Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2005. In der NZZ lesen wir eine Reportage von Charles Simic, der durch die amerikanischen Südstaaten reiste. Die taz freut sich über das neue Kunstmuseum in Stuttgart. Die FR ärgert sich über die Empörungsrituale des deutschen Feuilletons. Die FAZ staunt über die Drastik, mit der die Renaissancemaler "Mannes Lust und Weibes Macht" darstellten.

NZZ, 07.03.2005

Die NZZ druckt die inzwischen legendäre Reportage des amerikanischen Schriftstellers Charles Simic aus dem amerikanischen Süden, in der nichts vom alten Tara-Charme übrigbleibt. in einer Reportage von seiner Reise durch den amerikanischen Süden, durch Mississippi, Alabama und Georgia - und ist entsetzt. "Die schockierende Armut von Städten wie Jonestown in Mississippi lässt einen den Mund offenstehen. Verwitterte, eingesackte Häuser ohne Anstrich, vernagelte Fenster und andere, die mit Plastic geflickt sind, überall Höfe mit rostigen Autowracks, deren Teile verstreut herumliegen inmitten aller Arten von anderem Schrott und Gerümpel. Unbeschäftigte Leute jeglichen Alters lungern herum auf verfallenen Veranden oder stehen an Straßenecken und warten darauf, dass etwas zu tun wäre. Auf dem Land mit seinem fruchtbaren fetten Boden werden heute hauptsächlich Sojabohnen angebaut, Geflügelfarmen sind ein wichtiges Geschäft, und im nächsten Landkreis gibt es neun Spielkasinos. All dies hat das Pro-Kopf-Einkommen erhöht, aber davon war nichts zu bemerken bei den Schwarzen, die ich sah." Übrigens: "Man hatte mir gesagt: 'Je schmuddeliger die Stadt, desto besser sind dort Musik und Spareribs, verlass dich drauf.' Leider stimmt dies nicht. Die meisten armen Leute essen meist armselig zubereitetes Essen, und die besseren Musiker zieht es in Städte, wo die Zuhörer Geld haben."

Uwe Stolzmann hat außerdem das angeblich "letzte Stückchen Wildnis in Europa" bereist: den finnischen Teil Lapplands. Dort kann man die Sami, Europas sozusagen, besuchen: "Sie können die Rentiere füttern, dann gehen wir Lasso werfen, und nachher gehen wir zu dem Lappenzelt Kota, Kaffee trinken und Joiks singen. Ein Crash-Kurs in Sami-Kultur, zwanzig Franken, um Vorkasse wird gebeten."

Besprochen werden ein Konzert der Pianistin Helen Grimaud in der Tonhalle Zürich ("Fingerfertigkeit in Ehren, aber für dies Stück braucht es Waghalsigkeit, ja Todesmut", meint Peter Hagmann zu ihrer zweiten Rachmaninow-Sonate), die Schau "Blumenmythos" in der Fondation Beyerle in Riehen, eine Ausstellung zum Architekten Erich Schelling in Schweinfurt und die Uraufführung von Lukas Bärfuss' neuem Stück "Alices Reise in die Schweiz" in Basel.

TAZ, 07.03.2005

"Stuttgart ist schön" ruft Ira Mazzoni staunend und vor Begeisterung über das Neue Kunstmuseum der Stadt, das große "Würfele" der Architekten Hascher und Jehle. "So hat man die Stadt noch nie gesehen wie von den Umgängen des gläsernen Kubus. Je höher man kommt, desto fantastischer das Panorama. Mit dem Dachrestaurant auf dem Kunstwürfel hat Stuttgart einen mondänen Stadtbalkon erhalten. Einen, der den Namen verdient. Der alte war nur ein Betondeckel über dem fünfteiligen Tunnelmurks autogerechter Stadtplaner, die 1963 das klassizistische Kronprinzenpalais und die schöne doppelreihige Allee der Planie opferten."

Michael Rutschky entlarvt die Vorstellung vom Ökosystem, also von einem autonomen, sich selbst repoduzierenden System, dessen Feinde von außen kommen, als urdeutsches Phantasma, das sich trotz - oder vielleicht wegen - seines totalen Chrakaters erstaunlich lange hält.

Anne Kraume hat im Literarischen Colloquium Berlin erfahren, dass jetzt auch in der Literatur der Trend zum Kind geht.

Und Tom.

FR, 07.03.2005

In einem Nachwort zu Rolf Hochhuth kommentiert Richard Wagner die "Empörungsrituale" des deutschen Feuilletons. Aber "interessant sind nicht die plumpen Provokationen, interessant ist das Ambivalente, das gelegentlich zutage tritt (...) Man möchte zwar nicht Tag und Nacht stolz darauf sein, dass man Deutscher ist, aber man will sich das Gefühl auch nicht weiter verbieten lassen. Man ist sich des Verbrechens an den Juden bewusst, aber man möchte nicht in alle Ewigkeit daran erinnert werden. Man weiß um die Kriegstreiberei der Nazis, aber man will nicht andauernd unter Generalverdacht stehen. Man möchte auch die eigenen Opfer beklagen dürfen, schließlich ist Deutschland durch den Krieg zerstört worden."

Auf der Medienseite stellt Katrin Hildebrand das neukonzeptionierte Deutschlandradio als "akustischen Perlentaucher" vor. Das Magazinformat soll aufgebrochen werden und eine Folge von Stunden entstehen, "die sich in der Form - nicht aber im Inhalt - gleichen". Ob die Reform allerdings nicht nur eine verbrämte Sparmaßnahme ist, weiß Hildebrand auch nicht.

Ernst Piper erinnert an die Kämpfe um die Rheinbrücke bei Remagen vor sechzig Jahren. Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Botho Strauß' "Groß und klein" an der Berliner Volksbühne und Yasmina Rezas deutsche Premiere von "Spanisches Stück" unter der Regie von Beat Fäh in Wiesbaden.

FAZ, 07.03.2005

Überrascht von der Drastik, mit der die Renaissancemaler Sexualität dargestellt haben, schlendert Jürgen Müller durch die Ausstellung "Mannes Lust und Weibes Macht" im Kupferstichkabinett Dresden: "Sinnigerweise beginnt die Ausstellung mit der Sünde und zeigt eine ganze Reihe von Darstellungen, die uns aus christlicher Perspektive deutlich machen, daß Sexualität und Scham gleichzeitig in die Welt gekommen sind. Das schönste Blatt in diesem Zusammenhang stammt von Hans Baldung Grien, dessen Eva es nicht dabei bewenden lässt, Adam zu verführen - nein, ungeniert nimmt sie auch noch mit dem Betrachter Blickkontakt auf."

Weitere Artikel: Frank Schirrmacher diskutiert einen 1979 in der Zeit erschienenen Artikel von Wolf-Rainer Leenen und Albrecht Müller, die damals die Vorstellung einer demographischen Katastrophe weit von sich wiesen. Mark Siemons schildert die Schillerfeier in der Berliner Akademie der Künste. Jürg Altwegg wirft einen Blick in französische Zeitungen. Achim Heidenreich stellt das Programm des Deutschen Musikrats vor.

Auf der Mediensteite porträtiert Henning Ritter den Feuilletonchef der NZZ, Martin Meyer, der heute in Zürich den Europäischen Essaypreis Charles Veillon 2004 überreicht bekommt. Dirk Schümer schildert Italiens Reaktionen auf die Befreiung der Giuliana Sgrena. Auf der letzten Seite berichtet Arnold Bartetzky vom wachsenden Widerstand der Leipziger gegen eine "zerstörerische Baupolitik". Hans-Joachim Müller porträtiert Marion Ackermann, die Leiterin des Kunstmuseums Stuttgart. Und Eleonore Büning zerfließt beim Gedanken an die konzertante Aufführung eines "Parsifals" mit der Berliner Staatskapelle in einem Tsunami-Benefiz: "Weiche, süß aus dem Pianissimo erwachende Streicher, prächtige Bläserformationen, ein Klarinettensolo, das Schnee schmelzen kann."

Besprochen werden Yasmina Rezas "Spanisches Stück" in Wiesbaden, Farah Khans Film "Main Hoon Na", Frank Castorfs Inszenierung des Botho-Strauß-Stücks "Groß und Klein" in Berlin und Arbeiten belgischer Nachwuchschoreografen, die gerade auf Tournee durch Europa sind.

SZ, 07.03.2005

Die Berliner Akademie der Künste ist der SZ die erste Seite des Feuilletons wert. Gerhard Matzig freut sich über den frischen Wind, für den der Neubau von Günter Behnisch (mehr) am Pariser Platz sorgt. "Vor allem das Hotel Adlon wirkt mitsamt seinem naiv historisierenden Vokabular, als habe man es aus dem Playmobil-Bausatz 'Berliner Republik' zusammengeschraubt." Die Akademie dagegen sei "wohltuend transparent". Der Schriftsteller David Wagner war in der 24-stündigen Schiller-Lesung vor Ort und hat sich vor allem das Publikum angesehen. "Schillerinteressierte tragen gedeckte Farben, weiße Haare und Plastiktüten der Bundeskulturstiftung. Und nun, nach dem frühen Abendessen zu Maria Stuart: Nina Hoss und Corinna Harfouch rezitieren. Maria Stuart dauert nur noch sechs Minuten, geht also noch schneller vorbei als in einer Inszenierung von Michael Thalheimer."

Der MDR sendet an der Realität vorbei, behauptet Jana Hensel in ihrem Generalangriff auf die Landesanstalt auf der Medienseite. "So deklariert man entweder den starken Osten oder ruft entsetzt 'Um Gottes Willen, was tut man uns da schon wieder an', als dürfe man seit drei Tagen mit einem halben Auge über die noch stehende Mauer spähen. Das entbehrt jeglicher Realität. Ganz zu schweigen, dass es längst einen spezifischen Katalog ostdeutscher Nachwendeerfahrung, mithin eine in fünfzehn Jahren überformte Identität gibt. Der MDR ignoriert das."

Weitere Artikel: Henning Klüver hat auf dem World Political Forum, das von Michail Gorbatschow gegründet wurde und diesmal im schönen Turin stattfand, Begegnungen der merkwürdigsten Art erlebt. Frank Arnold unterhält sich schnell mit dem österreichischen Kabarettisten Josef Hader über dessen Film "Silentium". Auf der Literaturseite redet Roswitha Budeus-Budde mit Johannes Hauenstein vom Ravensburger Buchverlag.

Besprochen werden Christian von Treskows Inszenierung von Alfred Kantorowicz' Drama "Erlangen", Frank Castorfs Version von Botho Strauß' Szenenfolge 'Groß und klein' an der Berliner Volksbühne, Santiago Sierras "Haus im Schlamm" in Hannover ("Im Indoor-Moor selbst verlaufen dunkel knatschige Canyons zwischen den Matschmassen, die sich effektvoll an die weißen Galeriewände schmiegen", meint Jörg Heiser), eine Ausstellung mit bundesrepublikanisch ausgezeichneten Designobjekten im Neuen Museum Nürnberg, das neue Album "Witkiewicz" von Katja Epstein, und Bücher, darunter der von Chris Boot herausgegebene Fotoband "Magnum Stories", Christian Delacampagnes "seltsame" "Geschichte des Rassismus" sowie eine Wolfgang Petritsch' und Robert Pichlers Geschichte des Friedensprozesses im Kosovo (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 07.03.2005

Rüdiger Schaper befasst sich mit den jüngsten Krächen an der Berliner Volksbühne, die sich allmählich zur veritablen Krise auswachsen: "Castorf sucht starke Regisseure wie verrückt. Er findet sie nur nicht. Früher hat das glänzend funktioniert, mit Marthaler, Kresnik, Schlingensief. Der hat kürzlich, allerdings mit eigenen Leuten, an der Volksbühne einen sozialmedizinischen "Kunst und Gemüse"-Abend angerichtet; und ist prompt zum Theatertreffen eingeladen. Damit aber lässt sich kein Spielplan auffüllen. Auch nicht mit Rene Polleschs seriellen Sprechoperetten im Prater. Pollesch ist eine Kerze, die an zwei Enden brennt. Castorf schaut dabei zu. Ist er selbst auch ausgebrannt? Kann sein, was nicht sein darf?"

Berliner Zeitung, 07.03.2005

Alle schreiben von der Krise an der Berliner Volksbühne, nur Ulrich Seidler nicht: "Castorf selbst hat diese Krise immer gesehen und auch gesucht: Im mutigen Spiel damit besteht ein großer Teil seiner Meisterschaft. Die gezielte Erfolgsverweigerung gehörte stets mit zum Erfolgsrezept. Das Publikum wuchs an den Zumutungen, denen es ausgeliefert wurde. Das vollzog sich dermaßen gesetzmäßig, dass der Fürst des Volkes überdrüssig wurde und er auszog, sich ein zweites zuzulegen - doch er ging genau dorthin, wo es ein solches für ihn nicht gibt: Castorfs Ausflug als künstlerischer Leiter der Arbeiterfestspiele in Recklinghausen war nichts anderes als die Suche nach einer Möglichkeit, dem sicheren Erfolg, der klebrigen, scheinbar unbedingten Liebe des hippen, kreativen, bürgerlichen Volksbühnenpublikums zumindest einstweilen zu entkommen, um sich von einer proletarischen Klientel zur Brust nehmen zu lassen."
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