Heute in den Feuilletons

Die Härte und Kälte des Alten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2008. Wild und dunkel ist Josef Winklers Kärnten. Die FR überschreitet mit dem designierten Büchnerpreisträger die Grenze zum Animalischen. Teile der Welt lehnen dies aus sittlich-ästhetischen Erwägungen ab. Wenigstens spreizt Winkler nicht den kleinen Finger ab wie Mosebach, meint dagegen der Tagesspiegel. Die FAZ findet Winkler zwar unzeitgemäß, aber darum noch längst nicht groß. Die taz porträtiert die amerikanische Essayistin Joan Didion.

FR, 18.06.2008

Ina Hartwig freut sich über die Entscheidung, den Büchner-Preis dem Österreicher Josef Winkler zu geben, den sie zu den "Wilden und Dunklen, zu den Aufgeriebenen und Aufbegehrenden unter den deutschsprachigen Literaten der Gegenwart" zählt: "Der 1953 in einem Weiler im österreichischen Kärnten als sechstes Kind einer katholischen, repressiv-patriarchalischen Bauernfamilie geborene Winkler ist einerseits mit seinem Sprach- und Weltzweifel ein typischer Österreicher. Andererseits aber gehört er einer internationalen Tradition an, zu der Pier Paolo Pasolini genauso zu rechnen wäre wie Hans Henny Jahnn (dessen Werke Winkler zu seinen wichtigen Einflüssen zählt). Diese ästhetische Tradition vertraut den Trieben und dem Instinkt, und zwar derart, dass die Grenzen zum Animalischen und zur Gewalt fließend erscheinen."

Weiteres: Judith von Sternburg erzählt in Times Mager von einem Charles-Dickens-Moment in der U-Bahn. Sternburg berichtet auch vom Festival "Neue Stücke aus Europa". Wolf Kampmann war auf dem Berliner Festival "Shared Sounds". Auf der Medienseite berichtet Eckhard Stengel, was Journalisten in Bremerhaven widerfährt, denen es an Höflichkeit gegenüber dem Verlegerpaar Ditzen-Blanke mangelt.

Besprochen werden die Schau der DZ-Bank-Sammlung im Frankfurter Städel, Stefan Bachmanns Inszenierung von Calderons "Das Leben ein Traum" im Hamburger Thalia Theater, eine "Fledermaus"-Aufführung im Frankfurter Gallus-Theater und Volkmar Siguschs Opus magnum "Geschichte der Sexualität" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Welt, 18.06.2008

Die Welt bringt eine Art Pro und Contra zur Büchner-Preisentscheidung für Josef Winkler.

Ulrich Weinzierl zeigt sich fasziniert von Winklers Büchern, die sich keineswegs auf eine Kärntner Antiheimatliteratur reduzieren ließen und sieht in Winklers letztem Buch "Roppongi - Requiem für einen Vater" einen "unspektakulären Exorzismus": "Im fernen Japan erfährt der Autor vom Sterben seines 99-jährigen Vaters... Abermals werden die Leitmotive von Winklers Schreiben durchgespielt: die Härte und Kälte des Alten, die Hassliebe des Heranwachsenden, die dumpfe Brutalität der väterlichen Herrschaft, die sich von Generation zu Generation vererbt. Doch wir spüren, und Josef Winkler weiß es wohl längst: Das vermeintlich Dämonische hat seine Kraft eingebüßt, der scheinbar nicht enden wollende Kreislauf von Unterdrückung und Selbstbeschädigung ist unterbrochen."

Tilman Krause schreibt dagegen aus neobürgerlicher Perspektive und lehnt die grellen Tabubrüche bei Winkler aus sittlich-ästhetischen Erwägungen ab: "Das hat einer Zeit und ihren Meinungsmachern gut gefallen, die unter Aufklärung vor allem Einreißen verstanden - das Einreißen von Traditionen, Konventionen, lebensweltlichen Gepflogenheiten und geistigen Gebäuden."

Weitere Artikel: Reinhard Wengierek besuchte ein Theaterfestival in Istanbul, wo durchaus eine recht wilde Avantgarde gepflegt zu werden scheint. Der Germanistikprofessor Ulrich Ammon freut sich, dass der Rückgang des Deutschlernens in Russland nicht so stark ist, wie es Statistiken zu belegen scheinen. Katharina Dockhorn hat recherchiert, dass ein Teil der Filmförderungsgelder nicht in die Produktion von neuen Filmen, sondern in die Finanzierung von Lobbyverbänden der Filmproduzenten fließt. Uwe Wittstock hat sich mit dem Chef der DZ Bank, Wolfgang Kirch, und dem Frankfurter Museumschef Max Hollein über die Schenkung einer Fotosammlang an die Frankfurter Museen unterhalten. Und Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des Special-Effects-Künstlers Stan Winston, der etwa bei "Jurassic Park" und "Terminator" mitwirkte.

Tagesspiegel, 18.06.2008

Gregor Dotzauer scheint Josef Winkler aus den gleichen Gründen zu bewundern, aus denen Tilman Krause ihn ablehnt: "Wo der letztjährige Preisträger Martin Mosebach eine Prosa mit abgespreiztem kleinen Finger schreibt, da wühlt er, wenn es darauf ankommt, mit beiden Händen im Dreck."
Stichwörter: Mosebach, Martin

NZZ, 18.06.2008

Marc Zitzmann hat sich auf dem von der 'Liberation' ausgerichteten Kulturforum in Nanterre bei Paris umgetan. Große Reizfigur war natürlich Nicolas Sarkozy, unter anderem mit seiner Ankündigung, die Werbung im staatlichen Fernsehen abzuschaffen. "Böse Zungen sagen, Sarkozys Ankündigung sei leichtsinnig oder hinterlistig gewesen... Oder aber er habe bewusst - etwa: im Hinblick auf eine künftige Teilprivatisierung - eine Destabilisierung des öffentlichen Fernsehens angestrebt. Dieses frisst ihm keineswegs so bereitwillig aus der Hand wie die Privatsender seiner Großindustriellen-Freunde. Und wie es der Zufall will, sind es just die beiden größten dieser Sender, TF 1 und M 6 (deren Einschaltquoten seit einiger Zeit sinken), die einen Gutteil der Inserate von France Televisions übernehmen dürften. Honni soit qui mal y pense!"

Besprochen werden eine Schau zu neuen Medien "Synthetic Times" im National Art Museum of China in Peking, die Inszenierung von Wagners "Fliegender Holländer" in der Deutschen Oper Berlin, eine Ausstellung zu Vittoriano Viganos Istituto Marchiondi in Mendrisio und Bücher, darunter Tom Reiss' Essad-Bey-Biografie "Der Orientalist", Vladimir Nabokov neu übersetzter Roman "Fahles Feuer" und Raymond Federmans Prosaband "Mein Körper in neun Teilen" (mehr ab 14 Uhr Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Nur kurz meldet Joachim Güntner den Büchner-Preis für Josef Winkler, in dem er einen "Anti-Idylliker" und ein Gegengewicht zum Preisträger des vorigen Jahres, Martin Mosebach, sieht.

TAZ, 18.06.2008

Elisabeth Raether porträtiert die amerikanische Autorin Joan Didion, deren Essays jetzt in neuer Übersetzung erschienen sind ("Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben"). "Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die weder Fisch noch Fleisch ist. Der Verlag weiß nicht, ob er den Essay in der Sachbuch- oder Belletristik-Vorschau ankündigt, der Buchhändler weiß nicht, in welches Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Dieses Ich, das sich selbst zu überschätzen scheint, ist bei Didion immer die Hauptfigur."

Weiteres: Esther Boldt stellt das Stück "Funkenflug" der Kroatin Tena Stivii vor, das im Rahmen des Festivals "Neue Stücke aus Europa" lief. Besprochen wird Erick Zoncas Film "Julia" , in dem Hauptdarstellerin Tilda Swinton eine Alkoholikerin spielt.

Und hier Tom.
Stichwörter: Didion, Joan, Swinton, Tilda

FAZ, 18.06.2008

Mit beträchtlicher Skepsis kommentiert Hubert Spiegel die Tatsache, dass in diesem Jahr der österreichische Schriftsteller Josef Winkler den Georg-Büchner-Preis erhalten wird: "Seine Klagegesänge, Meditationen und Litaneien sind immer auch lustvoll präzise Protokolle eines Beobachters, der mit einem Bein in der Barocktradition steht und mit dem anderen in den siebziger Jahren, bei Genet und Pasolini, Kroetz, Speer und Fassbinder. Das ist unzeitgemäß. Aber nicht alles Unzeitgemäße ist groß."

Weitere Artikel: Der Rechtsphilosoph Gerd Roellecke erklärt Monika Maron, die Gesine Schwan wegen ihrer Linkspartei-Nicht-Verschmähung nicht wählen möchte, warum dieses Argument nicht zählt. In der Glosse berichtet Jürg Altwegg, wie die Academie Francaise die Provinzen gegen sich aufbringt, weil sie gegen eine Verfassungsänderung, die die Berechtigung der Regionalsprachen anerkennt, protestiert. Was mit den "Verfahrensregelungen des Prozesskostenrechts" nicht stimmt, setzt der Jurist Christoph Möllers am ruinösen Einzelfall auseinander. Oliver Jungen stellt Johannes Gelichs (mehr) Roman "Der afrikanische Freund" vor, der von heute an in der FAZ vorabgedruckt wird. In der entsprechenden Auslandskorrespondenen-Serie stellt Rainer Hermann "sein Istanbul" vor. Ursula Böhner hat bei der dritten Theaterbiennale in Mainz und Wiesbaden "Neue Stücke aus Europa" gesehen. Den linken Satiriker Al Franken, der jetzt für Minnesota Mitglied des US-Senats werden möchte, porträtiert Matthias Rüb.

Besprochen werden Paolo Carignanis Abschiedskonzert als Frankfurter Generalmusikdirektor, die in Zürich von Jens-Daniel Herzog nach einem Konzept von Claus Guth inszenierte Händel-Oper "Rinaldo", die Oskar-Kokoschka-Ausstellung in der Wiener Albertina, Erick Zoncas Film "Julia" und Bücher, darunter Alison Bechdels Comic-Roman "Fun Home", (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.06.2008

Der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan schildert die miese wirtschaftliche Lage seines Landes: "Die Preiserhöhungen erfolgen schubweise; nach Reis und Waschmitteln, die sich plötzlich um ein Vielfaches verteuert hatten, ist zurzeit der Tee an der Reihe, dessen unterschiedliche Sorten sich in nur wenigen Tagen um 300 bis 700 Prozent verteuert haben. Dieser Preisanstieg ereignete sich zur selben Zeit wie die FAO-Konferenz in Rom, bei der der iranische Staatspräsident acht Richtlinien zur Verbesserung der globalen Versorgungslage vorstellte. Im Inland hielten die Verantwortlichen für ihre Mitbürger einen praktischeren Rat bereit: Trinkt solange keinen Tee, bis er wieder billiger ist!"

Diesen Artikel haben wir gestern auf den vorderen Seiten der SZ übersehen: Jürgen Habermas würdigt das Nein der Iren. Und macht einen Vorschlag, wie es weitergehen soll: "Der Geleitzug, worin der Langsamste das Tempo bestimmt, hat Europa weit gebracht. Von nun an ist es die falsche Gangart. Schon Innenminister Wolfgang Schäubles Vorschlag der Direktwahl eines Unionspräsidenten geht weit über den zögerlichen Lissabonner Vertrag hinaus. Der Ministerrat sollte über seinen Schatten springen und mit den nächsten Europawahlen ein Referendum verbinden. Die Fragestellung müsste hinreichend klar sein, um eine Richtungsentscheidung zu erlauben. Und die Bürger müssten am selben Tag nach demselben Verfahren zum selben Thema ihre Stimme abgeben können. Ein Fehler der bisherigen Referenden bestand darin, dass die Meinungsbildung im jeweiligen nationalen Kontext gefangen blieb. Mit Engagement und Glück könnte daraus eine Union der zwei Geschwindigkeiten hervorgehen..."

Zwiespältige Gefühle löst der neue Büchner-Preisträger, der Kärntner Josef Winkler bei Helmut Böttiger aus: "Josef Winkler ist der literarische Rebell in der Provinz. Aber längst ist seinen literarischen Mitteln etwas Behagliches, zufrieden in sich Ruhendes zugewachsen, im Schutz kanonisierter Autoren von Ludwig Anzengruber bis Thomas Bernhard. So verdient diese Wahl wie das prämierte Werk Respekt vor seinem Glutkern, aber etwas spürbar Zeitgenössisches kürte man hier eher nicht."

Weitere Artikel: Christian Jostmann stellt Neuerscheinungen österreichischer Autoren vor (einen guten Überblick gibt auch Daniela Strigl in Eurozine). Alex Rühle erzählt, wie Gerhard Schröders Rechtsanwälte Buchhändler abmahnen, die Jürgen Roths Buch "Der Deutschland-Clan - Das skrupellose Netzwerk aus Politikern, Top-Managern und Justiz" verkaufen. Der tschechische Choreograph Jiri Kylian will 2009 sein Nederland Dans Theater verlassen, um Filme zu drehen; Arnd Wesemann nutzt die Gelegenheit und singt ein Loblied auf die Compagnie. Henning Klüver beschreibt anlässlich des ersten Napoli Teatro Festival Italia das Kulturleben Süditaliens. Harald Eggebrecht annonciert die Wiedereröffnung des Franz-Marc-Museums in Kochel. Froh und gelöst erlebte Stephan Speicher die Preisverleihung für das deutsche Einheitsdenkmal - jedenfalls bis der Fernsehjournalist Jürgen Engert seine Rede hielt: "Es lag nicht so sehr an dem, was Engert zu sagen hatte. Es war der scharfe, knarzende Ton, der den Zuhörer die innere Krawatte fester ziehen ließ. Noch wo er einen Witz machte, war die Pointe herbeigepfiffen."

Besprochen werden Erick Zoncas Film "Julia" (dazu gibt's ein Interview mit Hauptdarstellerin Tilda Swinton), zwei Klavierkonzerte von Mozart mit Jewgeni Kissin, ein Lear in Wien und einige CDs.