ein musikalisches Wunder berichtet Caroline Vongries aus Caracas, Venezuela. In die Wege geleitet wurde es von Jose Antonio Abreu, dem ehemaligen Kulturminister des Landes, der die staatliche Stiftung Fesnojiv ins Leben rief - die "Stiftung des nationalen Systems venezolanischer Kinder- und Jugendorchester und ­chöre". Abertausende junger Venezolaner auch aus den ärmsten Schichten haben seitdem eine musikalische Ausbildung bekommen. Auch Simon Rattle musizierte hier jüngst mit Schülern: "Zweihundertfünfzig Instrumentalisten und sechshundert Chorsänger standen auf der Bühne und widmeten sich Mahlers 'Auferstehungssymphonie' so präzise und unprätenziös, spielten so lebendig und farbenreich, dass der Dirigent anschließend bekannte, ihm habe sich die tiefere Bedeutung dieser zweiten Symphonie noch nie derart erschlossen wie bei diesem Konzert."

Niklas Maak begeht Santiago Calatravas (mehr hier) Umbau des Olympiastadions in Athen, der wider Erwarten doch noch fertig wurde. Aber der Ingenieurs-Ästhetizismus des spanischen Architekten stimmt ihn eher skeptisch: "In den feuchten Wintern wird es hier zugig sein, im Sommer unerträglich heiß. Aber angesichts neuerer Sportarenen muss man ohnehin das Gefühl haben, dass die Stadien nicht mehr für deren Besucher gebaut werden, sondern in erster Linie als ästhetische Kulisse für die Millionen, die das Gebäude vor dem Fernseher erleben."

Weitere Artikel: Patrick Bahners schreibt zum Tod des Historikers Wolfgang J. Mommsen. In der Leitglosse prangert Andreas Platthaus einen britischen Richterspruch an, der von Folter erzwungene Aussagen zulassen will, sofern die Folter nicht von Briten in Großbritannien ausgeübt wurde. In einer Meldung werden Kompromissvorschläge, die nicht stracks in die ehemalige Rechtschreibung führen, als Weg in die Beliebigkeit kritisiert. Der Lyriker Reiner Kunze redet Fraktur mit der Hamburger Kultursenatorin, die frech an der bewährten Rechtschreibung festhalten will ("Armes Hamburg, das eine solche Kultursenatorin hat! Armes Deutschland, das ein solches Hamburg hat!"). Nils Minkmar erklärt Montaignes "Essais" zu seinem Lieblingsbuch. Regina Mönch begeht zum Jahrestag des Mauerbaus das Pflasterband zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, das den Verlauf der Grenze markiert. Heinrich Wefing hat einem Vortrag des Neokonservativen Richard Perle (hier ein Artikel über ihn von Seymour Hersh) an der Bucerius Law School gelauscht. Stephan Sahm fürchtet bei einem Blick in bioethische Zeitungen und angesichts britischer Klon-Experimente, dass der Streit um das Klonen wieder aufflammen könnte. Dirk Schümer gratuliert dem Historiker Jens Petersen vom Deutschen Historischen Institut in Rom zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite meldet Erna Lackner, dass die österreichische Zeitung Die Krone die Rückkehr zur ehemaligen Rechtschreibung fordert. Andreas Platthaus ist sich sicher, dass uns die Olympischen Spiele unvergessliche Momente bescheren werden. Gina Thomas meldet, dass der Scotsman auf Tabloid-Format umstellt.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rossmann, dass der NRW-Kulturminister Michael Vesper gegen die von der Welterbekommission der Unesco kritisierte Hochhausplanung der Stadt Köln vorgeht, indem er eine Arbeitsgruppe gründet. Und Paul Ingendaay porträtiert den Architekten Boris Micka, dessen Firma GDP ganz Spanien mit Museen vollstellt.

Besprochen werden Alexander Sokurows Film "Vater und Sohn" (der Nach Andreas Kilb "in pompösen Andeutungen" stecken bleibt), eine Mona-Hatoum-Ausstellung im Kunstmuseum Bonn und Sachbücher, darunter Norbert Schneiders "Geschichte der Genremalerei".

Welt, 13.08.2004

Elmar Krekeler unterhält sich mit dem Gewinner des Bachmann-Preises Uwe Tellkamp, der unter anderem die ganz andere Lebenserfahrung der DDR beschwört: "Viele machen sich die prinzipielle Fremdheit der Lebenserfahrungen von Ost und West immer noch nicht klar. Das macht sich an kleinen Dingen fest, über die ich dann immer ganz erstaunt bin. Die Notiz 'Wehrdienst als Panzerkommandant in der NVA' in der Klagenfurter Kurzbiografie zum Beispiel. Viele im Westen lesen das, als wolle ich das als Leistung herausstreichen. Denen im Osten ist sofort klar, dass es keine Leistung, sondern ein Stigma ist. Ich bin weder Militarist, noch stolz darauf, auf diesem Bock gesessen zu haben. Das war alles andere als eine freiwillige Entscheidung."

TAZ, 13.08.2004

Nö, außer Feuilleton ist heute nichts - jedenfalls nichts Zwingendes. Im Kulturteil empfiehlt Marcus Woeller "kühlen Kopf bewahren und durch" - und meint damit die Edward Hopper- Retrospektive in der Tate Modern. Denn: "Hopper lässt sich nur ebenso wenig wie seine Bildprotagonisten aus der Reserve locken. Und das ist die Grundidee aller coolen Strategien."

Ansonsten erklärt und propagiert Arno Frank "die Rückkehr des Progrocks" (vielen Dank auch - dessen Geburt und/oder Ankunft hatten wir glatt verpasst). Bert Rebhandl erinnert an John Cassavetes' Debüt "Shadows" (1959), das sich "am Jazz und dem Improvisationstheater" orientierte. Und Dirk Knipphals bringt in der Kursbuch-Waisenkind-Elternsuch-Serie heute den Wallstein-Verlag ins Spiel.

Und hier Tom.

FR, 13.08.2004

In Nicholson Bakers Roman "Checkpoint" plant ein junger Mann, Jay, den Präsidenten zu ermorden. Das Buch hat in den USA eine erregte Debatte ausgelöst, berichtet Sebastian Moll. Bakers Romane - wie etwa der 1992 erschiene Roman "Vox" - seien immer auch autobiografisch gewesen, doch zu Jay hält der Schrifsteller nach Ansicht vieler Kritiker nicht genug Distanz: "Waren der Telefonsex-Dialog in 'Vox' zu witzig und die Dialogpartner zu komplex, als dass man das Werk zur Pornografie hätte zählen können, schreibt etwa Timothy Noah im Online-Magazin Slate, so sei 'Checkpoint' zu direkt und zu persönlich, als dass man es für Kunst halten darf. 'Checkpoint', so Noah, sei der wirkliche Porno, hier werde alles entblößt: 'Das Werk ist pornografisch, weil es den krudesten Vorurteilen seiner Leser zuspielt. Der lüsterne Dialog zwischen Ben und Jay über etwas, das moralisch falsch ist, übertüncht dabei ihre völlige Übereinstimmung über die Schlechtigkeit der Bush-Regierung. Es gibt keine Diskussion. Da war das Masturbieren in 'Vox' noch wesentlich erhebender.'"

Gabriele Hoffmann berichtet, dass bei der Esslinger Fototriennale in der Villa Merkel auf Fotografien oft verzichtet wird. "Man schöpft aus einem eigenen Fundus von reproduzierten Bildern oder bedient sich in letzter Konsequenz einer negierten Autorschaft bei Bildagenturen, deren Stock-Fotos sich dadurch auszeichnen, das sie in unterschiedlichsten Kontexten verwendbar sind."

Weitere Artikel: In einem ausführlichen Nachruf würdigt Ulrich Speck den Historiker Wolfgang J. Mommsen als "eminent politischen Historiker". Dann viel Berlin: Oliver Tepel empfiehlt die DVD "Berlin digital" über die Berliner Elektronikszene als "beispielhalfte Kulturdokumentation". Ulrich Clewing diskutiert das Für und Wider der Pläne für eine Rekonstruktion von Schinkels Bauakademie, die ein Architekturzentrum beherbergen soll, und Dirk Fuhrig informiert über letzte Aktivitäten im Palast der Republik vor seinem Abriss. Udo Feist stellt schließlich anlässlich eines Konzerts bei der Essener RuhrTriennale die Musik des amerikanischen Sängers Vic Chesnutt vor. Und in Times mager kommentiert K. Erik Franzen die Münchner Posse um einen goldenen Wohnwagen, den der Performancekünstler Wolfgang Flatz behördenwidrig in einer Kastanie untergebracht hatte.

NZZ, 13.08.2004

Auf der Medien- und Informatikseite beschreibt Alexander Schrepfer-Proskurjakov in einem interessanten, mit Informationen und Zahlen gespickten Artikel den Internet-Boom in Russland, der von der Regierung nach Kräften gefördert wird: "Die Moskauer User sind besonders verwöhnt. Bald werden ihnen an zahlreichen Stellen der Stadt Internet-Automaten zugänglich sein. Kürzlich wurde im Hotel 'Zentrales Haus der Touristen' am Leninski-Prospekt der erste Automat vorgestellt, an dem die Benutzer für bescheidene zwölf Rubel fünf Minuten lang E-Mails verschicken können. Inwieweit die russischen Regionen - besonders klimatisch schwierige und abgelegene Gebiete Sibiriens, des Fernen Ostens und des russischen Südens - zu einem Anschluss ans Informationszeitalter fähig sind, bleibt offen. Gewisse Parallelen zu Indien sind zu beobachten. So plant die indische Regierung in jedem der 600.000 Dörfer des Subkontinents einen öffentlichen Internet-Zugang zu installieren."

Im Feuilleton sucht Margarita Sanoudo architektonische Akzente im Stadtbild Athens und findet drei "enblematische Orte". Christoph Jahr schreibt den Nachruf auf den verstorbenen Wolfgang J. Mommsen. Besprochen werden die Ausstellung "Sehnsucht nach dem Paradies" in der Kunsthalle Krems, eine Schau mit Werken von Felicien Rops in dem ihm gewidmeten Museum in Namur sowie eine Monografie über das Gebäude des Bundesverfassungsgerichts.

Auf der Filmseite resümiert Martin Girod die Retrospektive "Newsfront" beim Filmfestival in Locarno. Besprochen werden der Film "King Arthur", Michael Moores Anti-Bush-Film "Fahrenheit 9/11" und die Dokumentation "Damen und Herren ab 65" über eine Tanztheater-Inszenierung, die Pina Bausch-Tänzerinnen mit einer betagten Laiengruppe erarbeitete.

Berliner Zeitung, 13.08.2004

In der Berliner Zeitung plädiert der Typograph und Schriftsteller Martin Z. Schröder für die gemäßigte Kleinschreibung: "Wenn wir einmal eine beliebige deutsche buchseite neben eine englische oder französische legen, wird die unregelmäßigkeit des textgewebes auffallen. Während die fremdsprachigen textzeilen gleichmäßige bänder bilden, die nur gelegentlich durch schmückende großbuchstaben unterbrochen werden, wirken die deutschen zeilen knotig durch häufung der großbuchstaben."
Stichwörter: Schröder, Martin Z, Schmuck

SZ, 13.08.2004

Dirk Peitz unternimmt einen "letzten Versuch", die "gern geschmähte" Sängerin Anastacia zu verstehen. Dabei fand er die Formel "Krankheit als Weg". "Die ikonische Figur der im Leid über sich selbst hinauswachsenden, gegen ihr Schicksal ankämpfenden Frau wurde durch Anastacia in eine moderne popkulturelle Form überführt. Nur der ursprüngliche Auslöser für das Leid ist nun ein anderer, nicht der schlagende Ehemann, sondern die Hinfälligkeit des eigenen Körpers."

Weitere Artikel: Ulrich Raulff schreibt in seinem Nachruf auf den Historiker Wolfgang Mommsen: "Die Politik war sein Milieu und die Luft, in der er atmete." Gottfried Knapp besichtigt den Athener Olympiapark des spanischen Architekten Santiago Calatrava. Petra Steinberger berichtet über die Wiederbelebung eines alten Komitees durch amerikanische Neokonservative, das" Committee on the Present Danger". Die Historikerin Claudia Brosseder, die die Kolonialgeschichte Perus aufarbeiten will, schildert ihre Erfahrungen beim Stöbern in südamerikanischen Archiven. Der ARD-Korrespondent in Warschau, Peter Bender, kommentiert das derzeitige deutsch-polnische Verhältnis. Hans-Jörg Heims informiert über die Bildung einer Arbeitsgruppe zur Rettung des Kölner Doms als Weltkulturerbe. Gemeldet wird schließlich, dass die Kunstbiennale 2005 in Venedig von zwei Spanierinnen geleitet wird; außerdem, dass die Stadt Denver ein Museum für den Abstrakten Expressionisten Clyfford Still bauen will.

Besprochen werden Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe" als Gastspiel aus Barcelona beim "Young Directors Project" in Salzburg, eine Berliner Ausstellung über Robert Mapplethorpe und den Manierismus in Berlin, Ulli Lommels Film "Daniel - Der Zauberer" mit Daniel Küblböck, eine Ausstellung der "Designvisionen" von Luigi Colani im Wittelsbacher Schloss Friedberg und Bücher, darunter eine Studie über "Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität", Schnitzlers Urfassung des "Reigen", Band IV der Hesse-Gesamtausgabe mit Rezensionen und Aufsätzen, eine Untersuchung über Religionen im vereinten Europa, ein Band zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Südostforschung und eine bisher nur in Englisch vorliegende Studie über den deutschen Imperialisten Carl Peters (1856-1918). (Siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)