Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2006. In der NZZ erklärt Milos Forman, warum die Spanier die Ketten der Inquisition liebten. Die taz stellt den Internetdienst Eurotopics vor. In der FR solidarisiert sich Marcia Pally mit Tony Judt, obwohl sie findet, dass er völlig unrecht hat. In der Welt verteidigt der Kunstdetektiv Clemens Toussaint die Restitutionsansprüche jüdischer Erben. Die FAZ sieht in den kommenden Auseinandersetzungen um die Werke auch einen Geschäftszweig für Kunsthistoriker. Die SZ stellt die prominentesten Werke vor, die zurückgefordert werden.

NZZ, 20.11.2006

Diese Woche kommt Milos Formans Film "Goyas Geister" in die Kinos, ein Inquistionsdrama, das im Spanien des 18. Jahrhunderts spielt. Von der Aufklärung erwarteten sich die einfachen Spanier nicht viel, erklärt Forman im Interview. "Die Kirche hatte in Spanien quasi das Machtmonopol. Als Napoleon nach Spanien kam, hat er Schluss gemacht mit der Inquisition, und er vertrat die Ideale der Französischen Revolution. Alles richtig. Aber er hatte keine Ahnung, dass in dieser Zeit ein Fünftel aller Spanier nur mit Hilfe der von Priestern organisierten Wohlfahrt überlebte. Als die napoleonischen Truppen die Kirchenvertreter einkassierten, waren die Leute empört, dass man ihnen diejenigen wegnahm, die ihnen ihre bescheidene Existenz sicherten. Glauben Sie, dass Napoleon einen einzigen Gedanken an dieses Wohlfahrtssystem verschwendet hat? Oft wurden die Befreier von Menschen mit gekreuzten Händen begrüsst, die riefen: Viva las cadenas. Lang leben die Ketten."

In der indischen Literaturszene ist eine "neue Freiheit" entstanden, die vor allem von jungen, zwischen 25 und 35 Jahre alten Autoren verkörpert wird, berichtet Claudia Kramatschek. "Das bestätigt auch die ebenfalls in Delhi ansässige, 34-jährige Literaturkritikerin Nilanjana Roy, die seit Jahren die Entwicklung der englischsprachigen Literatur verfolgt. Und sie betont, diese Freiheit könne auch bedeuten, dass die Verpflichtung auf 'indische' Inhalte wegfällt: 'Mir gefällt es, dass die jetzigen Autoren endlich aus einem Gefühl der Freiheit heraus schreiben, dass sie tun können, was ihnen gefällt. Sie können in Indien leben und über Bulgarien schreiben. Sie können über ihre eigene Welt schreiben, in der aber Bob Dylan und Jazzmusik ebenso vorkommen wie Nuzrat Fateh Ali Khan und Bollywood-Songs. All das ist ein Teil von uns - warum sollten wir uns also in das Korsett einer bestimmten Erzählung über Indien zwängen lassen?"

Weitere Artikel: In Japan wird zur Zeit intensiv über die Immigrationspolitik des Landes diskutiert, berichtet Florian Coulmas. Angela Schader gratuliert Don DeLillo zum Siebzigsten. In Raiding im Burgenland, Geburtsort von Franz Liszt, wurde kürzlich ein Konzertsaal für 600 Menschen eröffnet, in dem ein jährliches Festival und übers Jahr verstreute Konzerte stattfinden sollen, berichtet Derek Weber.

Welt, 20.11.2006

Ab heute entsteht die Welt in einem integrierten Newsroom, meldet die Zeitung stolz. "Erstmals in der Geschichte der Welt arbeiten hier Online-Redakteue direkt neben und mit ihren Kollegen von der gedruckten Zeitung."

Heute tagt Bernd Neumanns "Raubkunstgipfel" in Berlin, berichtet DW. "'Die Museen beklagen, dass es inzwischen einen regelrechten Restitutionshandel gibt, der knallhart kommerzialisiert sei', sagte Neumann. Er wolle über diese Thematik in einem ersten Schritt mit den Museen sprechen, aber er werde auch mit Vertretern der Opferseite zusammenkommen."

In einem Interview weist Kunstdetektiv Clemens Toussaint Vorwürfe gegen jüdische Erben zurück, es ginge ihnen und ihren Anwälten doch nur ums große Geld. "Aber die Furcht vor einer Lawine von Forderungen zeigt doch die Dimension des Verbrechens, nicht die Dimension der Forderungen. Und vielleicht haben auch einige clevere Anwälte verstanden, dass Restitution ein gutes Geschäft ist. Dagegen hilft nur vom Staat finanzierte, gründliche Recherche. Sonst beseitigen eben Anwälte den Missstand."

Weitere Artikel: Peter Dittmar schreibt über den Einfluss von Witwen auf die Kulturgeschichte. Uwe Wittstock gratuliert Don DeLillo zum Siebzigsten.

Besprochen werden das Computerspiel "Pong", ein Konzert von Bob Dylan in Fairfax (Virginia), eine von Bertrand Tavernier herausgegebene DVD-Edition der Filme von Michael Powell, außerdem DVDs der Trickfilme von Lotte Reiniger und der "Kinder von Golzow".

TAZ, 20.11.2006

Eher "teuer und sinnentleert" fand Ines Kappert die gewaltige Berliner Konferenz "Europa eine Seele geben", hat aber auch ein echtes Highlight erlebt: "Thomas Krüger, seines Zeichens Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, wies sich gewohnt charmant als ein um Effizienz bemühter Ex-Ossi aus, dessen Lebenszeit zu kurz ist, um sich durch den Antragsdschungel der EU zu wühlen. Europäisch muss man selbst werden, stellt er lapidar fest und umriss das von seiner Institution geförderte Projekt 'Eurotopics'. Dieses wertet europaweit das Feuilleton aus und stellt eine Artikelauswahl nach dem Prinzip des Perlentauchers online zur Verfügung: www.eurotopics.net."

Im Interview mit Patrick Kollmer stellt der Dichter F.W. Bernstein seinen lyrischen Imperativ auf: "Was ist mein: Du sollst? Nicht langweilen wäre eins. Was der ernsthafte Dichter oder Prosaschreiber zum Beispiel nicht haben darf. Wenn ihm was wichtig ist, dann muss er gegen den Leser schreiben. Aber das wären zwei: Langweile nicht! Nerve nicht!"

Besprochen werden die aus dem Londoner V&A Museum übernommene Ausstellung "Modernism - Designing a New World" in Herford und die "entspannte" Revue "Macht und Rebel" des "Punk-Opas" Schorsch Kamerun in München.

Auf der Meinungsseite denkt der Politologe Jan-Werner Müller anlässlich des armenischen Völkermords und des französisch-türkischen Streits darüber über Formen transnationaler Vergangenheitsbewältigung nach.

Und auf den Tagesthemenseiten präzisiert der Spekulant und Philanthrop George Soros im Interview mit Tarik Ahmia und Reiner Metzger seine Kritik an der Politik von George Bush: "Man hat mir vorgeworfen, ich würde Bush mit Hitler vergleichen. Das ist aber falsch. Ich habe nur eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen den Propagandamethoden von Goebbels und denen der Neokonservativen festgestellt."

Und schließlich Tom.

FR, 20.11.2006

Marcia Pally berichtet von der Verhinderung eines Vortrags von Tony Judt über eine angebliche Israellobby in den USA und solidarisiert sich mit ihm, obwohl sie seine Ansichten ganz und gar nicht teilen kann: "Sie gehen in die Irre, weil sie die Kräfte in der US-amerikanischen Gesellschaft, die den größten Einfluss auf die amerikanische Politik im Nahen und Mittleren Osten haben, falsch einschätzen, nämlich das US-Interesse am Öl, Organisationen, die am regionalen Infrastrukturaufbau interessiert sind, und die Evangelikalen. Die republikanische Partei bildet seit dreißig Jahren eine Koalition aus Wirtschaftsinteressen und evangelikalen Christen. Das Überleben der Partei hängt von ihrer Fähigkeit ab, deren Interessen im Nahen Osten und anderswo zu befriedigen."

Weitere Artikel: Ralf Siepmann unterhält sich mit Lutz Tillmanns vom Deutschen Presserat über dessen seit 50 Jahren währende Aktivität. In Times mager kommentiert Harry Nutt einen Streit um die Opferzahlen bei den deutschen Vertriebenen. Bernhard Honningfort berichtet, dass Barbara Henniger den deutschen Karikaturenpreis erhalten hat. Besprochen werden frühe Henze-Einakter in München, eine Ausstellung über den U-Bahn-Architekten Alfred Grenander in Berlin und lokale Kulturereignisse.

FAZ, 20.11.2006

Heute findet im Kanzleramt ein Krisentreffen zur Frage der Restitution von Kunstwerken statt. Inzwischen haben Anwaltskanzleien und Auktionshäuser aus der ungeklärten Herkunft von Kunstwerken einen Geschäftszweig gemacht, berichtet Heinrich Wefing. Und selbst für arbeitslose Kunsthistoriker eröffnen sich neue Chancen: "So steht häufig am Anfang von Restitutionsverfahren nicht etwa der Rückgabewunsch eines Nachkommen von NS-Opfern, sondern die akribische Suche nach Kunstwerken in öffentlichem Besitz, die unter die geltenden Rückgaberegeln fallen könnten. Dafür beschäftigen sowohl Auktionshäuser als auch Anwaltskanzleien eigene Rechercheure, meist Historiker oder Kunsthistoriker, die in teils jahrelanger Arbeit in Archiven und Depots nach Restitutionsgut fahnden. Erst wenn sie dabei fündig geworden sind, wenden sich die Anwälte an die potenziellen Anspruchsteller..."

Weitere Artikel: Der Romancier Stewart O'Nan kann sich des Ekels über O.J. Simpsons Buch mit dem zynischen Titel "If I Did It" nicht erwehren. Mark Siemons unterrichtet uns in der Leitglosse über die Subtilitäten des Müllhandels in China. Gemeldet wird, dass es jetzt zwischen Suhrkamp und den neuen Miteignern des Verlags zu juristischen Auseinandersetzungen kommt. Klaus Ungerer besuchte das Kulturkaufhaus Dussmann, das als erstes die freigegebenen Ladenöffnungszeiten nutzt, um vier Uhr nachts, und fand es ziemlich leer. Jordan Mejias hat einen ersten Blick auf Thomas Pynchons neuen Roman "Against the Day" geworfen und schildert ihn als ein ziemlich zerklüftetes Gebilde von über 1.000 Seiten (einige aktuelle Links zum thema gibt es hier). Jürg Altwegg wirft einen Blick in französische Zeitschriften. Paul Ingendaay gratuliert John DeLillo zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Siegfried Thielbeer über ein Gerichtsverfahren gegen dänische Journalisten, die Regierungsdokumente über den Irakkrieg veröffentlichten. Und Jürg Altwegg erklärt, warum die Dezemberausgabe des "Literaturclubs" im Schweizer Fernsehen und bei 3sat ausfällt. Auf der letzten Seite inspizieren Christian Schwägerl und Leonie Wild den Kreuzberger Wrangelkiez, wo es neuerdings zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und der Polizei kam. Michael Gassmann erlebte Christoph Schlingensief bei einer Dortmunder "Lektion zur Musikvermittlung". Und Hannes Hintermeier porträtiert die Verlegerin Anastasie Urban, die seit neuestem die Geschicke im Haus Klostermann mit bestimmt.

Besprochen werden John Mightons Stück "Mögliche Welten" im Theater Bonn, Ballette von Wayne McGregor und Christopher Wheeldon in London und Sachbücher, darunter Inga Markovits' "Gerechtigkeit in Lüritz - Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte".

SZ, 20.11.2006

Heute findet das große von Kulturstaatsminister Bernd Neumann einberufene Treffen zur Rückgabe von NS-Raubkunst statt. Stefan Koldehoff bringt uns auf den Stand der Provenienzforschung und angemeldeter Rückgabeansprüche. Zurückgefordert werden vor allem eine Reihe expressionistischer Werke, darunter Emil Noldes "Buchsbaumgarten" in Duisburg, Karl Hofers "Mädchen mit Frühstückskorb" in Köln und Hermann Max Pechsteins "Drohendes Wetter" in Mönchengladbach. "Dem Folkwang-Museum in Essen liegt ein Restitutionsbegehren für Ernst Ludwig Kirchners 'Leipziger Straße' von 1914 vor. Das Gemälde stammt aus derselben Sammlung Hess wie die aus Berlin restituierte 'Straßenszene'. Gleiches gilt für Franz Marcs 1910/11 entstandene 'Katze hinter einem Baum', die nach Aktenlage im März oder April 1936 aus einer Marc-Gedächtnisausstellung in der Kestner-Gesellschaft in Hannover verkauft wurde. Heute hängt das Bild als Leihgabe der landeseigenen NordLB im dortigen Sprengel-Museum. Ebenfalls aus der Sammlung Hess stammen Franz Marcs 'Kleine blaue Pferde' und Lyonel Feiningers 'Barfüßer Kirche I', beide in der Staatsgalerie Stuttgart, und Kirchners 'Urteil des Paris' im Ludwig Haack-Museum in Ludwigshafen."

Weiteres: Wolfgang Schreiber spricht mit dem Pianisten Maurizio Pollini über dessen Projekt "Progetto Pollini", das Alte und Neue Musik verbinden möchte. Dirk von Gehlen weist darauf hin, dass morgen No Music Day ist. Burkhard Müller gratuliert dem amerikanischen Erzähler Don DeLillo zum Siebzigsten. Fritz Göttler stellt neue DVDs aus Indien vor.

Besprochen werden Schorsch Kameruns Inszenierung von Matias Faldbakkens Hardcore-Roman "Macht und Rebel" an den Münchner Kammerspielen, Tom Waits' schönes und schreckliches Album "Orphans - Brawlers, Bawlers & Bastards", ein Konzert der Geigerin Midori mit Robert McDonald in München, Tony Goldwyns Film "Der letzte Kuss" und Bücher, darunter Nick McDonells Roman "Der dritte Bruder", eine Neuauflage von Herman Bangs "Am Weg" und eine Studie zur Verstrickung des 1. FC Kaiserslautern "Der 'Betze' unterm Hakenkreuz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).