Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2007. In der FR ergründet Imre Kertesz das Mysterium des Schreibens. Die taz weiß: Seit der Abschaffung der Volksfeste sind wir melancholisch. Schuld ist der Kapitalismus. Die Welt schildert den Geschlechtermord in China - in manchen Regionen kommen nur noch 100 Mädchen auf 130 Jungen. Spiegel Online bringt ein Streitgespräch zwischen Necla Kelek und der SPD-Bundestagsabgeordneten Lale Akgün. Die NZZ befasst sich mit dem Genre der Literaturbetriebssatiren in der neueren deutschen Literatur. In der SZ schildert der deutsch-türkische Popstar Muhabbet seine Schwierigkeit mit dem Deutsch-Türkischsein.

Welt, 13.07.2007

Ulrich Baron wirft einen Blick auf die Geburtenstatistik von Indien und China, wo immer mehr weibliche Föten abgetrieben werden - ein Geschlechtermord, der dank des medizinischen Fortschritts immer gravierendere Ausmaße annimmt: "Statistisch gesehen werden normalerweise rund vier bis fünf Prozent mehr Jungen als Mädchen geboren. In China jedoch kamen schon 1981 auf durchschnittlich 100 neugeborene Mädchen 108 Jungen, und im Jahr 2000 hatte sich das Verhältnis auf 100 zu 110, in einigen Provinzen sogar auf 100 zu 130 zu Ungunsten weiblicher Säuglinge verändert. "

Eva Behrendt trifft Nuran David Calis, der es als Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus Istanbul vom Türsteher zum gefeierten Dramatiker und Regisseur gebracht hat: "'Man muss nicht so sterben, wie man geboren wurde', sagt Nuran Calis beim Kaffee in Berlin und wirkt überraschenderweise kräftiger, bulliger als der zarte junge Mann auf den Pressefotos. Dafür fällt auf, wie ruhig und bedachtsam er seine Worte wählt, Jugendslang meidet. Gerne erzählt er, wie er mit 15 zu boxen anfing und mit 16 von seinem Trainer als Türsteher vermittelt wurde, wie er in diesem Job 200 Euro pro Nacht verdiente und dass er leider einmal so zuschlug, dass er sein Opfer persönlich zum Arzt brachte."

Eckhard Fuhr hat sich den Brachiosaurus brancai, "das größte nahezu vollständig erhaltene Saurierskelett der Welt", im renovierten Berliner Naturkundemuseum angesehen: "Irgendwie anders wirkt er, höher und steiler ragt sein Hals auf bis zu einer Höhe von 13,27 Meter. Und die Beine stehen kerzengerade unter dem Rumpf wie Säulen." Wieland Freund begutachtet die neuesten Zahlen vom Buchmarkt, nach denen vor allem die großen Ketten und Internethändler vom Wachstum profitieren, nicht aber die kleinen Buchläden. Dankwart Guratzsch berichtet vom Vorhaben, die Bibliotheksrotunde in Wolfenbüttel wiederaufzubauen.

Besprochen werden eine Ausstellung des französischen Duos Pierre et Gilles im Pariser Jeu de Paume, eine Schau rheinischer Glasmalerei im Kölner Museum Schnütgen.

TAZ, 13.07.2007

Die Essayistin Barbara Ehrenreich hat vorerst nur auf Englisch eine Geschichte des Feierns verfasst. Tilman Baumgärtel weiß jetzt, dass wir in traurigen Zeiten leben. "Die allmähliche Abschaffung der Volksfeste des Mittelalters führte in der frühen Neuzeit in Europa zu einer Welle der 'Melancholie'. Aber es waren nicht nur Klerus und Adel, die auf karnevaleske Ausschweifungen verzichten wollten. Auch Militarismus, Industrialisierung und Kapitalismus brauchten für ihre 'Einschließungsmilieus' (Foucault) Fabrik und Kaserne ausgeschlafene und leistungsbereite Arbeiter, keine ausgepowerten Partyleichen mit Kater und wund getanzten Füßen."

Weiteres: Madeleine Bernstorff bewundert auf dem "Festival des wiedergefundenen Films" in Bologna Trickfilme von Georges Melies und andere Kostbarkeiten von 1907. Frank Schuster stellt das Album "Super Taranta!" des ukrainischen Roma- und Punksängers Gogol Bordello vor.

FR, 13.07.2007

Nobelpreisträger Imre Kertesz versucht im Interview gegenüber Nicole Henneberg das Mysterium des Schreibens zu deuten. "Der Autor kennt sein Werk vielleicht am wenigsten. Man schreibt etwas, und das wird schnell fremd, wird selbstständig. Der Text wirkt auf Leser ganz anders, der Autor kann nur etwas empfehlen - mit Leben erfüllen muss das der Leser; und entweder das geht oder geht nicht; das ist dieses plastische Talent, das da ist oder nicht. Daran kann der Autor selbst nichts ändern; man kann fleißig sein, kann viel lernen und viel lesen und nachdenken, aber das plastische Talent ist ein Geheimnis."

Als "Unsinn" bezeichnet Ina Hartwig Rolf Hochhuths gestrige Kritik an den vierzigjährigen "so genannten Historikern", die zur NSDAP-Mitgliedschaft von Günter Grass und Konsorten recherchieren. "Nicht dabei gewesen zu sein bedeutet keineswegs, sich 'die ganze Scheiße' (Helmut Schmidt) nicht vorstellen zu können."

Weiteres: Ulf Erdmann Ziegler schreibt zum Tod von John Szarkowski, Kurator des Museums of Modern Art in New York. Christian Schlüter veranschaulicht den Integrationsgipfel in Times mager mit einer kleinen Formel: "f(x)= 3 - Integration - (Gipfel + Plan + Politik)". Und Arno Widmann stellt Ulrich Becks Überlegungen zur "Weltrisikogesellschaft" vor.

Spiegel Online, 13.07.2007

Ziemlich zur Sache geht es in einem Streitgespräch zwischen Necla Kelek und der SPD-Bundestagsabgeordneten Lale Akgün zur Integrationsgipfel und Moschee in Köln. Kelek: "Der Islam hat es 1400 Jahre lang versäumt, kritische Fragen zu stellen und sich von der Politik zu lösen." Akgün: "Frau Kelek, Sie wollen mit dem Flammenwerfer Unkraut jäten."
Stichwörter: Akgün, Lale, Islam, Kelek, Necla

Berliner Zeitung, 13.07.2007

Christian Esch kommentiert Günter Wallraffs Vorschlag einer Lesung aus den "Satanischen Versen" in einer Moschee: "Warum sollte ein Gläubiger sich darauf einlassen, ausgerechnet in seinem Gebetshaus Verse zu hören, die er für gotteslästerlich hält? Niemand kann es der Moscheegemeinde im geringsten übel nehmen, wenn sie auf den Vorschlag nicht eingeht."

Außerdem legt Jörg Sundermeier einen kleinen Essay über die bedauerliche Tendenz von Autoren zur Selbstvermarktung vor.

SZ, 13.07.2007

Alex Rühle macht sich auf nach Rosental-Bielatal in Sachsen-Anhalt, wo Rechtsextreme vor einem Jahr einen Jugendtreff einrichten wollten. Das wurde verhindert, aber im Geiste sind die Neonazis vielerorts schon längst da, bemerkt Rühle. "Peter Sloterdijk spricht in dem Zusammenhang von einem 'Zornkonto': Alle zahlen ein, und die Jugendlichen heben stellvertretend für alle ab. Der Alte in der Kneipe in Rosental-Bielatal sagte noch, er sei ja oft nach Nordrhein-Westfalen gefahren früher. 'In den Geschäften da - nur Schwarze. Keiner von uns, nicht ein Weißer. Im Baumarkt waren wir mal, kommt da ein Schwarzer, in der Türenabteilung war das, der hatte so ne Riesenhände (zeigt halbmetergroße Schaufeln), voller Geld! Hat ihm der Staat geschenkt. Hunderte! Dem hätte man eine reinklatschen sollen. Gleich eine rein.' Klingt nach prallvollem Zornkonto."

Weiteres: Der deutsch-türkische Popstar Muhabbet schildert Jonathan Fischer im Interview seine Erfahrungen mit Fremdenfeindlichkeit auf beiden Seiten. "Drei meiner neuen Songs handeln davon, wie ich als Deutsch-Türke ein Brandmal trage. Ich bin zwar in Deutschland geboren und groß geworden. Trotzdem spüre ich, dass mich hier viele weghaben wollen. Aber: Wohin soll ich denn gehen? Ich bin hier zu Hause. Davon handelt der Song 'In Deinen Straßen'. Ich kämpfe da an zwei Fronten. Wenn mir jemand mit so Sprüchen wie 'Ich hasse Deutschland' kommt, dann frage ich ihn, was er in diesem Land verloren hat. Ich sag' es meinen Fans immer wieder: Geht zur Schule! Und lernt endlich Deutsch!"

Weiteres: Jens Bisky fragt sich, wozu das galerie- und museumsverwöhnte Berlin noch eine Kunsthalle für Gegenwartskunst braucht. Dass die vatikanische Glaubenskongregation in ihrer neuen Erklärung ihr Alleinstellungsmerkmal herausstreicht, findet der evangelische Theologe Martin Ohst mit einem kritischen Seitenblick auf die empörte Reaktion des EKD-Vorsitzenden Bischof Huber erstens nicht neu und zweitens recht und billig. Tobias Moorstedt befürchtet, dass personalisierte Radiostationen wie Last.FM bei aller Intelligenz zu einer Verarmung des Musikerlebnisses führen. Tim B. Müller fasst zusammen, was der italienische Kulturhistoriker Carlo Ginzburg im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin zu Hobbes' "Leviathan" gesagt hat.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den Künstlerinnen Paulina Olowska und Lucy McKenzie in der Münchner Sammlung Goetz, die neue Dauerausstellung "Evolution in Aktion" im Berliner Museum für Naturkunde, und Bücher, darunter Pamela Roberts' Einführung in die Farbfotografie und Jan Costin Wagners Kriminalroman "Das Schweigen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

NZZ, 13.07.2007

Ziemlich realitätsnah findet Evelyn Polt-Heinzl die deutsche Literatur der - hm, mittleren Generation. Vor allem die Literaturbetriebssatiren zeigen ihrer Ansicht nach doch ziemlich genau, wie's auf dem Büchermarkt läuft: "Die Verunsicherung unserer Tage begann mit dem Terrainverlust der Buchkultur und den globalen Konzentrationsprozessen, die auch den Buchmarkt unter das oberste Gebot der Warengesellschaft stellen: Wie das Waschmittel X und der Betriebsstandort Y muss das Buch sich rechnen, oder es wird im Meer der Konkurrenz untergehen. Die Antworten des Literaturbetriebs lauten: Marketing statt Lektorat, Homestory statt Literaturkritik, Autorenperformance, reißerische Covers, schrille Werbetexte und neue Trademarks. Das kann ein Jungstar sein, ein Superlativ jeder Art oder ein neu ausgerufener Trend."

Weitere Artikel: Wie soll der Protestantismus auf die "Anmaßung aus Rom" reagieren? "Am besten gar nicht!", meint der protestantischeTheologe Eberhard Jüngel. Konrad Watrin war beim Berliner Symposion über Humor in der arabischen Kultur. Markus Ganz unterhält sich mit der fast 60 Jahre alten Sängerin Kate Pierson über die Rückkehr der B-52.

Besprochen werden eine Ausstellung über neues Bauen in Ostdeutschland im Architektur-Museum Frankfurt und das neue Album von Tocotronic.

Nur eine einzige Medien- und Informatikseite heute: Monika Joss berichtet über die Versuche von Zeitungen, mehr Leserinnen zu gewinnen. Dazu gibt Giovanni di Lorenzo ein kleines Interview. Und Uwe Bork schreibt über die Kirchen und die neuen digitalen Medien.

FAZ, 13.07.2007

Jordan Mejias zeichnet amerikanische Diskussionen über die Rolle der Frau und die Frage der idealen Kindererziehung nach. Gina Thomas erzählt in der Leitglosse wie die berühmte Fotografin Annie Leibovitz einmal von der noch berühmteren Queen angefaucht wurde - die BBC hat es festgehalten. Patrick Bahners gratuliert dem Rechtsprofessor und FAZ-Autor Gerd Roellecke zum Achtzigsten. Jürgen Kaube liest im Aufmacher ein mit Lob und milder Kritik aufwartendes Gutachten des Wissenschaftsrats über das Literaturarchiv in Marbach. Wiebke Huester verabschiedet die Hambuger Primaballerina Alessandra Ferri.

Für die Medienseite besucht Florentine Fritzen die Redaktion der Jüdischen Allgemeinen. Kerstin Holm meldet, dass zwei russische Journalisten das Land verlassen müssen, weil sie nach unliebsamen Recherchen unter Morddrohung stehen.

Für die letzte Seite unterhält sich Claus Lochbihler mit Donald Fagen von der Band Steely Dan über Studioperfektionismus und die Aversion gegen Live-Auftritte. Gina Thomas betreibt eine Hermeneutik letzter Äußerungen Joanne K. Rowlings vor dem Erscheinen des siebten Potter-Bandes in einer Woche. Claudia Bröll berichtet für die vorderen Seiten über das kommende Ereignis. Und Andreas Kilb resümiert neue Windungen der Stauffenberg- und Cruise-Debatte.

Besprochen werden eine Ausstellung der Sammlung Rausch im Frankfurter Portikus, eine Ausstellung mit Keramik von Hedwig Bollhagen in Potsdam, ein Konzert von Avril Lavigne in Frankfurt und eine Ausstellung über die Gebrüder Wallach, die die begüterten Münchner mit Trachten versorgten im Jüdischen Museum der Stadt, außerdem Sachbücher, darunter David Helds Studie "Soziale Demokratie im globalen Zeitalter".