Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2004. Zwei Themen dominieren die Feuilletons, die Flick-Sammlung und der Historikertag. Die FR zeichnet nach, wie die Flick-Sammlung nach Berlin gelangte. Die SZ bringt ein differenziertes Porträt des Sammlers. Der Historikertag wird mehr oder weniger als gelungene Veranstaltung ad acta gelegt: Es sei den Historikern gelungen, sich dem breiten Publikum zu öffnen, bemerkt die NZZ. In der FAZ gibt es kritische Worte zum Film "Der Untergang".

FR, 20.09.2004

Die Seite 2 der FR beschäftigt sich ausführlich mit der morgen eröffnende Präsentation der Friedrich Christian Flick Collection in Berlin. Christoph Seils zeichnet nach, wie die umstrittene Sammlung nach Berlin gelangte und sich Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und Friedrich Christian Flick "schon bei ihrem ersten Gespräch am Rande einer VIP-Party in Berlin im November 2001 einig" gewesen seien: "Das gibt Zoff." Der, so Seils, allerdings reichlich spät komme. Er stellt fest, was er in seinem Artikel dann auch zu entwirren versucht: "Wer die Frage beantworten will, warum in Berlin gelang, was in Zürich scheiterte, warum sich die Hauptstadt gegen ihre Konkurrenten durchsetzte, der muss sich mit der Monate andauernden stillen Diplomatie beschäftigen, die die entscheidenden Weichen stellte." Ulrich Clewing warnt in seinem Beitrag davor, öffentliche Kunstsammlungen durch private Schauen zu esetzen. Ergänzt wird die Seite um einen Hintergrundbericht zur aktuellen Flick-Debatte, ein Porträt des Sammlers und eine Analyse des "grünen Drucks" in Sachen Zwangsarbeiterentschädigung.

Im Feuilleton konstatiert Ulrich Clewing nach einem Rundgang durch das Art Forum in Berlin, dass die Messe die Kurve vor dem endgültigen "Abstieg ins Regionale" gerade noch "gekratzt" habe. Arne Karsten resümiert den 45. deutschen Historikertag in Kiel: "Die Öffnung des Faches für das größere Publikum, sie ist das Gebot der Stunde. Auf der exzellent organisierten Kieler Tagung zeigten sich zumindest Ansätze dazu, und das stimmt optimistisch." In Times mager grübelt Gunnar Lützow über die "Longlist" des britischen Booker Prize. Auf den Medienseiten wird eine Reihe mit Filmen von Dominik Graf angekündigt.

Besprochen werden Gerhard Schweizers Reise durch indische Großstädte "Metropole, Moloch, Mythos" und zwei Studien zur sexuellen Gewalt durch SS und Wehrmacht (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 20.09.2004

Alexander Golts, laut Welt der "führende Militäranalyst in Russland und stellvertretender Chefredakteur des Magazins Eschenedelni Journal, erklärt im Forum, warum das russische Militär unfähig ist, den Terrorismus zu bekämpfen: "Um den heutigen Bedrohungen gerecht zu werden, müssen die Truppen in der Lage sein, individuell Verantwortung zu tragen und Initiative zu ergreifen. Diese Qualitäten gibt es in den sowjetisierten russischen Militärorganisationen mit ihren starren Hierarchien und ihrer Kultur der blinden Konformität nicht. Die gesamte Militärphilosophie in Russland muss geändert werden. Aber weder der russische Präsident noch seine Machtministerien scheinen dafür bereit zu sein. Anstatt dem neuen und sehr realen Feind die Stirn zu bieten, tritt man lieber dem alten, traditionellen Feind - dem Westen - entgegen. Nach der Tragödie von Beslan bot Putin eine exotische Erklärung des Terrorismus: Die Terroristen, so behauptete er, sind Instrumente in den Händen derer, die Russland immer noch als Atommacht fürchten. Das ist Unsinn auf Stelzen, obwohl er offensichtlich die Generäle in den Machtministerien erfreut, denn der einzige Krieg, den sie zu führen wissen, ist der gegen den 'Weltimperialismus'. Sie sind unbrauchbar im Kampf gegen den neuen terroristischen Feind von heute."
Stichwörter: Beslan, Russland

TAZ, 20.09.2004

Im Kulturaufmacher kommentiert Jürgen Busche das derzeitige Alexander-von-Humboldt-Revival. Ausgehend von der Eingangsthese, dass es "an der Zeit zu sein" scheine, "den guten Deutschen zu finden", stellt er abschließend fest: "Enzensberger hatte vor mehr als 30 Jahren zum Entsetzen der Bildungsbürger Schillers 'Glocke' dem Vergessen überantworten wollen. Heute tritt er mit seinem Humboldt-Projekt hervor. Zumindest theatralisch hat solcher Wettkampf seine Schärfe verloren. Beide - was immer zwischen ihnen gewesen sein mag vor mehr als 200 Jahren - werden jetzt als gute Deutsche einem verzagten Volk präsentiert. Man hat so wenige davon. Man kann keinen entbehren."

Weiteres: Auf den Tagesthemenseiten porträtiert Henrike Thomsen Aga Khan, der als "Ausnahmeerscheinung unter den muslimischen Führern" versuche, in Afghanistan "Intellektuelle in seinem Geiste zu erziehen". Ralph Bollmann besuchte der 45. deutschen Historikertag in Kiel und konstatiert einen "Aufbruch aus der Provinz des Historikers in die Welt der Geschichte". Hortense Pisano bespricht die Yves-Klein-Retrospekive in der Frankfurter Schirn.

Und hier Tom.

SZ, 20.09.2004

Die SZ beginnt heute mit einer Serie über die wichtigsten Sammler von Gegenwartskunst in Deutschland, in der, wie Holger Liebs im Editorial schreibt, deren "Strategien und Obsessionen" untersucht werden sollen. Vorerst hält er fest: "Die Gefahr wächst, dass in vielen Museen Arbeiten der immergleichen Künstler, immer aber aus anderer privater Hand zu sehen sind."

Den Auftakt macht Liebs dann mit einem differenzierten Porträt von Friedrich Christian Flick, dessen umstrittene Sammlung ab morgen im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen sein wird. Liebs schreibt: "Flick hätte es sich einfach machen können. Er hätte in den (Zwangsarbeiter)Fonds einzahlen können, wie seine Geschwister. Dazu ist es nun zu spät. Ist es Sturheit? Treue zu sich selbst, das Pathos des Unbeirrten? ... Vielleicht verstehen wir Flick, den Enkel, besser, wenn wir Flick, den Sammler, kennen." Dessen Wunsch, seine Kunst immer von der Familiengeschichte getrennt betrachten zu wollen, sei, so Liebs abschließend, "ein Blick nach vorn, der fast zwangsläufig in den Rückspiegel der Geschichte fällt".

Weiteres: Stefan Koldehoff durchleuchtet das krisengebeutelte "Sonnenkönigreich" der Berliner Museumslandschaft und dessen Zentralgestirn, den Generaldirektor der Museen Preußischer Kulturbesitz Peter-Klaus Schuster. Unter der wunderbaren Überschrift "Versace für die Ohren" porträtiert Joachim Hentschel die britische Rockband Duran Duran, die derzeit an einem Comeback arbeitet. Jeanne Rubner erklärt, weshalb Hochschulfusionen nicht automatisch gewinnbringend sind. Anke Sterneborg zieht Bilanz nach einem Jahr Deutsche Filmakademie. Ulrich Raulff gratuliert dem Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert zum 80. Geburtstag und würdigt ihn als "Glücksfall der Gelehrtenrepublik" und frei von jeder "präsidialen Attitüde". Ein kurzer Geburtstagsgruß geht außerdem an Sophia Loren, die heute siebzig wird.

Besprochen werden Katharina Thalbachs Inszenierung von Richard Strauss' "Salome" an der Kölner Oper, M.X. Oxbergs Film "Stratosphere Girl" und Bücher, darunter Toni Morrisons neuer Roman "Liebe", eine Wiederauflage von Leo Perutz? historischem Krisgsroman "Der Marques von Bolibar", eine Neuausgabe von Ciceros "Gesprächen in Tusculum", eine Geschichte der Türkenkriege, ein Sammelband zum Verhältnis von Medien und Politik, eine Studie über das prekäre Dreiecksverhältnis der deutsch-deutsch-französischen Beziehungen und eine "gewagte Parallelsetzung" von Kolonialismus mit der NS-Barbarei (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 20.09.2004

Christoph Jahr resümiert den 45. Deutschen Historikertag in Kiel: "Die deutsche Geschichtswissenschaft, das wurde in Kiel deutlich, hat sich in den letzten Jahren sowohl thematisch als auch methodisch geöffnet und einen weiteren Horizont gewonnen. Die Auswahlkriterien für die Sektionen waren jedoch nicht immer so transparent wie die offiziellen Tragtaschen. Der deutsche Kolonialkrieg im heutigen Namibia vor einhundert Jahren beispielsweise fand keinen Raum. Auch konnte man sich nicht immer des Eindrucks erwehren, dass unter dem neuen Etikett oft alte Inhalte verborgen wurden. Hätte man den vielfach beschworenen Kommunikationsraum früher nicht einfach 'Öffentlichkeit' genannt? Dennoch war es erfreulich, dass in Kiel neue Elemente wie das Doktorandenforum und Vorträge für Schüler ausprobiert wurden."

Weitere Artikel: Roman Bucheli berichtet über eine Londoner Tagung zu Uwe Johnson. Roman Hollenstein sieht die Architekturbiennale in Venedig im Zeichen der skulpturalen Architektur stehen. Hubertus Adam stellt die japanische Baukunst auf der Architekturbiennale vor. Und Peter Hagmann zieht ein rundum positives Resümee der Lucerne Festival Academy mit Pierre Boulez: "Am Schluss, im voll besetzten Konzertsaal des KKL, gab es Jubel und Bravo ohne Ende; auf der einen Seite Pierre Boulez, glücklich inmitten der 120 Stipendiaten der Lucerne Festival Academy, auf der anderen das Publikum, das sich von seinen Sitzen erhoben hatte."

Besprochen wird die Aufführung von Dani Levys Theaterstück "Freie Sicht aufs Mittelmeer" in Basel, die letzten Luzerner Sinfoniekonzerte, Händels "Giulio Cesare" in Bern und eine "geballte Ladung Beethoven" zum Saisonstart des Tonhalle-Orchesters Zürich.

FAZ, 20.09.2004

Gleich zwei Artikel befassen sich ausführlich mit dem deutschen Historikertag. Rainer Blasius prangert im Leitartikel auf Seite 1 das gerontokratische System der Beiräte von Stiftungen und Institutionen an, in dem Großhistoriker über den Gang der Dinge in ihrem Sinne wachen, "wohlausgestattet mit Druckmitteln wie Geldhahn und Vetorecht." Blasius wagt auch einige kritische Worte über das "angebliche geschichtspolitische Großereignis" des Films "Der Unterang" und zitiert Seherisches von Goebbels aus dem Bunker: "Meine Herren, in hundert Jahren wird man einen schönen Farbfilm über die schrecklichen Tage zeigen, die wir durchleben. Möchten Sie nicht in diesem Film eine Rolle spielen?"

Den zweiten Artikel zum Historiker schreibt Patrick Bahners, der die Veranstaltung als Tag der jungen Historiker wahrnahm: "Es fragte und antwortete die Generation der frisch oder demnächst Habilitierten." Und den zweiten Artikel mit einer kritischen Anmerkung zum Film "Der Untergang" finden wir auf der letzten Seite des Feuilletons. Der Medizinhistoriker Christoph Kopke vergleicht Darstellung im Film und Wirklichkeit des Arztes Günther Schenk und kommt zu dem Schluss: "Die filmische Darstellung der historischen Person Ernst Günther Schenck als ein verantwortungsethischer Außenseiter im Führer-Bunker - ähnliches geschieht mit der Figur Albert Speer - reproduziert im Grunde eine selbstgestrickte, vielleicht subjektiv geglaubte, aber historisch nicht haltbare Nachkriegslegende."

Weitere Artikel: Hans-Dieter Seidel gratuliert Sophia Loren zum Siebzigsten. Paul Ingendaay bereitet uns in der Leitglosse auf die spanischen Cervantesferiern im nächsten Jahr zum 400. Jahrestag des Erscheinens von "Don Quijote" vor. Der Sammler Heinz Berggruen schickt der Berliner Moma-Ausstellung ein ein euphorisches "Moma mia" hinterher. Der Althistoriker Christian Meier beklagt den Bürokratismus, mit dem die neue Rechtschreibung durchgesetzt worden sei. Joseph Croitoru resümiert einige Reflexionen arabischer Intellektueller zum 11. September in der Zeitschrift Al-Hayat und konstatiert eine wachsende Kluft zwischen irakischen Intellektuellen, die sich wesentlich offener und schärfer äußern (wie Najem Wali neulich in der NZZ) und dem Rest der arabischen Intellektuellen. Friedmar Apel gratuliert dem Germanisten und Hochschulpolitiker Eberhard Lämmert zum Achtzigsten. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, die sich kritisch mit dem amerikanischen Irak-Krieg auseinandersetzen

Auf der Medienseite interviewt Marcus Theurer den 31-jährigen Pro 7-Chef Dejan Jocic. Und Jürg Altwegg berichtet über einen scharfen Konflikt zwischen den Journalisten des Figaro und dem besitzenden Rüstungsindustriellen Serge Dassault, der Recherchen über Waffenverkäufe und ähnliche Interessen der "nationalen Industrie" frech zensiert.

Auf der letzen Seite Andreas Rossmann von der deutschen Erstaufführung eines Theaterstücks von Karel Woityla in Bonn. Und Martin Kämpchen porträtiert den 89-jährigen indischen Maler Maqbool Fida Husain (Bilder), dem von einem Millionär für einen großformatigen Zyklus 20 Millionen Dollar in Aussicht gestellt wurden.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Christoph Heins Roman "Landnahme" in Dresden, Lloyd Webbers neues Musical "Woman in White" in London, Sartres "Geschlossene Gesellschaft" in Frankfurt, Dufay-Bearbeitungen der Komponistin Isabel Mundry in Frankfurt und Sachbücher.