Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2006. Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" löst gemische Gefühle aus. Die FR lobt bohrende Intensität und kritisiert Geschwätzigkeit. Für die NZZ schüttet Regisseur Nicolas Stemann die Jelinek mit dem Bade aus. Laut SZ genießt sie ihre Schändung aber wie nur je eine Märtyrerin. In der FAZ erklärt der Deutschland-Korrespondent von Al Dschasira, Aktham Suliman, warum der deutsche Streit um die Berliner "Idomeneo"-Inszenierung für ihn kein Thema war. In der SZ wäscht der Germanist Peter Strohschneider seinen Kollegen Geisteswissenschaftlern, die sich so über die Exzellenzintitative aufregen, das dramatisch umwölkte Haupt.

NZZ, 30.10.2006

Mit gemischten Gefühlen hat Barbara Villiger Heilig in Hamburg Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks "Ulrike Maria Stuart" gesehen. Stemann ziele darauf ab, "eine irgendwie ernsthafte Auseinandersetzung mit der RAF und überhaupt dem - laut Jelinek gescheiterten - Projekt der (deutschen) Linken zu vermeiden, zu verspielen, zu verjuxen. Das Fazit, dreißig Jahre nach Ulrike Meinhofs Tod, lautet: Illegalität ausgestorben, denn 'das Kapital tummelt sich offshore'."

Für Peter Hagmann gibt Wolfgang Rihms "Gehege" Richard Strauss' "Salome" an der Münchner Staatsoper "eine neue Dimension ihrer Existenz". William Friedkins Regie mit ihem "plakativen, wenn nicht peinlichen Realismus" hat ihm jedoch gar nicht gefallen.

Weiteres: Dokumentiert wird Ralf Rothmanns Dankesrede anlässlich der Verleihung des Zürcher Max-Frisch-Preises, in der der Autor die absolute Stille als Grundlage der Poesie anpreist und auch genau sagen kann, wo man diese Stille findet. Claudia Schwartz berichtet süffisant, dass in Berlin zum "kollektiven 'Amüsemang'" Napoleons Triumphzug durchs Brandenburger Tor vor zweihundert Jahren nachgestellt wurde. Uwe Justus Wenzel hat einem Vortrag des ehemaligen Bundesverfassungsrichters E.-W. Böckenförde über die fundamentalistische Herausforderung gelauscht.

Besprochen werden Savyon Liebrechts "Sieh mich an und sprich" im Stadttheater Bern, Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" in Biel und eine Choreografie der Tanzkompanie Theater St. Gallen.

FR, 30.10.2006

Peter Michalzik kann Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" einiges abgewinnen: "Jelinek baut ihr Drama nicht aus der Historie, sondern ihrem Nachleben, der RAF in den Köpfen, hier präziser, insistenter, noch bohrender als in den meisten ihrer Stücke, wenn sie daneben auch Stellen kalauernder Geschwätzigkeit nicht lassen kann."

Weiteres: Daniel Kothenschulte weist in in der Kolumne Times mager auf Diskussionen über Clint Eastwoods Film über die Schlacht von Iwo Jima hin, der im Dezember in Deutschland laufen wird. Hans Jürgen Linke resümiert das Frankfurter Jazzfestival.

FAZ, 30.10.2006

Der Berliner "Idomeneo" darf ja wieder gespielt werden. Heinrich Wefing interviewt den Deutschland-Korrespondenten von Al Dschasira, Aktham Suliman, der erklärt, warum er über die Affäre gar nicht berichtet hat: "Mein Chefredakteur hätte da sofort gefragt: 'Wer war beleidigt? Wo sind die Kritiker der Oper?' Ich hätte antworten müssen: 'Es gibt keine Beleidigten, aber die Polizei geht davon aus, dass es vielleicht welche geben könnte.' Das ist doch keine Nachricht."

Weitere Artikel: Christian Geyer resümiert die Frankfurter Römerberggespräche, die sich mit unserem Verhältnis zum Islam auseinandersetzten. Dirk Schümer glossiert Schwierigkeiten bei Erweiterungsbauten zur Accademia in Venedig. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Intendanten und Schauspieler Kurt Hübner zum Neunzigsten. Ellen Kohlhaas gratuliert dem Dirigenten Rene Jacobs zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über Chaos und Gerangel bei der WDR-Intendantenwahl. Dirk Schümer hat sich im italienischen Fernsehen einen Film über die 33 Tage des Papstes Johannes Paul I. angesehen. Jürg Altwegg meldet zudem, dass ein weiteres Überleben der Liberation immer unwahrscheinlicher wird.

Auf der letzten Seite spekuliert der Politologe Andreas Herberg-Rothe über die Frage, ob sich die Amerikaner im Irak eher mit Clausewitz oder Sun Tzu verrennen. Andreas Kilb hörte sich eine Diskussion mit Günter Grass in der Akademie der Künste an, in der Grass die hiesige Presse unter besonderer Beachtung dieser Zeitung kritisierte. Und Andreas Obst porträtiert die einzige deutsche Professorin für Viola da Gamba, Hille Perl.

Besprochen werden die Hamburger Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart", Richard Strauss' "Salome" im Verbund mit Wolfgang Rihms "Gehege" (laut Julia Spinola war Angela Denokes Debüt in der Titelrolle eine Sensation, aber "von der alles verzehrenden Besessenheit, der abgrundtiefen Verzweiflung, der himmelschreienden Erlösungsbedürftigkeit dieser Figur wusste sie nichts"), eine Ausstellung über die "Guggenheim-Architektur" in Bonn, Konzerte des Jazzfestivals in Frankfurt, eine Horst-Antes-Ausstellung in Schwäbisch Hall und Sachbücher, darunter Cristina und Eduardo Mendozas Studie "Barcelona - Eine Stadt erfindet die Moderne".

Welt, 30.10.2006

Weil Roberto Saviano in seinem Erfolgsbuch "Gomorra" (Mondadori) über die neapolitanische Mafia zu konkret wurde, musste er jetzt mit Polizeischutz untertauchen, berichtet Uta Kessling. "Er hat für das Buch - es ist sein erstes - jahrelang recherchiert. Als Kellner getarnt, als Jobsuchender auf dem Bau oder auch als Tourist traf er Mafiabosse, Verwandte von Bossen und solche, die dem 'System' gerade erst beigetreten waren. Er ist ein großes Risiko eingegangen. 'Seit ich auf der Welt bin, hat die Camorra mehr als 3500 Menschen getötet', sagt Saviano. Er ist erst 28 Jahre alt."

Weiteres: Zur Unterschichtendebatte studiert Herbert Kremp Helmut Schelsky und erklärt, dass der Soziologe mit der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" und dem Schwinden von Klassenunterschieden schon vor über zwanzig Jahren auch eine Zunahme der sozialen Unsicherheit prophezeit hatte. In der Serie zu den Berliner Philharmonikern porträtiert Eckhard Fuhr Wilhelm Furtwängler. Jörn Lauterbach schildert verwundert das Phänomen des Sprach-Comedians Bastian Sick.

Die einzige Besprechung widmet sich der Ausstellung über Arthur Schnitzler, Geschlechtskrankheiten und den "Reigen" im Wiener Theatermuseum.

TAZ, 30.10.2006

Michael Kiefer hält auf der Meinungsseite nicht viel von der im Auftrag der Konrad Adenauer-Stiftung durchgeführten Umfrage unter muslimischen Kopftuchträgerinnen in Deutschland, bei der unter anderem festgestellt wurde, dass sich deren Werte und Einstellungen kaum von ihren kopftuchlosen Geschlechtsgenossinnen unterscheiden. Zweifelhaft ist für Kiefer etwa die Auswahl der Befragten: "Sie wurden über die Mithilfe einiger Moscheevereine gewonnen. Dieses Vorgehen führt zwangsläufig zu Verzerrungen. Deutlich sichtbar werden diese beim Bildungsniveau der Teilnehmerinnen: 43 Prozent von ihnen besaßen das Abitur oder einen Hochschulabschluss, immerhin noch 31 Prozent verfügten über die Fachhochschulreife, die mittlere Reife oder einen Hauptschulabschluss mit Ausbildung. Das aber ist alles andere als der Durchschnitt: In einer Stadt wie Berlin etwa befanden sich unter 13.000 Abiturienten des vergangenen Jahrgangs gerade mal 183 türkische Schülerinnen und Schüler; damit lag die Zahl der türkischstämmigen Abiturienten deutlich unter 10 Prozent."

Im Feuilleton besucht Gabriele Goettle Bea Fünfrocken, Hausmeisterin im Frauenzentrum "Schoko-Fabrik" in Berlin-Kreuzberg. In der zweiten taz stellt Peter Nowak zwei Modelle vor, die das Problem des Urheberrechts auf der Basis von freiwilligen Spenden lösen wollen.

Und Tom.

SZ, 30.10.2006

Der Germanist Peter Strohschneider findet die Einlassungen Dieter Borchmeyers (mehr) und anderer Geisteswissenschaftler zur Exzellenzinitiative ziemlich theatralisch. Dass sich die historisch-philologischen Fächer seit dem 19. Jahrhundert "als Inbegriff von Universität" verstehen, war schon im 20. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß - was mit "emphatischen Geltungsansprüchen" kompensiert wurde: "Als Wissenschaften von 'der' Nation und vom Geist als solchem, als Sachwalter der allgemeinen Demokratisierung oder - zuletzt - 'der' Kultur überhaupt überforderten sie sich strukturell. Und das hat ihnen per saldo vermutlich mindestens ebenso viele Legitimationsprobleme wie Legitimität eingetragen. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, lässt sich das deutlicher erkennen. Und es wird, rückt man bloß die skizzierten Fremd- wie Selbstüberforderungen beiseite, auch die Chance sichtbar, an den Universitäten Geisteswissenschaften jenseits phantasmatischer Allzuständigkeiten als Wissenschaft unter Wissenschaften zu betreiben."

Eine "Intelligente Gruselrevue" hat Nicolas Stemann in Hamburg aus Elfriede Jelineks Stück "Ulrike Maria Stuart" gemacht, findet Christopher Schmidt. "Nach 'Das Werk' und 'Babel' ist 'Ulrike Maria Stuart' der dritte Theatertext Jelineks, den Stemann gar nicht erst ignoriert, um ihn umzuheben. Das entspricht auch Jelineks Wunschvorstellung von einem Uraufführungs-Regisseur, denn sie wendet den in ihren Texten praktizierten Machtverzicht auf sich selbst an und genießt ihre Schändung wie nur je eine Märtyrerin. Stemann wiederum sagt, er sei nicht das Entrümplungskommando für den sentimentalen Sperrmüll einer älteren Dame. Anstatt ihn ihr Oberstübchen nur auszumisten zu lassen, hat Jelinek es Stemann gleich ganz überlassen. Ein paar Revolutionsromantizismen blieben dabei stehen als Restposten einer Diskurs-Lounge im Retro-Schick. Stemann dekonstruiert Jelineks Dekonstruktionen, und es stimmt, wenn die Autorinnen-Mutter über ihren Regie-Sohn sagt, ihre Texte würden dessen Kreativität 'triggern'. Stemann lädt durch und hinterlässt verbrannte Textflächenerde, allerdings sind seine Waffen Wasserbomben, Farbbeutel und Spielzeug-Pump-Guns."

Weitere Artikel: Vor allem sich fanatisch verausgabende Nackte hat Eva-Elisabeth Fischer bei ersten Aufführungen während des Münchner Festival Dance gesehen. Bei der Herbsttagung der Berliner Akademie der Künste, die unter dem Motto "Alle Kunst ist politisch" stattfand, beobachtete Lothar Müller leicht gelangweilt alte Herren, die mit der Revolution kokettierten. Volker Breidecker resümiert das 37. Jazzfestival in Frankfurt am Main. Rainer Gansera resümiert die Hofer Filmtage: "Die darstellerische Entdeckung dieses Festivals: Hannah Herzsprung. Sie macht 'Vier Minuten' von Chris Kraus zum Ereignis, spielt eine junge Mörderin, die im Frauengefängnis ihr großes pianistisches Talent wiederentdecken darf." Dietmar N. Schmidt gratuliert dem Schauspieler, Regisseur und Intendanten Kurt Hübner zum Neunzigsten.

Besprochen werden Kent Naganos Einstand an der Münchner Staatsoper mit Strauss' "Salome" und der Uraufführung von Rihms "Das Gehege" ("Jetzt ist dieser Dirigent tatsächlich angekommen in München. Sein Orchester klingt nach den Jahren mit Zubin Mehta, die sich dem großen strömenden Gefühl ergeben hatten, nun plötzlich interessant bis in letzte Details", jubelt Reinhard J. Brembeck) und Bücher, darunter David Foster Wallaces Erzählband "In alter Vertrautheit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).