Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2006. Die Woche fängt hart an: Welt und FAZ versuchen zu ergründen, wie islamisch der Mord an der Berlinerin Hatun Sürücü war. Für die taz besucht Gabriele Goettle eine Leipziger Rechtsmedizinerin, die an einer Studie über tödliche Kindesmisshandlung arbeitet. Die NZZ besucht eine Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus in Rumänien. In der SZ schaudert es Navid Kermani vor den unappetitlichen Mitteln, mit denen der Iran auf einen Militärschlag reagieren könnte.

TAZ, 24.04.2006

Alles Gabriele Goettle heute im Kulturteil. Diesmal hat sie eine Rechtsmedizinerin in Leipzig besucht, Ulrike Böhm, die mit einem kleinen Team an einer Studie über "Tödliche Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung in der BRD vom 3. Oktober 1990 bis 31 Dezember 1999" arbeitet. "Es ist ja ein ganz einzigartiges Projekt. Hier in Deutschland hat es so eine Erhebung noch nie gegeben, wie viele Kinder tatsächlich von ihren Eltern totgeprügelt oder vernachlässigt wurden. Also es wurden von den Rechtsmedizinischen Instituten in ganz Deutschland die Fälle von tödlicher Kindesmisshandlung hier gesammelt, die haben uns die Aktenzeichen gemeldet und dann sind wir an die Staatsanwaltschaften herangetreten und haben von denen die Ermittlungsakten bekommen ... Was wir machen wollen, ist ja nicht nur Statistik, wir wollen ja eine epidemiologische Aufarbeitung der Fälle machen, ein Risikoprofil festlegen, in welchen Familien passiert so was, unter welchen Bedingungen usw., damit rechtzeitig Interventionen erfolgen können."

In tazzwei stellt Daniel Bax das zweite Album des Gotan Projects vor. Und Jony Eisenberg macht zwei Fälle von staatlichem Ehrenmord aus.

Schließlich Tom.

Welt, 24.04.2006

Iris Alanyali liest die Bücher von Leyla Erbil ("Eine seltsame Frau") und Feridun Zaimoglu ("Leyla") als Hintergrundfolie für den Fall der von ihrem Bruder ermordeten Berlinerin Hatun Sürücü. Zaimoglu zeige, wie wenig der Islam mit derartigen Tragödien zu tun hat. "Ein Mal nur beruft sich Leylas Vater auf das heilige Buch, und seine haarsträubenden Zitate offenbaren sofort, was von dieser Begründung seiner Herrschaft zu halten ist: 'Der Prügel treibt die Gläubigen ins Paradies, hier steht es geschrieben, der Bolschewist ist ein Feind Gottes... Der Vater ist euer Bollwerk gegen die Bolschewisten!' Seinen eigentlichen Machtanspruch gründet er vielmehr regelmäßig auf sein Mannsein: 'Ihr seid nichts als mein verströmter Samen', brüllt er, und die Töchter sind noch weniger wert, denn da habe der Schoß seines Weibes 'nur die Spreu empfangen und nicht den Samen'."

"Mit leichter Hand und großer Meisterschaft" hat Andreas Kriegenburg Jean-Paul Sartres thesenschweres Stück "Die schmutzigen Hände" im Hamburger Thalia Theater in eine "hinreißende, bewegende Tragikomödie" verwandelt, staunt Stefan Grund. "Die aktuelle Kriegenburgsche Bilanz des Marxismus mit Blick auf Alternativen zur gegenwärtigen Gesellschaftsordnung lautet: Obacht, wir stehen mal wieder direkt vor dem Nichts."

Weiteres: "Erhebt Eure Ärsche!", ruft Regisseur Luc Besson in seinem kurzen Plädoyer für den Kinobesuch. Den Abschiedsgesang von Silvio Berlusconi in einem Triester Restaurant kommentiert Elmar Krekeler.

Im Magazin geht es um Tschernobyl. Gerhard Gnauck trifft den Fotografen Igor Kostin, der 11 Stunden nach der Explosion am 26. April vor Ort war. "Ende 1986 ging es mir sehr schlecht. Die Strahlung höhlt einen aus. Man wird schwach. Ach, lassen Sie uns nicht über meine Gesundheit sprechen. Ich bin Moldawier, wir sind dazu geboren, um zu leben." Michael Miersch lässt den Uno-Nuklear-Experten Burton G. Bennett erklären, dass der Anstieg der Krebsrate in der Region eine Folge der verbesserten Diagnosemöglichkeiten ist.

Besprochen werden die Uraufführung von Luca Lombardis Shakespeare-Oper "Prospero" mit dem "unternehmungslustigen Dirigenten Johannes Fritzsch im Staatstheater Nürnberg, eine Ausstellung über Rabanus Maurus' Buch "De laudibus sanctae crucis" im Mainzer Dommuseum, eine achtteilige Doris-Day-DVD-Box (die "einer von Hollywoods am meisten verkannten Schauspielerinnen" endlich Gerechtigkeit widerfahren lässt, wie Manuel Brug meint) sowie die Doppel-DVD "Selling Democracy - Die Filme des Marshallplans".

NZZ, 24.04.2006

Andreas Saurer hat die Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus im rumänischen Sighet besucht, das von dem Schriftstellerehepaar Ana Blandiana und Romulus Rusan initiiert wurde. "Unterwegs in diesen Verliesen hinter dicken Mauern und ohne Heizung ahnt der Besucher, dass die Kälte allein schon für den Tod gereicht hätte. Für die Häftlinge kamen aber noch die Angst und der Hunger hinzu - jene drei 'F' (frig, frica si foame - Kälte, Angst und Hunger), wie sie in der rumänischen Gefängnisliteratur beschworen werden. In Sighet wurde mit den Funktionsträgern der Zwischenkriegszeit kurzer Prozess gemacht. Unter den Opfern waren Politiker, Intellektuelle, aber auch Geistliche der orthodoxen, der griechisch-katholischen (unierten) und der römisch- katholischen Kirche sowie Bauern. Mit fast an 'Rassenhass' grenzendem Eifer war man hier 'spezialisiert auf die methodische Ausrottung der Alten', schreibt Ruxandra Cesereanu in ihrer grundlegenden mentalitätsgeschichtlichen Studie über den 'Gulag im rumänischen Bewusstsein'."

Weitere Artikel: In einem Schauplatz Costa Rica erzählt Knut Henkel von einem Goldschmuck aus präkolumbischer Zeit. Joachim Güntner berichtet über die Probleme, die die Umnutzung nicht mehr benötigter Kirchen in Deutschland darstellt: Zum Gottesdienst geht man nicht mehr, abgerissen werden sollen sie aber auch nicht. In einem Interview erklärt dazu Matthias Ludwig, Assistent des evangelischen Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg, warum vor allem Kirchen aus den fünfziger und sechziger Jahren vom Abriss bedroht sind. Mau. schreibt zum Tod der Schauspielerin Alida Valli.

Besprochen werden Dominik Molls Film "Lemming" mit Charlotte Rampling und Charlotte Gainsbourg und die Arno-Schmidt-Ausstellung in Marbach.

FR, 24.04.2006

Der einstige Pressesprecher des Goethe-Instituts Bernhard Wittek schreibt zum Streit um eine Neuausrichtung und konstatiert unter anderem eine "gewisse Verflachung hinsichtlich der Thematik der Programme". In Times Mager gruselt es Elke Buhr vor dem ziemlich großen Tier, das über der Decke ihrer Altbauwohnung schabt, kratzt und raschelt. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod der italienischen Schauspielerin Alida Valli.

Besprochen werden Alvis Hermanis' Aufführung von Tatjana Tolstajas "Sonja" am Schauspiel Frankfurt, die die Liebe über den Witz triumphieren lässt, Wanda Golonkas Inszenierung von Sarah Kanes "Gier" im Frankfurter Schauspielhaus und eine Ausstellung zu Manfred Sack im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt.

SZ, 24.04.2006

Der Schriftsteller Navid Kermani spielt einmal durch, was ein Militärschlag gegen iranische Atomanlagen für Folgen haben könnte: "Am Tag danach würden die iranischen Führer die Angehörigen der iranischen Zivilopfer besuchen und sich der gesamten islamischen Welt als Widerstandskämpfer gegen die neuen Kreuzzügler präsentieren. Gegenüber der eigenen Bevölkerung würden sie an den CIA-Putsch gegen den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh sowie an die amerikanischen Waffen für den Aggressor Saddam Hussein erinnern, um antiwestliche Ressentiments zu schüren, die in der breiten Bevölkerung kaum noch verbreitet sind... Die noch keineswegs gefestigte Herrschaft der Clique hinter Ahmadinedschad, die sich aus dem Geheimdienst und Theologen der erzreaktionären Haqqani-Schule zusammensetzt, wäre auf Jahre gesichert. Das klingt schon weniger gut. Aber das wäre nicht einmal das Schlimmste... Am Tag danach könnte die islamische Republik damit beginnen, sich mit den unappetitlichen Mitteln zu wehren, die ihr zu eigen sind. Sie würde ihren Einfluss nutzen, um im Irak, im Libanon, unter den schiitischen Minderheiten der Golfstaaten und in den besetzten Gebieten Palästinas für Aufruhr und Gewalt zu sorgen."

Weiteres: Andrian Kreye berichtet, dass New York nun dem offenbar finanzknappen Pächter von Ground Zero, Larry Silverstein, ein Ultimatum gestellt hat: "Entweder übernimmt die Port Authority die Bauleitung des Freedom Tower und Silverstein darf drei der Bürotürme bauen. Oder Silverstein zieht sich zurück, bekommt eine Abfindung von 50 Millionen Dollar und den Baugrund des Büroturmes World Trade Center Nummer fünf." Christiane Schlötzer meldet, dass die Münchner Schau "Bunte Götter" demnächst in Istanbul zu sehen sein wird. Jenny Hoch berichtet von dem Theaterprojekt "A-Angst essen Zentrum auf", für das die Münchner Kammerspiele unter anderem Rainer Werner Fassbinders Wohnung besetzt haben. Paul Zanker informiert, dass Richard Meiers Umbauung für den Friedensaltar des Augustus in Rom fertig gestellt ist. Christian Jostmann war auf einer Tagung zur Zukunft des Balkans in Wien. Fritz Göttler schwärmt von den frühen Filmen Wong Kar-Wais, die nun auf DVD erhältlich sind.

Besprochen werden Stefan Herheims Inszenierung von Wagners "Rheingold" in Riga und Bücher, darunter Karl Mickels Romanfragment "Lachmunds Freunde", Ronald Wrights "Kurze Geschichte des Fortschritts" und Bestandsaufnahmen zu Tschernobyl 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 24.04.2006

Die Soziologin Necla Kelek kritisiert das Urteil im Berliner Ehrenmordprozess. Das Gericht hätte den vermutlichen Motiven der Tat auch mit den Mitteln des deutschen Strafrechts näherkommen können, meint sie: "Vielleicht hätte es mit Hilfe von Sachverständigen die Strukturen, das Welt- und Menschenbild solcher Communities aufzeigen sollen und der Sozialisation der Angeklagten nachgehen müssen, um die Tat verstehen zu können. Ayhan gestand, dass er hoffte, den Sohn Hatuns vor dem schlechten Einfluss seiner Mutter bewahren zu können. Er wollte den Sohn in die Familie zurückholen, damit er muslimisch erzogen werden könne. Dieser Bemerkung wurde im allgemeinen Entsetzen über den Hergang der Tat keine besondere Bedeutung beigemessen. (...) Musste Hatun vielleicht nicht nur sterben, weil sie 'wie eine Deutsche' lebte, sondern auch, weil sie einen Sohn hatte, der davor bewahrt werden sollte, ein Ungläubiger zu werden?"

Weitere Artikel: Im Aufmacher kann Jürge Kaube die Aufregung um die MTV-Comicserie "Popetown", die sich über das Papsttum lustig macht, nicht nachvollziehen. Heinrich Wefing stellt das Projekt des Stuttgarter Architekten HG Merz für einen neuen Lesesaal der Staatsbibliothek Unter den Linden vor, für den heute der Grundstein gelegt wird. In der Leitglosse denkt Michael Gasssmann über die Frage nach, was die Bischöfin Margot Käßmann mit der Vokabel vom "Markt der Werte" meint. Andreas Rossmann berichtet über eine "Auszeichnung für Zivilcourage", welche Walter Kempowski vom "Freundeskreis Heinrich Heine" in Düsseldorf verliehen wird. Matthias Grünzig stellt den neuen Campus der Fachhochschule Zittau vor, von dem sich die stark schrumpfende kleine Stadt neue Attraktivität erhofft. Michael Althen schreibt zum Tod der italienischen Schauspielerin Alida Valli.

Auf der Medienseite berichtet Robert von Lucius über ein schwedisches Urteil, das es kommerziellen Sendern untersagt, Filme durch Werbepausen zu unterbrechen, sofern der Urheber nicht seine ausdrückliche Erlaubnis gibt. Auf der letzten Seite spekuliert der Völkerrechtler Jörn Axel Kämmerer über die Frage, ob der Völkermord an den Armeniern als solcher zu bezeichnen sei. Swantje Karich berichtet über einen äußerst diplomatisch formulierten öffentlich Brief der jüdischen Gemeinde des Iran gegen die Holocaustleugnungen des Präsidenten Ahmadinedschad. Und Andreas Rossmann porträtiert den Osteuropa-Historiker und Fußballfan Dittmar Dahlmann.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Sartres "Schmutzigen Händen" am Thalia Theater in Hamburg, Tschaikowskys Oper "Mazeppa" in Karlsruhe zum Auftakt der Europäischen Kulturtage, "Sonja", ein Stück nach einer Novelle von Tatjana Tolstaja inszeniert von Alvis Hermanis für das Rigaer "Neue Theater", das in Frankfurt gastierte, eine Lothar-Baumgarten-Ausstellung im Kurhaus Kleve und Sachbücher, darunter eine Geschichte der Psychoanalyse.