Heute in den Feuilletons

"Abgrund zwischen Wollen und Nichtmehrkönnen"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2007. Mosebach hat unrecht, findet die taz: Man darf den revolutionären Terror, der nur Reaktion war, nicht mit dem Terror der Nazis vergleichen. Die Welt ist beeindruckt von Enrique Sanchez Lanschs Dokumentarfilm "Das Reichsorchester" über die Berliner Philharmoniker in der Nazizeit. Die NZZ meint: Die "Fleischeslust" ist kein reines Vergnügen, jedenfalls nicht die Bündner Fleischeslust. Die FR meint: Der "Ursprung der Welt" aber schon. Die FAZ hat Philip Roth' neuen Roman schon auf Englisch gelesen. In Spiegel Online repliziert Frank Schirrmacher auf Kritik an seiner Grimm-Preisrede. Er ist nicht gegen das Netz, man hat ihn missverstanden, es ist unheimlich.

TAZ, 01.11.2007

"Wie kann man den revolutionären Terror angesichts des Bürgerkrieges, der konterrevolutionären Interventionen und des Drucks verelendeter Massen mit der Nazi-Mordmaschine gleichsetzen?" erregt sich Christian Semler auf der Meinungsseite über Martin Mosebachs Büchner-Preis-Rede, die aus seiner Sicht entschieden den Rahmen dessen sprengt, was die Duldsamkeit gegenüber schriftstellerischer Rede zu ertragen gebietet. "Mosebachs Parallelisierung der mörderischen Rhetorik des Revolutionärs de Saint-Just mit Heinrich Himmler und dessen Rede in Posen über den 'anständig' gebliebenen SS-Mörder ist nicht nur historisch abstrus, sondern folgt einem Geschichtsbild, das den konsequent demokratischen Impuls innerhalb der Französische Revolution denunziert - in geschichtspolitischer Absicht."

Andere Themen: Jan Süselbeck bekundet im Kulturteil großes Wohlgefallen über die Wiederentdeckung des Romanciers und Aufklärers Karl Gutzkow, den er als Revolutionär des Realismus feiert, und dessen dreitausend-Seiten Roman "Der Zauberer von Rom" über einen ungetauften Deutschen, der Papst wird, er als "spannende Lektüre für aufgeklärte Menschen" verschlungen hat. Tilman Baumgarten mailt aus Manila Unziemliches über das krasse Gefälle zwischen Arm und Reich auf den Philippinen.

Besprochen werden Richard Tranks Porträtfilm über Simon Wiesenthal "Ich habe euch nicht vergesssen" (der zum Bedauern von Stefan Reinecke mehr auf "Betroffenheit von der Stange" zielt), Ray Lawrences Raymond-Carver-Verfilmung "Jindabyne - Irgendwo in Australien", Rafi Pitts pessiminstischer Iran-Film "Zemestan - Its Winter", Peter und Bobby Farrelly Remake einer Neil-Simon-Komödie aus dem Jahr 1972 "Nach 7 Tagen - ausgeflittert" (wobei der den Farrelly-Brüdern eigene, "schonungslose Umgang mit gesellschaftlichen Codes und ihre zotenreiche Fantasie" auf Dominik Kamalzadeh mitunter ein wenig bemüht wirkt).

Und Tom.

Welt, 01.11.2007

Kai Luehrs-Kaiser ist beeindruckt von Enrique Sanchez Lanschs Dokumentarfilm "Das Reichsorchester" über die Berliner Philharmoniker in der Nazizeit, deren Rolle bisher nie aufgearbeitet worden sei: "Vergangenheitsbewältigung? Warum denn! Die wurde praktisch auf den Ex-Chef Wilhelm Furtwängler abgewälzt. Als Mitläufer ist dessen Ruf bis heute schwer belastet. Derjenige der Philharmoniker nicht. Im von Erinnerungen lebenden Kinofilm wird all das spannend durch die Naivität der Zeitzeugen wieder wach. Den einzigen Satz der Reue sagt der großartige Hellmut Stern, eines der wenigen jüdischen Mitglieder nach dem Krieg: 'Ich hab' nie gefragt.' Die Vergangenheit des 'Reichsorchesters' war selbst für dessen spätere Musiker tabu. Das mitgemacht zu haben, ist Stern bis heute peinlich."

Weitere Artikel: Johannes Wetzel besucht das neue Tomi-Ungerer-Museum in Straßburg. Peter Dittmar berichtet über den erzwungenen Abschied Werner Weidenfelds aus dem Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Gerhard Charles Rump kommentiert Streit im Vorfeld der Art Cologne. Nikolaus Nowak berichtet über Rechtsstreitigkeiten des Architekten Santiago Calatrava in Spanien.

Besprochen werden das Stück "War Horse" über den Ersten Weltkrieg im Londoner National Theatre, das Stefan Grund mit seiner Mischung aus Schauspiel, Puppenspiel und Videoprojektionen zutiefst beeindruckt hat, und Filme, darunter die schwarze Komödie "Bis zum Ellenbogen" (mehr hier) mit Jan Josef Liefers und ein Dokumentarfilm über Simon Wiesenthal, sowie ein Auftritt der Band Take That und Robert North' Choreografie "Tempus fugit" in Krefeld.

Spiegel Online, 01.11.2007

Frank Schirrmacher repliziert auf Christian Stöckers Polemik gegen seine Grimm-Preisrede (hier die SZ-Version, hier die FAZ-Version). Er habe gar nicht gegen das Internet geredet, sondern nur davon, es mit seinem "Qualitätsjournalismus" zu erobern. Besonders stören Schirrmacher die Kommentatoren zu Stöckers Artikel, die kein gutes Haar an seiner Rede ließen. "Eine bemerkenswerte Zahl von Modernisierungsgewinnern. Sie bemitleiden, verhöhnen, bespötteln den Redner, ziehen weitreichende Folgerungen über seine Absichten, nennen ihn sogar Lügner... Und nun zündet die nächste Eskalationsstufe, es tapert die Feuilletonpresseschau hinterher und spricht von 'Schirrmachers Rede gegen das Internet'. Es ist unheimlich: Die Thesen dieser Rede über das Internet werden durch seine Rezeption im Internet in einer selbst für mich überraschenden Weise bestätigt. Das Netz veröffentlicht Worte, die keiner, die oft nicht einmal der Autor selber gelesen hat, als er sie schrieb." Wen meint er damit?

Eine interessante Antwort auf Schirrmacher schreibt Klaus Jarchow im blog medienlese.com: "Der Gipfel ist erreicht, wenn Schirrmacher von seinem emporgejubelten 'langsamen Medium', von seiner Rosinante, der Qualitätszeitung, behauptet, das andere, das 'schnelle Medium', die Blogosphäre also, würde sich bei diesem Schnecken-Kurier notorisch die Agenda zusammenrauben."

NZZ, 01.11.2007

Caroline Kesser spaziert angeregt durch die Ausstellung "Fleischeslust" im Bündner Kunstmuseum in Chur: "Sie ist nicht das reine Vergnügen, diese 'Fleischeslust', und man ist gut beraten, sich auch das kleiner Gedruckte zu merken: 'oder die Lust an der Darstellung des Fleischlichen'. Das Fleisch beschwört in der Kunst ja nicht nur die Erfüllung körperlicher Begierde, sondern auch Angst und Schrecken vor den Kräften einer unbekannten, ungeheuren Sinnlichkeit. Daran haben weder die Semiotik noch die neue virtuelle Welt viel geändert."

Weiteres: Daniel Ender berichtet von den Spannungen um den neuen Intendanten Bernhard Kerres im Wiener Konzerthaus, in dem mit dem Klangforum Wien heute zum zwanzigsten Mal das Festival für neue Musik Wien Modern eröffnet wird. Und "Merdre!" entfährt es Marc Zitzmann, der sich Alfred Jarrys Oeuvre zu dessen hundertstem Todestag noch einmal genauer vorknöpft.

Besprochen wird Claude Arnauds Biografie "Chamfort. Die Frauen, der Adel und die Revolution". Die Filmseite widmet sich dem isralischen Film "Meduzot - die Medusen" von Shira Geffen und Etgar Keret sowie der bunten Auswahl an Autoren-Filmen auf der Viennale Wien.

FR, 01.11.2007

Martina Meister resümiert atemlos die große Gustave-Courbet-Schau im Pariser Grand Palais. "Und dann das Unerhörte: 'L'origine du monde', erst versteckt, dann verschollen, immer noch umstritten, der legendäre Akt, den Courbet für den türkisch-ägyptischen Sammler Khalil-Bey angefertigt hatte, den dieser gewissenhaft hinter einem grünen Samtvorhang in einem Geheimkabinett versteckte hatte. Als Letzterer sich von dem Bild trennen muss, wird es hinter Courbets 'Le Chateau de Blonay' kaschiert und bei einem Pariser Kunsthändler zum Verkauf angeboten. Das Gemälde gelangt nach Ungarn und gilt, bis es 1981 im Nachlass von Jacques Lacan auftaucht, als verschollen. Lacan hatte es vermutlich 1954 erworben und von Andre Masson ein Tafelbild anfertigen lassen, das sich bei Bedarf wegklappen ließ: Marguerite Duras und Claude Levi-Strauss gehörten zu den Gästen im Haus des Psychoanalytikers, denen das Geheimnis feierlich enthüllt wurde: Zu sehen ist der Torso einer Frau. Und nur der. Es fehlen Hals, Arme, Beine. Das bisschen, was man von ihnen sieht, ist weit auseinander gespreizt. Im Mittelpunkt steht das Geschlecht, die Scham, der Ursprung der Welt. Es ist wie eine Einladung in eine neue Zeit: Von nun an gelten keine Grenze mehr."

Andere Artikel: Michael Brunner feiert Antonio Canova anlässlich seines 250. Geburtstag als ersten Vertreter einer globalen Kunst.

Besprochen werden Bobby und Peter Farrellys Anti-Korrektheitskomödie "Nach 7 Tagen - ausgeflittert" (bei dem für Daniel Kothenschulte der Zuschauer einen komplexen Vertrag mit "dem inneren Schweinehund" abschließen muss: "Zweiundzwanzig Stunden am Tag findet man etwas höchst unlustig, um sich dann zwei Stunden lang vor Lachen darüber auszuschütten."), Rafi Pitts Iran-Film "Zemestan - It's Winter" und Bücher, darunter Julien Gracqs Buch "Gespräche" und Michael Hochgeschwenders Studie über die "Amerikanische Religion" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 01.11.2007

Jordan Mejias hat Philip Roth' jüngstes Werk "Exit Ghost" gelesen und hält ihn für einen der großen Romane des Autors, fragt allerdings, ob in Roth' Werk mehr als Vergeblichkeit bleibt: "In all den melancholischen Motiven, in eingeschobenen Dialogszenen und thematischen Abschweifungen, die sich nur ein Meister leisten kann, klingen jetzt aber bisweilen poetische und nostalgische Noten auf, wie sie in 'Everyman' noch fehlten. Der Mann, der mit seinen phallozentrischen Exzessen nicht immer auf feministische Gegenliebe stieß, muss sich in einem absurden Abgrund zwischen Wollen und Nichtmehrkönnen einrichten. Allein die Energie des Erzählens und der Elan einer klaren, unverschnörkelten, nicht selten rabiaten Sprache sorgen in dem Stück über Verfall und Vergeblichkeit für einen vitalen Kontrapunkt. Gibt es am Ende also doch einen Sieg der Kunst? Oder wiederum nur einen enttäuschenden Scheinsieg?"

Weitere Artikel: Lorenz Jäger findet, anders als Heinrich August Winkler vorgestern im Deutschlandradio, Vergleiche wie den von Martin Mosebach in seiner Büchnerpreis-Rede suggerierten zwischen Saint Just und Himmler für legitim, da ein Vergleich noch lange keine Gleichsetzung sei. Katharina Teutsch nimmt die Aufnahme des Fingerabdrucks in die neuen elektronischen Reisepässe zum Anlass für eine nicht ganz unausführliche Geschichte der Daktyloskopie. In der Glosse denkt Gerhard Stadelmaier übers Publikum nach, das bei dem Krach, der auf heutigen Theaterbühnen herrscht, ja problemlos Lärm machen kann - nur bei Konzerten und vor allem denen Keith Jarretts gibt's Ärger. Andreas Platthaus gratuliert dem Dokumentarfilmer Marcel Ophüls zum Achtzigsten. Gina Thomas weiß auch nicht, ob ein jetzt aufgetauchtes Foto wirklich, wie behauptet, den Künstlers Banksy zeigt, der um seine Person ein Geheimnis macht. Paul Ingendaay berichtet von der Verleihung der Prinz-Asturien-Preise im spanischen Oviedo. Reinhard Wandtner macht uns mit der Island-Muschel bekannt.

Auf der Kinoseite berichtet Marco Schmidt vom Festival des amerikanischen Films in Deauville. Michael Althen schreibt einen Nachruf auf den Roman- und Drehbuchautor Marc Behm ("Das Auge") und stellt Thomas Brandlmeiers Buch über das Phänomen "Fantomas" vor.

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert der Four Tops und der Temptations, die Portugal-Ausstellung "Novos Mundos - Neue Welten" im Deutschen Historischen Museum Berlin, Richard Tranks Dokumentarfilm "I Have Never Forgotten You - The Life and Legacy of Simon Wiesenthal" und Bücher, darunter Ruth Klügers Gedanken zur Lyrik "Gemalte Fensterscheiben" und Michael Zarembas Biografie des "Christoph Martin Wieland" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 01.11.2007

Für die Protestanten unter den Perlentaucher-Lesern: Heute ist Allerheiligen. Die Bayern sind auf dem Friedhof.
Stichwörter: Protestanten