Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.09.2006. Mit Martin Pollack reist die SZ durch Sarmatien zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, Don und Weichsel. Die Welt sieht in Tom Tykwers "Parfum"-Verfilmung Nasenhärchen in Großaufnahme zittern und riecht doch nichts. Die NZZ zieht in Sachen Mozart Harnoncourts zwei Halbe den üblichen vier Vierteln vor. Die FAZ enthüllt den literarischen Trick des Papstes. Und FAZ wie Spiegel online melden, dass Joachim Fest tot ist.

Spiegel Online, 12.09.2006

Joachim Fest ist tot. Wie unter anderem Spiegel Online meldet, starb der Historiker, Hitler-Biograf und langjährige Mitherausgeber der FAZ gestern im Alter von 79 Jahren in seinem Haus in Kronberg. In der nächsten Woche erscheinen seine Erinnerungen "Ich nicht", die die FAZ derzeit vorabdruckt. Matthias Matussek hat auch schon einen Nachruf auf den "stolzen Einzelgänger" verfasst.

SZ, 12.09.2006

Karl-Markus Gauß hat sich fesseln lassen von Martin Pollacks Anthologie "Sarmatische Landschaften", die Reportagen und Essays aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland versammelt, dem mythischen Land des "freiheitsliebenden Reitervolks" zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, Don und Weichsel: "So deutete sich die polnisch-litauische Adelsrepublik, die zwischen 1569 und 1795 einen multinationalen Staat bildete, in dem viele Sprachen anerkannt waren und eine für Europa beispiellose religiöse Toleranz geübt wurde, als Erbe der Sarmaten. Nicht Osten und nicht Westen zu sein, sondern als wahre, unerkannte Mitte dazwischen zu liegen, zwischen dem despotischen Russland und dem nationalstaatlich sich organisierenden Westen, diesem 'sarmatischen' Selbstbewusstsein war zunächst gar nichts Tragisches untermischt. Im Gegenteil, gegen den Osten gewendet bedeutete Sarmatien nichts anderes als Demokratie und gegen den Westen hin: nationale Vielfalt."

Weiteres: Alexander Menden hat sich in der English National Opera eine Oper über den libyschen Staatschef Gaddhafi "A Living Myth" angesehen, die Partitur stammt von der Asian Dub Foundation, "bekannt für ihre innovative Mischung von HipHop, Drum and Bass, Ambient, Punk und bengalischer Volksmusik". Martin Reischke schlägt angesichts der Marketingstrategien der schrumpfenden Städte im Osten die Hände über dem Kopf zusammen. Magdeburg wirbt etwa mit dem Slogan 'Magdeburg überrascht'. Alex Rühle erzählt, wie der Sozialarbeiter und Mäzen Res Balzli aus einem Schloss am Lac de Neuchatel ein Alltagskommunenkunstprojekt machte. Martin Mosebach setzt seine Aufzeichnungen aus Neu-Delhi fort. Tobias Moorstedt berichtet von der Werkleitz-Biennale in Halle zum Thema "Happy Believers". Annette Lettau berichtet, dass Salzburg nun Johann Michael Sattlers Salzburg-Panorama dauerhaft ausstellt. Der Schriftsteller Helmut Krausser erzählt, dass das Finanzamt Starnberg Steuern auf sein Stipendium des Deutschen Literaturfonds verlangt.

Besprochen werden Deepa Mehtas aufwühlender Film über die Unterdrückung der Frau im kolonialen Indien Film "Water", Tom Kühnels Purcell-Parcours "The Fairy Queen" am Theater Aachen und und ein Band über "Kriegsherren der Weltgeschichte" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 12.09.2006

An die Aufführung der letzten drei Sinfonien Mozarts in Luzern, vollbracht durch Nicolaus Harnoncourt und die Wiener Philharmoniker, wird sich Peter Hagmann noch lange erinnern. "Aufhorchen lässt schon die langsame Einleitung zur Es-Dur-Sinfonie KV 543. Das Adagio dieses Satzes bezieht sich eben nicht auf vier Viertel, sondern zwei Halbe - Harnoncourt macht da keinen Kompromiss. Im Vergleich dazu bleibt das Allegro, das darauf folgt, sehr moderat, weil der Puls derselbe bleibt, nur eben jetzt auf drei Viertel umgelegt wird. Frischer als gewohnt dann wieder das Andante con moto des zweiten Satzes, weil Harnoncourt hier in den zwei Vierteln denkt, die Mozart vorgeschrieben hat, und nicht in den vier Achteln, die sich eingebürgert haben."

Desweiteren hofft Paul Jandl, Veronica Kaup-Hasler und Anna Badora, die respektive den Steirischen Herbst und das Grazer Schauspielhaus übernommen haben, bringen neuen Schwung in Österreichs Avantgarde.

Besprochen werden eine Ausstellung über das "Nichts" in der Frankfurter Schirn, und Bücher, darunter Thomas Hettches "durchaus drastischer" Thriller "Woraus wir gemacht sind" (hier eine Leseprobe) sowie Neuerscheinungen zu Architektur und Studien zu arabisch-islamischer Philosophie (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 12.09.2006

Trotz großer Internet-Pläne des Stammhauses (mehr) scheint sich zumindest die Kulturredaktion der Welt aus dem Netz zurückzuziehen. Heute sind ganze zwei neue Artikel freigeschaltet.

Mehr Bernd Eichinger als Tom Tykwer wittert Hanns-Georg Rodek in der "Parfum"-Verfilmung, die auch mit der geruchslosen Leinwand zu kämpfen hat. "Tykwers Ansatz ist visueller Art. Sein Kameramann Frank Griebe versetzt den Zinken des Hauptdarstellers Ben Whishaw in Dauerbelagerung. Der schnüffelt, bebt, wird in die Höhe gereckt, die Augen über ihm werden geschlossen, die Härchen zittern in Großaufnahme, und einmal rast die Kamera sogar in die Nasenhöhle hinauf (um auf dem Filmtitel zu enden). Tom Tykwer inszeniert das Riecherlebnis und bedient sich aller bekannten cineastischen Mittel von der Großaufnahme bis zur Zeitlupe, inklusive der Tykwer-typischen rasenden Kamerafahrten. Der Blick bewegt sich dabei auf den Geruch zu, obwohl uns Gerüche in der Regel entgegenwehen; vielleicht liegt in diesen konträren Bewegungen der unterschwellige Grund, weshalb diese Lösung nicht befriedigt."

Auf der Meinungsseite rät Ralf Dahrendorf den Anti-Terror-Politikern zur Mäßigung. "Erstens müssen wir sicherstellen, dass die einschlägigen Anti-Terror-Gesetze ausschließlich vorübergehend sind. Sämtliche Vorschriften dieser Art sollten regelmäßig von den Parlamenten überprüft werden. Zweitens sollten unsere Machthaber versuchen, die allgemeine Besorgnis eher zu beruhigen als auszunutzen. Die Terroristen, gegen die wir 'Krieg' führen, können nicht gewinnen, da ihre dunkle Vision nie eine breite Legitimität erhalten wird."

Außerdem besucht Rainer Haubrich die Architektur-Biennale in Venedig, auf der das Wachstum der Metropolen diskutiert wird.

Berliner Zeitung, 12.09.2006

Der Schriftsteller Peter Glaser gratuliert zum 25-jährigen Bestehen dem Chaos Computer Club, dem wir die Maxime "Alle Information muss frei sein" ebenso wie das Wissen verdanken, dass die neuen Nasa- und Esa-Rechner genauso leicht zu knacken sind wie das alte BTX-System: "Karl Kraus schreibt: 'Es gibt nur eine Möglichkeit, sich vor der Maschine zu retten. Das ist, sie zu benützen.' Je länger wir mit der Technologie umgehen, desto mehr entdecken wir, was sie nicht kann. Und aus der Fehlerhaftigkeit und den Schwächen der Computerwelt vermittelt der CCC der Nichtmaschine Mensch ein lebendiges Gefühl von Souveränität."

TAZ, 12.09.2006

Dirk Baecker zeigt an, wie sich Kulturkritik und Kognitionswissenschaften versöhnen lassen könnten. Helmut Höge schreibt auf, was ihm zum Thema Groupie einfällt.

Für die Tagesthemenseiten besucht Georg Blume den renitenten chinesischen Bauern Fu Xiancai, dessen merkwürdiger Unfall vor drei Monaten noch nicht aufgeklärt worden ist.

Besprochen werden die Aufführung des Auswanderungs-Musicals "The Frame" von Richard Maxwell, Justin Timberlakes Album "Futuresex/Lovesounds" und die vollständigen "Black Hole"-Comics von Charles Burns.

Und hier noch TOM.

FR, 12.09.2006

Als Geschichtsstunde im "Comic-Format" hat Louise Brown das Stück "Gaddafi" an der English National Opera empfunden, besonders unangenehm waren ihr die stumpf-simplen Reime des Librettos ("All this hocus pocus don't sharpen my focus"). Reinhardt Wustlich berichtet von der Architekturbiennale in Venedig: "'Cities, Architecture and Society' heißt das Motto der Saison, das der überkommenen Stadtkritik das Glitzern in die Augen treibt." Harry Nutt hat auf dem Berliner Literaturfestival einige recht unausgegorene Veranstaltungen erlebt, aber auch einen sehr interessanten Vortrag des tunesischen Autors Abdelwahab Meddeb über den islamischen Fundamentalismus gehört. Stefan Schickhaus berichtet, dass die Südkoreanerin Shi-Yeon Sung den Internationalen Solti-Dirigentenwettbewerb gewonnen hat. Besprochen wird Klaus Maria Brandauers Kölner "Lohengrin"-Inszenierung.

FAZ, 12.09.2006

Online meldet die FAZ, dass Joachim Fest gestorben ist.

Christian Geyer kommentiert den Auftritt des Papstes, dem man plötzlich als "weiße Lichtgestalt" und "die Welt umarmenden Popstar" im "Öffentlich-Rechtlichen bereitwillig die Strecken einräumt, die auch Prinzenhochzeiten und anderen Glamour-Ereignissen zustehen". Das habe er mit einem "literarischen Kunstgriff" geschafft. "Das, was an der Kirche in Deutschland zu tadeln ist, tadelt er nicht mehr in eigenem Namen... Und so lässt Benedikt XVI., wenn er tadeln möchte, sein eigenes Ich beiseite und führt ein auktoriales Ich ein: die Stimme der Afrikaner und Asiaten. Mit ihrer Stimme ruft der Papst zu Beginn seines Deutschland-Besuchs, alle Artigkeiten listig unterlaufend, Deutschland zum Missionsland aus."

Weiteres: Felicitas von Lovenberg erzählt noch einmal die Erfolgsgeschichte von Patrick Süskinds Bestseller-Roman "Das Parfüm". Heinrich Wefing fasst den Stand der Debatte zusammen, den der Fall des Bildes "Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner um die Restitution von NS-Raubkunst ausgelöst hat. Andreas Kilb lobt das Internationale Berliner Literaturfestival, dem auch in seinem siebten Jahr jeder "programmatische Wille" und "eine subventionskompatible Gebrauchsanweisung" fehle, weshalb man sich frei von "konzeptioneller Vergärung und Vorverdauung... durch den Zaubergarten des Geschriebenen treiben lassen" könne. Gerwin Zohlen resümiert ein Symposion der Internationalen Bauakademie Berlin, auf dem "auf hohem Niveau" um das Berliner Stadtschloss gestritten wurde. Oliver Jungen gratuliert dem Tübinger Mediävisten Harald Zimmermann zum Achtzigsten. Ellen Kohlhaas informiert über den dritten Frankfurter Solti-Wettbewerb, den die südkoreanische Dirigentin Shi-Yeon Sung gewonnen hat. Paul Ingendaay berichtet über die Absetzung des Theaterstücks "Lorca waren alle" in Madrid, weil der spanische Theaterschauspieler und Regisseur Pepe Rubianes im Januar vor laufender Fernsehkamera seine ideologischen Gegner aufs Gründlichste beleidigt hatte. Frank-Rutger Hausmann erzählt die Geschichte des Genfer Gebäudes des Völkerbundes Palais des Nations. Joachim Müller-Jung beklagt die "nur noch geisterhafte Existenz" des Westlichen Spitzlippen- oder Spitzmaulnashorns im nördlichen Kamerun.

Besprochen werden des Weiteren eine brillante Aufführung von Donizettis selten gespielter Oper "Il Furioso" im Musiktheater im Revier, eine Einspielung von Szenen des Siegmund und Siegfried aus dem "Ring des Nibelungen" mit dem kanadischen Tenor Ben Heppner, die Uraufführung von Heinz Spoerlis Ballett "moZart" im Zürcher Opernhaus, eine Ausstellung in Sachsenhausen, die das Fotoalbum des berüchtigten Lagerkommandanten Otto Koch zeigt, der auf "grauenhaft banale Art" den Bau des KZs dokumentierte. Außerdem Bücher, darunter der Erinnerungsband "Mein Brecht" des Theaterwissenschaftlers und Kritikers Ernst Schumacher (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).